Michael Wilk (1. Reihe, 3.v.r.) und ein Team, mit dem er in Minbidsch zusammengearbeitet hat, machen gemeinsam Pause.
Foto: © Michael Wilk

 

Dr. Michael Wilk ist seit einigen Jahren freiwillig immer wieder als Arzt im Nordosten Syriens, im kurdischen Rojava, im Einsatz. Im Interview berichtet er von einem Gebiet, das durch Zeiten des Aufbaus, des Kriegs und der Pandemie geht, dem Vertrauen zu den Menschen und seiner Kritik an der deutschen Bundesregierung.

Von Kamal Sido

Wikipedia; gemeinfrei
Bearbeitung: studio mediamacs Bozen

Herr Dr. Wilk, Sie sind Notarzt und Sie sind regelmäßig im Nordosten Syriens im Einsatz, zuletzt im April 2021. Wie können wir uns die Lage vor Ort aus medizinischer Sicht vorstellen?

 

Ich muss leider feststellen, dass sich die Situation in meinen Augen verschlechtert hat. Der Haupteinschnitt erfolgte in diesem Zusammenhang eindeutig durch die Invasionen der türkischen Armee, durchgeführt mit islamistischen Hilfstruppen. Sie begannen in Afrin, setzten sich aber dann auch fort zwischen Tall Abyad und Ra’s al-‘Ain/Serê Kaniyê. Durch diese Invasionen wurden viele Menschen in die Flucht getrieben. Wir reden hier von mehreren hunderttausend Menschen.

Außerdem werden durch die Invasionen Ressourcen verbraucht. Das hat indirekte Auswirkungen zum Beispiel auf die Lager von Geflohenen oder auf die Orte, an denen die ehemaligen IS-Angehörigen und deren Familien, die inhaftiert sind beziehungsweise festgehalten werden. Die Versorgungslage hat sich insgesamt deutlich verschlechtert.

 

Können Sie uns einen „normalen Arbeitsalltag“ von Ihnen vor Ort beschreiben?

 

Es gibt ja verschiedene Einsätze zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten. Wenn ich das vergleiche… Mein erster Einsatz war im Dezember 2014. Damals war ich zum ersten Mal in Rojava (Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien; Anm. d. Red.). Da war die Stadt Kobanê noch umkämpft, der sogenannte Islamische Staat (IS) beherrschte einen Großteil des Gebiets und hinter Serê Kaniyê verlief die Front. Damals habe ich als erstes eine medizinische Recherche durchgeführt, um überhaupt einen Ein- und Überblick zu bekommen. Ich wusste vorher nicht, wie die medizinische Situation überhaupt ist. In den folgenden Jahren unterstützte ich den Kurdischen Halbmond bei der Versorgung von Verletzten, zum Beispiel in Minbidsch oder Rakka, wo gegen den IS gekämpft wurde. Ich habe auch immer wieder notfallmedizinische Fortbildungen durchgeführt.

Man kann dann feststellen, dass im Verlauf der folgenden Jahre von 2014 an gerechnet eine unglaubliche Aufbauleistung vollzogen wurde in Rojava. Das ist wirklich bewundernswert. Es wurden medizinische Infrastrukturen geschaffen beziehungsweise neu strukturiert. Die waren ja vorher in staatlicher Hand. Nehmen wir mal die ehemaligen nationalen Krankenhäuser als Beispiel: Die wurden übernommen, die wurden instandgesetzt. Viele der Krankenhäuser waren zum Teil zerstört worden, die Infrastruktur war marode. Die Aufbauleistung war wirklich unglaublich. Also höchstes Lob von meiner Seite für die Selbstverwaltung und noch mehr für die Menschen, deren Kreativität und Durchhaltevermögen. Viele von ihnen kenne ich inzwischen sehr gut und ich habe sie lieben und schätzen gelernt, vor allem die Menschen vom Kurdischen Roten Halbmond, Heyva Sor a Kurd.

Diese ganzen Fortschritte wurden extrem belastet durch die Invasionen. Man muss sich vorstellen: Als 2018 die Invasion der Türkei in Afrin erfolgte, war das ein Gebiet, das eigentlich vom Krieg verschont geblieben war. Hierhin hatten sich abertausende Menschen geflüchtet. Ein erheblicher Anteil von ihnen gehörte der yezidischen Bevölkerung an. Wer wüsste das alles besser als Sie, der aus Afrin kommt.

Die Invasionen waren ein Einschnitt, bei dem also nicht nur hunderttausende in die Flucht getrieben wurden. So etwas frisst Ressourcen: In materieller, finanzieller und medizinischen Hinsicht. Ressourcen, die beim weiteren Aufbau dringend benötigt werden.

Am Krankenhaus in Kobanê trifft ein neuer Patient ein. Wilk packt mit an und nimmt ihn in Empfang.
Foto: © Michael Wilk

Auch Nordsyrien ist von der anhaltenden Corona-Pandemie nicht verschont geblieben. Welche Mittel stehen Ihnen in der Region zur Pandemiebekämpfung zur Verfügung?

 

Als ich im April da war, hatten wir einige Behandlungsplätze mit der Möglichkeit, Menschen invasiv zu beatmen. Bezogen auf die Masse der Corona-Erkrankten jedoch viel zu wenige Plätze. Die meisten der schwer Erkrankten konnten in die glücklicherweise zuvor eingerichteten Notfallkliniken aufgenommen werden. Diese Notfallkliniken hatten die Gesundheitsselbstverwaltung und der Kurdische Rote Halbmond errichtet. Das sind spezielle Notfallhospitäler, die ausschließlich für die Versorgung von Corona-Erkrankten aufgebaut worden waren.

Ich habe die meiste Zeit in einer ehemaligen Hühnerfarm nahe der Stadt al-Hasaka verbracht, die umgebaut worden war – wie gesagt, ein Hospital aus einer Hühnerfarm! Da gab es circa 80 Betten, 40 für Verdachtsfälle, getrennt davon weitere 40 für gesicherte schwere Fälle. Die „Akut-Abteilung“ mit ihren mehr als 40 Betten war immer sehr gut belegt. Es gab dort zum Beispiel die Möglichkeit, die Menschen mit Sauerstoff über Masken zu versorgen, aber eben nicht mit Beatmungsmaschinen. Für Beatmungsmaschinen braucht man große Mengen Sauerstoff. Den gibt es in Rojava kaum – nur an einigen wenigen Stellen. Die eingeschränkte Versorgungslage kostet natürlich Menschenleben.

 

Die Menschen vor Ort geben sich die allergrößte Mühe, machen das auch mit großem persönlichem Einsatz. Schließlich arbeiten die Menschen, die dort in den Krankenhäusern im Einsatz sind, auch mit hohem eigenem Risiko. Als ich da war, waren sie nämlich selbst noch nicht durch eine Impfung vor einer Infektion geschützt. Impfstoff gab es zu der Zeit noch nicht, selbst jetzt ist er noch knapp. Letztlich ist die Versorgung mit Impfstoff international auch Ausdruck der gesellschaftlichen Macht- und Wirtschaftsbedingungen.

 

Apropos Risiko. Im Norden Syriens bewegen Sie sich nach wie vor in einem Kriegsgebiet. Damit bringen Sie sich bei Ihren Einsätzen unweigerlich in Gefahr, wenn nicht sogar in Lebensgefahr. Was motiviert Sie?

 

Ich glaube, wenn man bestimmte Vorhaben umsetzen muss, dann kommt man nicht drum herum, ein gewisses Risiko einzugehen. Ich bin seit 34 Jahren in Deutschland Notarzt. Hier in der Stadt, in der ich lebe, auch leitender Notarzt. Auch da tragen wir, die beim Rettungsdienst arbeiten, zum Beispiel ein wesentlich höheres Unfallrisiko, wenn wir mit Blaulicht zu den Einsätzen fahren. Damit fängt es ja an. Ähnlich verhält es sich auch mit der Arbeit der Feuerwehr. Die birgt auch ein hohes Risiko.

Dass das Risiko bei Einsätzen in einem Kriegsgebiet wesentlich größer und verstärkt ist, das will ich gar nicht verleugnen. Man hält für eine gewisse Zeit aus, was die Menschen, die vor Ort leben, in den vergangenen Jahren jeden Tag auszuhalten haben, nämlich mit einer Kriegssituation klarzukommen. Sich jedoch dauernd von Angst leiten zu lassen, würde eine Arbeit vor Ort lähmen oder verunmöglichen. Ich versuche vielmehr den Risiken vor Ort mit Respekt und Umsicht zu begegnen. Nach inzwischen sieben Jahren habe ich auch eine gewisse Erfahrung und Routine, das hilft sehr.

Eine Operation im Nordosten Syriens: Klinische Kittel und die meisten technischen Hilfsgeräte sucht man hier vergebens. Doch das klinische Personal gibt alles, um den Verletzten zu helfen.
Foto: © Michael Wilk

Wie begegnen Ihnen die Menschen vor Ort denn? Sie haben so viel Leid erfahren und nun kommt ein Arzt aus einem anderen Land, dessen Sprache sie nicht sprechen. Ist es mühsam, Vertrauen aufzubauen?

Ich denke, das Vertrauen wächst in dem Moment, in dem man nicht einfach nur irgendwelche Sprüche klopft oder auch nur einmal auftaucht und irgendein politisches Statement ablässt. Vertrauen wächst, indem man zusammen handelt. Und dann ist das auch spürbar. Es gibt ja den Satz von Erich Kästner „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Es ist ja auch nicht so, dass ich da als Heilsbringer auftrete, vielmehr würde ich es als Möglichkeit des gegenseitigen Lernens bezeichnen. Ich stehe auch nicht völlig kritiklos dem System oder den Vorgängen in Rojava gegenüber. Bei allem, was sehr gut läuft, gibt es auch immer etwas, wo es hakt, wie immer.

 

Sie erwähnten es bereits: Sie arbeiten mit dem Kurdischen Roten Halbmond zusammen. Warum mit diesem und nicht etwa mit einer Organisation wie Ärzte ohne Grenzen? In Deutschland gibt es bezüglich des Kurdischen Roten Halbmondes ja Bedenken…

Ich habe überhaupt keine Bedenken bezüglich des Kurdischen Roten Halbmonds, da ich auch die gewählte Leitungsetage sehr gut kenne. Ich kenne die Menschen seit Jahren, ich würde für sie meine Hand ins Feuer legen. Und dass in Deutschland die Organisation Heyva Sor a Kurdistanê von Teilen des Verfassungsschutzes beobachtet wird, liegt natürlich daran, dass ihr eine Nähe zur PKK (Arbeiterpartei Kurdistans; kurdische Organisation, die sich militanter Methoden bedient; in Deutschland als terroristische Vereinigung eingestuft; Anm. d. Red.) unterstellt wird. Das führt auch dazu, dass in Rheinland-Pfalz keine Spendengelder für Heyva Sor a Kurdistanê gesammelt werden dürfen. Aber hier liegt auch schnell eine Verwechslung vor: Heyva Sor a Kurdistanê ist eine ältere Organisation und ist nicht die gleiche Organisation wie Heyva Sor a Kurd in Rojava. Abgesehen davon, dass ich der Meinung bin, dass die Bundesregierung, wie andere europäische Regierungen auch, ihre Beurteilung der PKK revidieren sollte.

Ich arbeite direkt vor Ort also mit Heyva Sor a Kurd zusammen. Ich habe auch Kontakt zu Medico International oder zu anderen Hilfsorganisationen. Diese Kontakte sind meistens sehr gut und gedeihlich. Aber für mich hat sich das einfach so ergeben, dass ich am engsten mit den Menschen zusammenarbeite, die mir inzwischen auch gute Freunde geworden sind.

 

Wurden oder werden Sie von der deutschen Bundesregierung in ihrem humanitären Einsatz unterstützt? Wissen Sie, wie die türkische Regierung Ihre Hilfe bewertet?

Unterstützt werde ich von der Bundesregierung nicht. Ich bin ja nicht nur vor Ort aktiv, also in Nordostsyrien, sondern ich arbeite zum Teil auch, indem ich die deutschen Medien oder die sozialen Netzwerke mit Informationen versorge. Ich habe eine ganze Menge Interviews an die deutschen Medien, ob das jetzt ARD, ZDF oder andere sind, gegeben. Das ist sozusagen der zweite Aspekt meiner Tätigkeit, wo die ganze Sache auch politisch wird, da ich hier ganz bestimmte Positionen vertrete.

Dazu gehört auch die Kritik an der Bundesregierung oder die Kritik an den europäischen Regierungen. Ich nehme nicht schweigend hin, dass sie zum Beispiel gegenüber dem türkischen Erdo?an-Regime eine Stillhaltestrategie vollziehen. Beliebt macht man sich durch solche Äußerungen nicht. Aber ich habe bis jetzt, an diesem Punkt, noch keine persönlichen repressiven Maßnahmen von Seiten der Bundesregierung zu spüren bekommen – allerdings auch überhaupt keine Unterstützung für meine humanitäre Tätigkeit.

Von Seiten der Türkei… Ich bin in der Vergangenheit auch schon einmal über die Türkei nach Syrien eingereist – ich meine, das sei im Jahr 2015 gewesen, als ich Ersatzteile für künstliche Nieren nach Dêrik (auch: Al-Malikiya; Stadt im Nordosten Syriens; Anm. d. Red.) gebracht habe. Das würde ich heute aus Gründen der Vorsicht nicht mehr tun. Ich denke schon, dass ich Gefahr laufen würde, von den Sicherheitsbehörden verhaftet oder zumindest für einige Zeit unter die Lupe genommen zu werden, wenn ich türkischen Boden betreten würde. Ich denke, die Situation in der Türkei ist bekannt: Hunderte Journalistinnen und Journalisten sitzen im Knast, Gewerkschaftler*innen… Also ich würde das Land nicht freiwillig betreten, weil ich dort schon befürchten müsste, mit dem Repressionsapparat unangenehm konfrontiert zu werden.

 

Was soll sich verändern, um Kurden und anderen Minderheiten in Nordsyrien aber auch in der Türkei zu helfen?

Ich betrachte mich als humanitären Helfer und als helfenden Arzt, aber ich war auch schon immer ein politischer Mensch. Ich komme von der politischen Linken, eher aus der anarchistischen Ecke. Das heißt, ich bin ein großer Anhänger von Selbstbestimmung und freiheitlichen Momenten im emanzipativen Sinne, die Menschen sollten ihr Recht auf ihr eigenes Leben umsetzen können. Und wenn totalitäre Regime wie zum Beispiel in der Türkei oder auch das durchaus totalitäre Assad-Regime in Syrien den Menschen, mit denen ich eng zusammenarbeite, letztendlich immer einen Strich durch die Rechnung des Lebens machen, dann habe ich da eine eindeutige kritische Position.

Gegenüber der Bundesregierung oder den europäischen Regierungen vertrete ich ja die Haltung, die ich eben schon angesprochen habe. Es kann nicht sein, dass man bezüglich der Rücksichtnahme auf die NATO-Mitgliedschaft der Türkei oder den ökonomischen Verflechtungen – die Türkei ist ein starker ökonomischer Partner, da geht es natürlich auch wieder um Profite und auch um das Flüchtlingsabkommen –, dass man vor diesem Hintergrund Menschenrechtsverletzungen ungeheuren Ausmaßes durch den türkischen Staat nicht mal erwähnt. Genauso wenig kann es sein, dass weiter deutsche Waffen, deutsche Panzer bei den Invasionstruppen im Einsatz sind.

Das bezieht sich auf die ungleiche Wahrnehmung: Es ist natürlich so, dass das Assad-Regime aus Deutschland zu Recht kritisiert wird. Aber das Regime, das Erdo?an zum Beispiel in den okkupierten Gebieten errichtet, gezeichnet von einem an islamischen Gesichtspunkten ausgerichteten Schulwesen, türkischer Polizei auf der Straße, marodierender islamistischer Ordnungsgruppen, Vergewaltigungen, Folterungen – all das darf nicht unerwähnt bleiben! Da wird von Seiten der deutschen Regierung einfach mit zweierlei Maß gemessen. Und das ist unerträglich.



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