Die ganze Welt schaute am 28. Juni 2008 auf, beziehungsweise ins, „Vogelnest“, das Nationalstadion in Peking. Hier feierte die Sportwelt den Auftakt der Olympischen Sommerspiele. Auch 2022 sollen die Eröffnungs- und Schlussfeier der Olympischen Winterspiele hier stattfinden. Foto: Peter23/Wikipedia CC BY-SA 3.0

Immer wieder finden sportliche Großveranstaltungen in autokratischen Regimen statt. Die deutsche Fechterin Imke Duplitzer begehrte bei den Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking dagegen auf: Sie boykottierte die Eröffnungsfeier. Im Interview berichtet sie von Gegenwind für ihre Entscheidung, späteren Konsequenzen und dem Leitsatz, dem Geld zu folgen.

Unsere Interviewpartnerin: Die deutsche Fechterin Imke Duplitzer. Foto: © privat

Frau Duplitzer, wir stehen vor zwei olympischen Jahren: dieses Jahr die Sommerspiele in Tokio und 2022 die Winterspiele in China. Hat es Sie überrascht, dass die Spiele nach 2008 wieder nach China gegeben wurden, obwohl die Menschenrechtslage heute noch schlechter ist als damals?

Nein, überrascht hat es mich nicht. Man muss sehen, wohin sich das IOC (Internationales Olympisches Komitee) in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Platt formuliert: Die Olympischen Spiele sind wie Sissi in der Sportwelt. Es wird eine perfekte Kulisse inszeniert, durch die Werte transportiert werden, die die Olympische Bewegung schon lange nicht mehr vertritt – zumindest nicht die, die den Laden führen und leiten. Denen geht es um bare Münze und harte Währung. Die ist gerne genommen. China ist ein wahnsinniger Entwicklungsmarkt, angefangen bei Sportartikelherstellern. Da will das IOC mitverdienen.

Früher hatten die Olympischen Winterspiele auch noch was mit Winter, Bergen und Schnee zu tun. Doch spätestens seit Sotschi wissen wir: Man kann das alles irgendwie regeln, notfalls indem man eine komplett wirre Kulisse vor eine mediterrane Grundthematik bastelt, mit einer Bergbahn und notfalls noch einem kleinen Dorf. 2022 recyceln sie wenigstens die Sportstätten von 2008. Das ist wenigstens ökologisch gesehen ein Fortschritt.

Weltweit gab es 2008 Proteste gegen die Olympischen Sommerspiele in Peking. In der tschechischen Hauptstadt Prag äußerte ein Künstler seinen Unmut zum Beispiel durch dieses Graffiti. Foto: Mat?j Bat‘ha/Wikipedia CC BY-SA 3.0

Die Berichterstattung konzentriert sich oft auf die Sportler und ihre Einstellungen zu den Spielen in einem autokratischen Land und nicht auf die Verantwortlichen, das IOC und den DOSB (Deutscher Olympischer Sportbund), die die Spiele nach China gegeben haben. Ist das ein falscher Fokus?

Sportler sind in einer schwierigen Situation. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt aus Sponsoren, Förderungen, Polizei oder Bundeswehr. Der mündige Athlet ist eine romantische Erfindung der Sportindustrie. Den oder die gab es vielleicht früher mal, aber spätestens seit der Kapitalisierung des Sports nicht mehr. Es gilt die Prämisse: „Mach mit, verdien Geld. Mach nicht mit, verdien kein Geld.“ Es ist einfach, Sportlern zuzurufen: Boykottiert die Olympischen Spielen! Aber seien wir mal ehrlich: Thomas Bach [Präsident des IOC; Anm. d. Red.] und seine gesammelte Blase interessiert es wenig, wenn ein paar Zwergstaaten, Deutschland ist international ein Zwergstaat, einen Boykott machen. Die USA haben kurz darüber nachgedacht. Das wäre unangenehmer – nicht wegen der Sportler, sondern wegen der Sponsoren und ihrem Absatzmarkt. Wenn denen gesagt wird, „eure Hauptwerbegruppe kommt nicht“, wird es schwierig.

Aber der einzelne Athlet ist kein Wirtschaftsfaktor. Autokratische Sportverbände und autokratische Staaten sind sich da ähnlich: Der Einzelne ist austauschbar und im Grunde genommen rechtlos. Warum gehen Verbände, das IOC, der Fußball und der Handball in diese Staaten? Nicht Olympia zählt, sondern die schönen Bilder. Dort werden für sie ganze Landstriche plattgemacht oder ihnen problemlos Sportstätten in die Wüste gestellt. Es ist schwierig für Sportlerinnen und Sportler, sich unter diesen Voraussetzungen zu positionieren.

 

Bei Ihnen ist das anders. Sie üben ganz offen Kritik.

Ja. Aber als kurzen Hintergrund: Ich bin in Afrika groß geworden. Ich weiß wie Mord, Tod, Elend und Vertreibung aussehen. Ich habe gesehen, wie Menschen aufgrund der falschen Religion, Meinung oder sexuellen Orientierung auf der Straße zu Tode geprügelt wurden. Das hat mich in relativ jungem Alter in meiner Haltung geprägt. Diese Erfahrungen sind natürlich anderes Rüstzeug als bei einer Beispielathletin, die in einem mittelständischen Kleinstadtidyll oder auch in einem sozialen Brennpunkt in Deutschland aufwächst. Trotzdem verlangen wir von ihr, sich zu positionieren.

Im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 kündigten Sie an, aufgrund der Menschenrechtslage in der Volksrepublik China die Eröffnungsfeier zu boykottieren. Wie ist dieser Entschluss in Ihnen gereift?

Im Vorfeld der Spiele hatte ich mich mit dem Sacharow-Preis [für geistige Freiheit; Menschenrechtspreis des Europäischen Parlaments; Anm. d. Red.] beschäftigt. In diesem Jahr 2008 ging er an Hu Jia. Die Frau des Preisträgers berichtete, dass sie gerne den Preis entgegengenommen hätte, die chinesische Regierung sie aber nicht ausreisen ließ. Das löste in mir eine Entwicklung aus. Ich hatte die Befürchtung, dass die Eröffnungsfeier eine Machtdemonstration der chinesischen Regierung werden würde. Ich differenziere da sehr klar zwischen der chinesischen Bevölkerung und der chinesischen Regierung. Ich fragte mich, ob ich Teil dieser Geschichte sein wollte und beantwortete mir das mit einem Nein.

 

Haben Sie damals Druck erfahren, im Sinne der Harmonie mit den Gastgebern auf den Boykott zu verzichten?

Der DOSB meldete Gesprächsbedarf an. Ich sagte, wir könnten uns gerne unterhalten – aber dass ich nicht alleine zu denen ins Büro käme, sondern Journalisten oder Rechtsbeistand mitbrächte. Es stand medial aufgebauscht sogar die Frage im Raum, ob man mich zu den Spielen überhaupt mitnähme oder nicht.

Ich habe immer Sport gemacht, weil ich meinen Sport toll fand. Am Anfang fand ich auch noch die olympische Idee toll. Aber ich habe früh gemerkt, dass das, was daraus gemacht wird, nichts ist, von dem ich gerne ein Teil bin. Insofern habe ich mir immer ein Stück Unabhängigkeit bewahrt. Das gelingt aber nicht jedem Sportler. Wenn sie von Verantwortlichen dann für Handlungen und Haltungen Gegenwind erfahren, wenn Verantwortliche in der Sportwelt Redebedarf anmelden, wissen Sportler schon: Das geht nicht gut für mich aus.

2008 in China wurde mir gesagt, ich sei dort Gast und im Rahmen der Gastfreundschaft solle ich dem Gastgeber nicht aufs Sofa pinkeln. Aber ich war nur wegen des Wettbewerbs Gast. Ich spüre da keinen dringenden Bedarf, die Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Das ist alles nur ein Geschäft. Ich fahre dort beruflich hin und mache meinen Job. Danach fahre ich wieder nach Hause.

 

Die Karte zeigt, aus welchen Ländern der Welt wie viele Athletinnen und Athleten kamen.
Foto: Dufo/Wikipedia CC BY-SA 3.0

Haben Sportler Sie in den vergangenen Jahren, sei es vor Sotschi oder anderen Wettkämpfen, die in autokratischen Staaten stattgefunden haben, mal privat um Rat gebeten?

Ich habe mich 2016 zur Ruhe gesetzt. Zu den ein oder anderen Sportlern habe ich immer mal wieder Kontakt, aber es ist nicht so, dass die mich dauernd anrufen würden. Ich verfolge aber freudig, dass sich in den vergangenen Jahren etwas in Deutschland tut. Athleten Deutschland e. V. beispielsweise ist eine gemeinsame Interessenvertretung für Sportlerinnen und Sportler. Man merkt, dass viele der jüngeren Generation die Nase voll haben von den Verhältnissen.

Im Vorfeld der letzten Winterspiele in Südkorea gab es massive Demonstrationen vor dem Firmensitz von Samsung. Wenn Sie dem IOC ans Bein pinkeln, ist denen das völlig schnurz. Aber ein Sponsor reagiert. Sie können sich 100 prozentig sicher sein, dass er zum Telefonhörer greift und bei Herrn Bach persönlich anruft. Sponsoren möchten keine Bilder von Demonstrationen. Dafür bezahlen die nicht. Das führt zu der Weisheit: „Follow the money” [dt.: Folge dem Geld]. Denn dann wird es für Thomas Bach und das IOC ungemütlich: Wenn ihnen der Geldhahn zugedreht wird.

 

Haben Sie nach den Olympischen Spielen 2008 noch einmal versucht, nach China zu reisen?

2015 habe ich es versucht. Nicht weil ich mir das Land anschauen wollte, sondern weil ich aufgrund der Vergabe meines Weltverbandes dort einen Job zu erledigen hatte. Es fand ein Wettkampf im Rahmen der olympischen Einzel-Qualifikation statt. Für das Visum habe ich einen Spießrutenlauf erlebt, sodass sogar die Dame von der Visastelle in Frankfurt fragte, was ich ausgefressen hätte. Sie wurde sechs Mal ins chinesische Konsulat bestellt und wieder weggeschickt.

Schließlich wurde ich ins chinesische Konsulat nach Frankfurt gebeten, um darzulegen, warum ich überhaupt einreisen wolle. Das nimmt absurde Züge an. Menschenrechtsorganisationen und Teile der Bundesregierung, zu denen ich Kontakt hatte, warnten mich: Sei ein bisschen vorsichtig. Aber ich wollte ja zum Wettkampf.

Im Konsulat wurde mir mitgeteilt, dass ich mein Telefon ausschalten solle. Ich wurde in einen Raum mit dicken Sesseln geführt. Dann kam eine junge Dame der Botschaft und ein Herr, der so leicht unauffällig auffällig aussah. Er saß etwas abseits und hat sich auch nicht am Gespräch beteiligt.

Ich wurde mit einer dicken Akte konfrontiert, mit allen Zeitungsartikeln, Interviews, Einträgen zu mir von vor und nach den Olympischen Spielen 2008. Wenn ich einmal gehustet habe und das klang wie das Wort China, wurde es da aufgenommen. Wieso ich denn die Eröffnungsfeier boykottiert hätte, fragten sie mich. Ich habe ganz ruhig meine Gründe dargelegt. Und wieso man mich einreisen lassen sollte? Weil es halt mein Job ist, den ich zu erledigen hatte. Auf Nachfrage, ob ich mich von meinen damaligen Äußerungen distanzieren würde, habe ich geantwortet: Natürlich nicht, hat sich ja nichts verändert bei Euch!

Dann wurde es sehr kurios: Sie fragten, ob ich die Eröffnungsfeier der Spiele 2022 wieder boykottieren würde, wenn ich mich qualifizieren würde. Aber erstens ist Fechten eine Disziplin der Sommer- und nicht der Winterspiele, und zweitens, mit Blick auf mein Alter, könnte ich da höchstens im Rollatorweitwurf antreten. Absurd. Nach eineinhalb Stunden durfte ich wieder gehen.

Dann würden solche Events nur noch an lupenreine Demokratien vergeben?

Wo gibt es die überhaupt? Gelegentlich gab es die Diskussion, dass man die Spiele dann nicht mal mehr an die USA geben könne, mit der Polizeigewalt und dem Rassismus. Aber da muss man sehen, von welchen staatlichen Stellen Unrecht ausgeht. Ist es ein systemimmanentes, gewolltes Verhalten durch eine Regierung? Wenn ja muss man sagen: Dort machen wir die Veranstaltung eben nicht. Das sind doch Dinge, bei denen man als Sportveranstalter oder Verband zu dem Schluss kommen muss, dass das nicht geht. Aber viele Verantwortliche sitzen mit ihrem Hintern im Trockenen, in der neutralen Schweiz, und halten sich in ihrer Position im IOC als so vorbildlich, dass sie am liebsten den Friedensnobelpreis bekommen würden. Für sie bleibt außerdem das Spannungsfeld zwischen „wo macht man eine Veranstaltung und wer bezahlt das alles”.

 

Vielen Dank, Frau Duplitzer, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch genommen haben.

Sehr gerne. Zum Thema Zeit genommen: Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Mich kostet das nur eine, zwei Stunden meines Lebens. Aber andere kostet diese Arbeit ihr Leben. Ich muss keine Angst haben, dass nach der Veröffentlichung Leute mit Hut und Mantel bei mir klingeln und fragen: Sind Sie Imke Duplitzer? Und das ist das Unvorstellbare, dass das in vielen Autokratien in der Welt für die Menschen Alltag ist.

 


Julian Klenke führte das Interview am 5. Mai 2021 per Videoanruf und transkribierte es.



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