Die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern waren untragbar – und giftig! Dieses Foto entstand im Jahr 2005, als eine Delegation der Gesellschaft für bedrohte Völker in den Kosovo reiste.
Foto: © GfbV-Archiv

Als Übergangslösungen waren die UN-Flüchtlingslager für Roma-Minderheiten im Kosovo ab 1999 gedacht. Dann blieben sie bis 2010 bestehen. Ihre Bewohner trugen schwere Bleivergiftungen mit lebenslangen gesundheitlichen Folgen davon. Die Verantwortung für das Unrecht übernimmt bis heute niemand.

Von Dianne Post

Wikipedia; gemeinfrei
Bearbeitung: studio mediamacs Bozen

Blei ist ein giftiges Metall. Für die Gesundheit des Menschen stellt es eine ernsthafte Bedrohungen dar, besonders für kleine Kinder und für Schwangere. Marcus Vitruvius Pollio, ein römischer Architekt und Ingenieur, erkannte den Zusammenhang zwischen sauberem Trinkwasser, Bleirohren und menschlicher Gesundheit bereits im 1. Jahrhundert vor Christus und beschrieb ihn in seiner einflussreichen Abhandlung „Die zehn Bücher über Architektur“. Obwohl die Gefahren durch Bleibelastung also allgemein bekannt sind, brachten im Jahr 1999 die Kosovo-Kräfte der NATO (KFOR) und die Mission der Vereinten Nationen im Kosovo (UNMIK) 600 bis 700 vertriebene Roma, Ashkali und Balkan-Ägypter (RAE) in Lagern unter, die sich neben einer Bleihütte (Industrieanlage zur Erzeugung von Blei; Anm. d. Red.) in Mitrovica befanden.

Die US-Zentren für Krankheitskontrolle und -prävention (CDC; Englisch: U.S. Centers for Disease Control and Prevention) sind zu dem Schluss gekommen, dass es keinen „sicheren“ Grenzwert für Bleibelastung im Trinkwasser gibt und dass die Folgen von Bleivergiftungen lebenslang und häufig stark einschränkend sind. Schon in niedriger Belastungskonzentration kann Blei bei Kindern schwere Symptome verursachen: Schädigung des Nervensystems und der Nieren, Lernbehinderungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Intelligenzdefizite, Sprech-, Sprach- und Verhaltensprobleme, schlechte Muskelkoordination, vermindertes Wachstum von Muskeln und Knochen und Schädigungen des Gehörs.

Auch bei Erwachsenen können hohe Bleikonzentrationen verhängnisvolle Folgen haben: erhöhtes Krankheitsrisiko während der Schwangerschaft, Schädigung des Fötus, einschließlich Hirnschäden oder Tod, Fruchtbarkeitsstörungen, Bluthochdruck, Verdauungsprobleme, Nervenerkrankungen, Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme sowie Muskel- und Gelenkschmerzen.

Etwa die Hälfte der in der Nähe der Bleihütte in Mitrovica untergebrachten Roma-Vertriebenen waren Kinder im Alter von 14 Jahren oder jünger. Ursprünglich sollten die Lager nur eine vorübergehende Lösung sein, mit einer Aufenthaltsdauer von 45 bis 90 Tagen für die Binnenvertriebenen. Doch die Übergangslösung dauerte an. Erst 2010 wurden die Lager geschlossen.

 

Alamierende Studien

Fünf verschiedene Studien gelangten von 1999 bis 2010 zu dem Schluss, dass die RAE-Gemeinschaft in Mitrovica in ernsthafter Gefahr von Bleivergiftung schwebte. Unmittelbar nach der Ankunft der UNMIK im Juni 1999 wurden Umwelttests durchgeführt. Im August 2000 ordnete die UNMIK die Schließung der Bleihütte an. Bernard Kouchner, Sonderbeauftrager des UN-Generalsekretärs, erklärte damals: „Sowohl als Arzt als auch als oberster Verwaltungsbeamter des Kosovo würde ich meine Pflicht verletzen, wenn ich diese Bedrohung für die Gesundheit von Kindern und Schwangeren noch einen Tag länger andauern ließe.” Doch genau das tat er.

Im November 2000 bestätigte der von der UNMIK in Auftrag gegebene Bericht „Erste Phase des Gesundheitsprojekts zur Bleiverschmutzung in der Region Mitrovica“ (Englisch: „First Phase of Public Health Project on Lead Pollution in Mitrovica Region“), dass die Bleikontamination in Mitrovica sowohl in Vegetations- als auch in Bodenproben die zulässigen Normen um ein Vielfaches von mehr als 100 überstieg.

Von Mai bis Juli 2004 nahm die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Bewertung der Gesundheitsrisiken vor und führte Umweltproben, Bluttests sowie körperliche und psychologische Untersuchungen bei einer Zielgruppe durch. In ihrem „Vorläufigen Bericht über die Blutwerte in Nord-Mitrovica und Zvecan“ (Englisch:Preliminary Report on Blood Levels in Northern Mitrovica and Zvecan”) berichtet die WHO, dass die Bleiwerte im Blut von Kindern bei 34 von 58 Kindern über dem akzeptablen Grenzwert lagen.

Im Oktober 2004 übermittelte die WHO der UNMIK einen zweiten Bericht über den Nachweis von Blei im Kapillarblut (Blut aus den kleinsten Gefäßen des menschlichen Gefäßsystems; enthält wichtige Informationen über Stoffwechselprozesse im Körper; Anm. d. Red.) und über die auf Blei bezogene kritische Gesundheitssituation der Kinder in den Roma-Lagern. Dieser bestätigte die Ergebnisse vom Juli 2004. Der Bericht enthielt mehrere Empfehlungen, darunter: die sofortige Verlegung von Kindern (0 bis 6 Jahre) und schwangeren Frauen, Umsiedlung der Lagerbewohner, unmittelbare Krankenhauseinweisung und Behandlung von Kindern mit einer Bleibelastung im Blut von 30 Milligramm pro Deziliter und höher, wöchentliche Wiederholung der Tests und Behandlung derjenigen, die anhaltend hohe Werte zeigten. Nichts passierte.

Pochen auf Entschädigung

Im Jahr 2004 führte der Tod eines Kindes an einer Bleivergiftung dazu, dass die Medien auf die gefährlichen Bedingungen in den Lagern aufmerksam wurden. 2006 reichte das Europäische Zentrum für die Rechte von Roma (Englisch: European Roma Rights Centre), dann die Rechtsanwältin Dianne Post, im Namen der RAE-Beschwerdeführenden eine Klage gegen die UNMIK ein.

2007 führten die CDC auf Anfrage der WHO und des Kinderhilfswerks UNICEF eine weitere Bewertung zur Überwachung der Bleibelastung im Blut der Betroffenen Roma durch und veröffentlichten den Bericht „Empfehlungen der CDC für die Verhinderung von Bleivergiftungen unter der intern vertriebenen Roma-Bevölkerung im Kosovo“ (Englisch:Recommentations for Preventing Lead Poisoning among the Internally Displaced Roma Population in Kosovo from the Centers for Disease Control and Prevention”). In ihm hieß es: „Diese Kinder sind dem enormen Risiko ausgesetzt, lebenslang an Entwicklungs- und Verhaltensstörungen sowie weiteren negativen Gesundheitszuständen zu leiden. […]”

Die gesundheitlichen Beschwerden der 188 Frauen, Männer und Kinder in der Klage waren vielfältig, entsprachen jedoch denen von den CDC aufgeführten. Mindestens zwei Kinder und eine Mutter starben infolge der Beivergiftungen. Kinder und Erwachsene erlitten Lähmungen, Krämpfe, Blutarmut, Augen-, Leber-, Zahn- und Nierenschäden, Bluthochdruck, Muskelkater, Schwellungen der Gliedmaßen, Fehlgeburten, Atem- und Hörprobleme, Gedächtnisstörungen und Verwirrung. Weitere Symptome waren Gewichtsverlust, Schlafstörungen, rote Augen, Nasenbluten, Koordinationsverlust, Taubheit und Kribbeln, Ohnmacht, Kopfschmerzen, Erbrechen, Durchfall, Müdigkeit, Übelkeit, Brust- und Rückenschmerzen, Appetitlosigkeit und Tics. Sowohl Kinder als auch Erwachsene zeigten Verhaltenssymptome wie Angst, Hyperaktivität und Gewalttätigkeit.

Knapp zehn Jahre später, 2016, gab das Programm für Menschenrechtsverteidigende (Human Rights Advocates Program; HRAP) eine Stellungnahme ab, in der es zahlreiche Verstöße gegen internationale Menschenrechtsgesetze feststellte und detaillierte Empfehlungen zur Wiedergutmachung auflistete. Außerdem erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2010, dass sauberes und sicheres Trinkwasser ein grundlegendes Menschenrecht ist. In der Resolution 64/292 heißt es ausdrücklich, dass die Vereinten Nationen „das Recht auf sicheres und sauberes Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen als ein Menschenrecht anerkennen, das für den vollen Genuss des Lebens und aller Menschenrechte unerlässlich ist“.

Trotz der HRAP-Entscheidung im Jahr 2016 haben sich die Vereinten Nationen noch immer nicht für die Schädigung der Roma-Gemeinschaften im Kosovo entschuldigt, Entschädigungen gezahlt oder die Opfer wegen der Vergiftung behandelt. Nur eine Familie konnte nach Deutschland fliehen. Sie wurde umfassend behandelt und erholte sich.

[Die Autorin] Dianne Post ist Rechtsanwältin und hat sich dem Kampf gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit verschrieben. Sie hat in mehr als 14 Ländern gearbeitet und berät auch in internationalen Fällen. Sie hat Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht und mündlich vor den Gremien der Vereinten Nationen und der Interamerikanischen Menschenrechtskommission verhandelt.

[Info] Aus dem Englischen übersetzt von Carlotta Backer.



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