Chinesische Touristen posieren in tibetischer Tracht in Lhasa. Foto: © Tsering Woeser

Traditionelle tibetische Kleidung zu tragen ist für viele Tibeter Ausdruck ihrer nationalen, religiösen und kulturellen Identität – egal, ob in der sogenannten „Autonomen Region Tibet“ oder im Exil. Seit Beginn der Proteste im Frühling 2008 wurde die Kleidung außerdem immer stärker auch zum Symbol für den gewaltfreien Protest und den Widerstand gegen die chinesische Staatsmacht. 

Von Telis Koukoullis
 

Die „Chupa“ oder „Chuba“ genannte Robe ist das Herzstück traditioneller tibetischer Kleidung. Ihr Design variiert je nachdem, ob Frauen oder Männer sie tragen, welche Jahreszeit gerade herrscht oder aus welcher Region Tibets sie stammt. Ursprünglich wurden nur einheimische Rohstoffe wie handgewebte Yak- und Schafswolle, der etwas dickere Nambu-Stoff, Filz oder Schafspelz für die Herstellung von Chupas verwendet. Doch später trugen Tibeter, die es sich leisten konnten, auch Chupas aus Materialien, die aus China, Indien oder anderen Nachbarländern importiert wurden, wie Wolle, Baumwolle, Seide oder Brokat.

Foto: simplemaps.com
Bearbeitung: studio mediamacs Bozen

Je nach Region können Länge der Chupa und Form der Bundfalten auf der Rückseite unterschiedlich sein. Während sich die Chupas der Männer aus den verschiedenen Regionen Tibets in der Regel nicht wesentlich unterscheiden, gibt es beim Design für Frauen-Chupas regionale Unterschiede. So tragen Frauen aus Zentral- und West-Tibet im Sommer häufig ärmellose Roben und im Winter welche mit langen Ärmeln. Bei Frauen aus den Provinzen Amdo und Kham sind hingegen das ganze Jahr über langärmelige Chupas üblich. Ebenso tragen Frauen aus Amdo und Kham eher weite und lange, Frauen aus Zentral- und West-Tibet eher eng geschnittene Chupas. Manche Tibeter binden ihre Chupas mit weiten, farbenfrohen Schärpen um die Taille zu.
Im Winter trägt ein Großteil der Tibeter Roben aus Schafs- oder Lammpelz. Die wollige Seite zeigt dabei zum Körper. Die ledrige Seite der Schafsfelle wird solange mit Butter eingerieben und geknetet, bis sie weich ist. Bei den Nomaden werden die Chupas zum Teil mit zwei oder drei Streifen aus Filz in verschiedenen Farben verziert. Frauen und Männer tragen langärmelige Blusen oder Shirts unter ihren Roben. Tibetische Mönche tragen ärmellose Chupas aus grober, kastanienbrauner Wolle. Im Winter bedecken die Mönche ihre Oberarme mit einem Schal.

Exil-Tibeter und -Uiguren demonstrieren im September 2019 in Genf auf dem Platz vor dem Gebäude des UN-Menschenrechtsrats. Viele tragen aus Solidarität mit den Menschen in der Heimat die traditionelle Tracht.
Foto: © Hanno Schedler/ GfbV

Tibetische Kleidung in der „Lhakar“-Bewegung

Am 10. März 2008 jährte sich der tibetische Volksaufstand von 1959 zum 49. Mal. An diesem Tag begann eine neue Protestwelle, als tibetische Nonnen und Mönche in Lhasa [Hauptstadt der Autonomen Region Tibet; Anm. d. Red.] gegen die chinesische Regierung und die politische Verfolgung von Tibetern demonstrierten. Die zunächst friedlichen Proteste breiteten sich schnell über die gesamte Region aus und eskalierten vielerorts, als chinesische Polizei- und Militäreinheiten gewaltsam gegen tibetische Nonnen und Mönche vorgingen.

Die Volksrepublik China verstärkte daraufhin ihre militärische Präsenz in der sogenannten „Autonomen Region Tibet“. Als eine der Reaktionen darauf entstand die „Lhakar“-Bewegung. Das tibetische Wort „Lhakar“ bedeutet „Weißer Mittwoch“. Dieser wird von vielen Tibetern wöchentlich als „Soulday“ (dt.: Seelentag) des Dalai Lama gefeiert. Inspiriert von der gewaltfreien Widerstandsbewegung in Indien unter Mahatma Gandhi und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King entwickelte sich der „Weiße Mittwoch“ für viele Tibeter zu einer neuen und regelmäßigen Form des Protestes. Neben der Besinnung auf die eigene tibetische Identität, Religion, Sprache und Kultur bilden folgende drei Elemente die strategischen Grundlagen der „Lhakar“-Bewegung: „De-Kollektivierung“, „Nutzung der Kultur als Waffe“ und „Nicht-Kooperation“.

Jeden Mittwoch kleiden sich Tibeter in tibetische Kleidung, sprechen die tibetische Sprache, essen tibetisches Essen und boykottieren chinesische Geschäfte und Dienstleistungen. Alles dies sind subtile und friedliche, aber dennoch wirkungsvolle Maßnahmen des politischen Widerstandes. Jeder Tibeter kann sie in seinen Alltag integrieren, ohne dass sich dabei viele Menschen versammeln müssen – deshalb „De-Kollektivierung“.

Indem Tibeter in ihrer Heimat und im Exil nicht nur mittwochs, sondern häufig auch an allen anderen Tagen authentische tibetische Kleidung anziehen, setzen sie ein visuelles Zeichen der gemeinsamen Solidarität mit ihrem Heimatland. Sie grenzen sich damit bewusst nicht nur optisch, sondern auch symbolisch von den anders gekleideten Chinesen ab, die aus tibetischer Sicht den chinesischen Staat symbolisieren.

Missbrauch tibetischer Tracht

Während die chinesische Staatsführung die Wirkung tibetischer Kleidung im Zusammenhang mit der „Lhakar“-Bewegung wahrscheinlich eher mit Unbehagen betrachtet, benutzt sie die Symbolik ethnischer Trachten an anderer Stelle ebenso bewusst für ihre eigenen Zwecke: So legt die Führung der Kommunistischen Partei Chinas Wert darauf, dass tibetische, uigurische und mongolische Delegierte beim jährlichen Volkskongress in ihren Trachten in die „Große Halle des Volkes“ einmarschieren. Dabei inszeniert sich die Volksrepublik China zumindest vorübergehend für die Fotografen als demokratischer Vielvölkerstaat.

Staatliche chinesische Museen, wie das „China Ethnic Museum“ in Peking oder das „Tibet Museum“ in Lhasa, instrumentalisieren überwiegend aus synthetischen Stoffen hergestellte Imitationen traditioneller tibetischer Kleidung und anderer ethnischer Trachten auf ähnliche Art, um ebenfalls die Vielfalt 56 verschiedener ethnischer Volksgruppen, die in der Volksrepublik leben, nach außen zu propagieren. Dabei geht es jedoch nicht wirklich um den Erhalt und die Wertschätzung tibetischer und anderer ethnischer Traditionen. Es soll vielmehr suggeriert werden, dass sich alle ethnischen Gruppen in der Volksrepublik China in einem harmonischen Miteinander frei entfalten dürfen.

Auf wiederum andere Weise wirkt traditionelle tibetische Kleidung hingegen, wenn chinesische Touristen sie anziehen und zweckentfremden. Etwa in Lhasa albern sie in der Kleidung herum und posieren für ihre Urlaubsfotos oder Social-Media-Posts. An vielen Orten wurden zudem religiöse Stätten der Tibeter für den wachsenden Massentourismus in Themen- oder Freizeitparks im Stil von Disneyland umgewandelt. Für das Eintrittsgeld können sich die überwiegend chinesischen Besucher dort ebenfalls wie Tibeter kleiden und für die Kamera posieren. Die zur Verfügung gestellten Kostüme kreieren dabei jedoch eher ein stereotypes und übertrieben bunt-exotisches Bild der traditionellen tibetischen Kleidung.

In dieser Situation dürften sich viele Tibeter zutiefst gedemütigt fühlen, wenn die als Besatzer und Kolonialherren gesehenen Chinesen die tibetische Tracht auf respektlose Art missbrauchen und sich auf diese Weise der Kultur der Besetzten bemächtigen. Ebenso unangenehm empfinden es viele Tibeter vermutlich umgekehrt, wenn sie ohne jede Rücksicht auf Intimsphäre von chinesischen Touristen in ihrer traditionellen Kleidung fotografiert werden.

 


Telis Koukoullis ist Historiker, Germanist, Politologe und langjähriger Journalist. Seit 2021 ist er Referent für Öffentlichkeitsarbeit der International Campaign for Tibet in Deutschland.



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