Am Gipfel des höchsten Berges Südamerikas hissen die Frauen stolz und glücklich die Flagge der indigenen Völker der Anden und die Nationalflagge Boliviens. Foto: © Arena Comunicación Audiovisual

„Was unsere Männer können, können wir auch.“ Von dieser Überzeugung angetrieben, fingen elf Frauen in Bolivien das Bergsteigen an. Mutig, stolz und mit Hilfe indigener Traditionen erklimmen sie seither Berggipfel um Berggipfel – und wurden so zu Vorbildern kommender Generationen, zu Vorkämpferinnen für Gleichberechtigung und zu Symbolen der Erfüllung hochgesteckter Ziele.

Von Catalina Nicole Soria

Ausgestattet mit Rock, Schultertuch und Eispickel steigt Elena die senkrechten Eiswände hoch. Foto: © Elena Quispe

Als Bolivianerin habe ich schon in jungen Jahren von den indigenen Aymara-Frauen aus den Anden gehört. Sie nennen sich „Cholitas“ und versuchen, durch sportliche Aktivitäten gegen die patriarchalen und rassistischen Strukturen in der bolivianischen Gesellschaft anzukämpfen. Ich sah Cholitas im Ring kämpfen und auf Skateboards fahren. Dabei trugen sie immer ihre traditionellen Röcke, die Polleras. Trotzdem war es für mich schwer zu glauben, dass die Cholitas in ihren traditionellen Röcken den Aconcagua, mit 6.948 Höhenmetern der höchste Berg Südamerikas, erklommen hatten. Doch der Dokumentarfilm „Cholitas“ von Jaime Murciego und Pablo Iraburu aus dem Jahr 2019 zeigt den Aufstieg von fünf Cholitas bis zum Gipfel und wieder zurück. Drei der fünf Protagonistinnen haben mir für diesen Artikel ausführlicher von diesem Erlebnis berichtet.

Kletternde Frauen

Es ist weit von Kassel, wo ich aktuell lebe, bis nach El Alto, der zweitgrößten Stadt Boliviens. Elena Quispe, Lidia Huayllas und Cecilia Llusco erwarten mich mit ihren Kletterausrüstungen deshalb vor ihrem Computer. Via Zoom, einer Internetplattform für Videoanrufe, wollen sie mir von ihrem Abendteuer erzählen.

Elena, die jüngste der drei, wirkt beim Interview im Vergleich zu den Aufnahmen des Films völlig verändert auf mich: Ihre Schüchternheit aus dem Film ist wie verfolgen. Beim Erzählen bringt sie ihre Entschlossenheit zum Ausdruck und hinterlässt einen abenteuerlustigen Eindruck. Lidia ist wie im Film charismatisch und adrett. Sie erzählt mir, wie stolz sie ist, Großmutter zu sein. Sie will ein Vorbild für ihre Enkelkinder sein. Cecilia trägt ein ansteckendes Lächeln auf den Lippen. Auch sie erzählt stolz von ihren Kindern.

Bevor sie ihr Abenteuer begannen, waren alle drei Cholitas Köchinnen. Sie arbeiteten im selben Ort, in dem auch ihre Ehemänner als Bergführer arbeiteten. Neben ihrer Arbeit waren sie zudem für die Hausarbeit zuständig. Lidia erzählt, dass viele Frauen früher von ihren Männern abhängig waren und ihren Willen befolgen mussten. Doch alles sollte sich ändern, als elf Cholitas beschlossen, mit dem Klettern zu beginnen. Ihr Leitspruch: „Wenn unsere Männer die Berge besteigen können, dann können wir Frauen das auch.“

In ruhigen Momenten sammeln die Cholitas neue Kraft für die nächste Kletter-Etappe. Foto: © Arena Comunicación Audiovisual

Wild entschlossen suchten sie sich die notwendige Kletterausrüstung zusammen, um ihr Abenteuer in den Bergen zu beginnen. Zunächst musste sie sich mit alten Ausrüstungen zufriedengeben. Damit eroberten sie einen Berg nach dem anderen in ihrem Heimatland Bolivien: Zunächst den Huayna Potosí mit 6.088 Metern, dann den Illimani mit 6.439 Metern und schließlich den Sajama, den mit 6.542 Metern höchsten Berg Boliviens. Mit jedem erreichten Berggipfel nahmen die Ambitionen der Cholitas zu. Bald träumten sie davon, den höchsten Berg Südamerikas zu besteigen: den Aconcagua in Argentinien. Doch dafür brauchten sie bessere Ausrüstung sowie finanzielle Unterstützung…

Mit Ritualen und Gebeten bitten die Cholitas die Mutter Erde und die Berge um einen sicheren Auf- und Abstieg. Foto: © Arena Comunicación Audiovisual

Bis zum Gipfel

Im Jahr 2019 kam die Gelegenheit, auf die die Cholitas gewartet hatten: Die Produktionsfirma Arena Comunicación Audiovisual bot ihnen an, ihnen die Besteigung des Aconcaguas zu finanzieren, wenn sie diese dokumentieren dürften. Nur fünf der elf Cholitas war es möglich, mit nach Argentinien zu reisen. Im Gespräch betonen Elena, Lidia und Cecilia aber immer wieder, dass sie eigentlich elf Frauen sind, die gemeinsam das Bergsteigen angefangen haben.

Die drei Cholitas hatten zu Beginn dieser neuen Reise gemischte Gefühle: Sie waren aufgeregt, glücklich und voller Vorfreude darauf, ihre Träume zu verwirklichen. Gleichzeitig hatten sie Angst, ein Mitglied ihrer Gruppe zu verlieren oder selber nicht nach Hause zu ihren Familien zurückzukehren. Denn den höchsten Berg außerhalb Asiens zu besteigen, ist immer mit einem gewissen Risiko verbunden. Doch ihre Entschlossenheit und ihr Mut siegte über Zweifel. Lidia erklärt: „Jeder hat seinen eigenen Berg zu erklimmen. Für uns war es der Aconcagua. Wie meine Mutter sagt: Du musst wissen, wie man das Leben lebt, sonst lebt das Leben dich.“ So machten sich die Cholitas auf die 20-tägige Reise, um den Gipfel des Aconcagua zu bezwingen. Im Gepäck hatten sie: ihre Polleras, Kokablätter, die Wiphala (die Flagge der indigenen Bevölkerung des Andenhochlands) und die Nationalflagge Boliviens.

Röcke flattern: Je näher sie dem Gipfel kommen, desto stärker bläst der Wind. Auch die Luft wird immer dünner. Foto: © Arena Comunicación Audiovisual

Der Dokumentarfilm zeigt neben großartigen Aufnahmen des Aconcaguas und der Cholitas, welche Herausforderungen die Reise mit sich brachte. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto stärker wurde der Wind; mit zunehmender Höhe fiel es den Bergsteigerinnen außerdem immer schwerer zu atmen und weiterzugehen. Doch mit ihrer Willenskraft und ihren in der Natur verwurzelten Traditionen überwanden sie alle Schwierigkeiten.

Nach jeder langen Pause führten die Cholitas ein Ritual aus den Anden durch. Es wird Challa genannt. Mit diesem Ritual richten sich Indigene an die Gebirge (Achachillas) und die Mutter Erde (Pachamama). Die Cholitas bedeckten die Kokablätter mit Erde und Ethylalkohol und legten diese unter Steine. Abschließend nahm jede Cholita einen Schluck von dem Ethylalkohol. So baten die Frauen um Erlaubnis zu klettern und um eine erfolgreiche Reise.

Dieses Ritual hat eine tiefe Verbundenheit mit der Natur. Viele Bergführer wenden dieses Ritual seitdem ebenfalls an, um die Mutter Erde und die Berge nach Erlaubnis und Segen für ihre Reise zu fragen. Damit bleibt die kulturelle Bedeutung der indigenen Völker in den Anden in Erinnerung. Die Reise der fünf Cholitas war von Erfolg gekrönt: Sie hissten die Nationalflagge Boliviens zusammen mit der Wiphala auf dem Gipfel des Aconcaguas.

Neue Ziele

Ich frage die Cholitas, ob es ein Vorher und ein Nachher dieser Erfahrung gibt. Alle drei bejahen dies. Elena beteuert, ihre Schüchternheit durch die Reise verloren zu haben. Sie erzählt mir, wie wichtig es für sie ist, die indigenen Kämpfe, die Wiphala und vor allem das Potenzial von Frauen zu fördern. Vor der Reise fühlte sie sich Menschen anderer Nationalitäten und auch Bolivianern unterlegen. Die Reise war ein Prozess, in dem sie ihre Gleichheit mit allen erkannte.

Auch wurde den drei Frauen klar, was für eine großartige Botschaft sie hinterlassen hatten. Lidia entschied sich, in die nationale Politik einzusteigen. Sie wurde Stadträtin in El Alto und möchte nun mehr für ihre Stadt tun. Sie plant, die marginalisierten Viertel mit Wasser und Strom zu versorgen. Aber sie glaubt auch, dass sie aus der Politik heraus mehr für die Förderung und die Finanzierung von Kletteraktivitäten tun kann.

Nicht nur durch das Sicherungsseil sind die Frauen miteinander verbunden, sondern auch durch ihre Überzeugung, ihre Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Foto: © Cecilia Llusco

Cecilia möchte dem Klettern weiterhin treu bleiben. Sie liebt es, Menschen auf Bergtouren zu begleiten. Dass sie den Aconcagua bezwungen hat, motiviert sie, weiter für die Rechte und Selbstbestimmung von Frauen zu kämpfen. Sie will allen zeigen, dass sie es schaffen können.

Die neue Gemeinsamkeit der bolivianischen Cholitas ist nun der Kampf für die Geschlechtergleichstellung, die Bewahrung von indigenen Traditionen und dafür, ein Bewusstsein für die Verbindung zwischen Menschen und der Mutter Erde zu schaffen. Auch sportlich wollen sie weiterhin ehrgeizig hoch hinaus: Ihr nächstes Ziel ist die Bezwingung des Mount Everests.

 


Catalina Nicole Soria studiert im Master Politikwissenschaften an der Universität Kassel. Für diesen Artikel sprach sie am 13. Mai 2021 per Videoanruf mit den drei kletternden Cholitas Elena Quispe, Lidia Huayllas und Cecilia Llusco. Sie freut sich darauf, den dreien bei ihrem nächsten Besuch in ihrer Heimat Bolivien vielleicht persönlich begegnen zu können.



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