Eine Gruppe der Brasilianischen Araukarie, auch Brasilkiefer genannt: Das Holz war früher ein Exportschlager. Heute steht die Araukarie unter Schutz. Für die indigenen Kaingang ist der Baum heilig. Foto: Dante Aguiar/ Flickr gemeinfrei

Foto: Wikipedia; gemeinfrei
Bearbeitung: Alexander Becker

Vom Heiligtum bis zum Grundnahrungsmittel: Für die Kaingang sind Bäume nicht einfach Bäume. Sie sind Bestandteil ihrer Kosmologie.

Kretã Kaingang, Anführer des indigenen Volks der Kaingang in Südbrasilien, spricht im Interview über die besondere Rolle der Araukarien.

Von welcher Bedeutung ist die Natur in der Kosmologie Ihres Volkes der Kaingang?

Nicht-indigenen Menschen haben die Gewohnheit, alles zu trennen: die Kosmologie von der Natur, mit deren Fauna und Flora. Für uns Indigene ist das anders. Für uns Kaingang ist alles verbunden. Der Boden, unser Territorium, das Wasser, die Menschen, die Tiere, die Pflanzen: Das sind für uns gleichberechtigte Wesen. Jedes Wesen hat einen Geist. Und jeder Geist ist unterschiedlich. Wir sammeln zum Beispiel keine Pflanze, auch keine medizinische, ohne deren Geist um Erlaubnis zu bitten.

Wir verändern nichts am Ökosystem, ohne bestimmte Regeln zu beachten – einen geeigneten Monat, einen Tag, eine Uhrzeit. Wir vermeiden dadurch den Zorn der Geister. Wenn man diese Regeln nicht beachtet, wirken zum Beispiel medizinische Pflanzen nicht. Erst wenn man die Pflanze an dem bestimmten Tag und zu der bestimmten Uhrzeit erntet, wird sie ihre medizinische Wirkung zeigen – erst dann kann sich ihre Kraft entfalten. Das gilt auch für Bäume. Man darf einen Baum nicht einfach fällen, um das Holz zu nutzen und um ein Haus oder etwas anderes zu bauen. Man muss die Natur respektieren und zuerst um ihre Erlaubnis bitten.

Meiner Meinung nach sollte man die Kosmologie, die Natur und die Spiritualität nicht trennen. Diese Trennung verursacht die Veränderungen, die wir jetzt erleben, den Klimawandel und die Erderwärmung. Beim Thema Klimawandel betrachten die meisten alles oft rein wissenschaftlich. Sie ignorieren, dass auch die spirituelle Komponente berücksichtigt und respektiert werden sollte. Es werden zum Beispiel Naturschutzgebiete in verschiedenen Kategorien und Abstufungen geschaffen. Es gibt Gebiete, in denen Menschen nicht erlaubt sind. Es gibt geschützte Biome, es gibt Naturparks. Aber für uns Indigene spielen diese Abstufungen keine Rolle. Man muss die Natur im Ganzen respektieren, mit allem was sie bedeutet. Das ist etwas, wofür wir Indigene immer gekämpft haben. Das ist uns angeboren und nicht erst entstanden, seitdem Gesetze dafür erschaffen wurden.

 

Welche Rolle spielt der Baum Araukarie für Sie?

Die Araukarie ist heilig für uns, für die Völker des Südens. Sie ist Teil unserer territorialen Identität. Sie ernährt uns und mit ihr ehren wir unsere Toten. Das ist etwas, was nicht-indigene Menschen vielleicht nicht verstehen, aber für uns ist ein Baum nicht nur ein Baum. Ein Tier ist nicht nur ein Tier. Nicht-Indigene denken, man darf ein Tier schlachten, um sich von seinem Fleisch zu ernähren. Sie denken, man darf einen Baum fällen, um sich mit dem Holz etwas zu bauen. Man darf eine Fläche brandroden oder abholzen, um sich Platz zu schaffen. Aber diese Denkweise hat Auswirkungen auf das ganze Ökosystem, inklusive den Menschen. Es geht um Respekt gegenüber der Natur. Und dabei ist die Natur nicht nur ein Baum, sondern alle Zusammenhänge, Wechselwirkungen und auch die spirituelle Komponente. Eine Störung oder Zerstörung der kosmologischen Zusammenhänge der Natur können erhebliche Auswirkungen auf ein ganzes Volk, mehrere Völker oder sogar auf die Nicht-Indigenen haben.

So spielen die Araukarien eine bedeutende Rolle für das Klima. Meine Großmutter erzählte mir immer, dass man Araukarien nicht fällen darf, sonst gibt es Wechselwirkungen. Es würde zu viel Wind geben, oder es würde zu warm. Außerdem schützt die Araukarie uns. Wenn ein Blitz einschlägt, dann trifft er den Baum statt uns. Viele von den klimatischen Veränderungen und die Zerstörung der Ökosysteme stammen aus dem Mangel an Respekt gegenüber der Natur.

Ein anderes Beispiel für die Bedeutung der Araukarie ist die Pinhão (dt. Piniensamen), die Frucht des Baumes. Sie trägt bei uns eine territoriale Identität, sie hat eine spirituelle Bedeutung und sie ist eine wichtige Quelle unserer Ernährung. Mit der Frucht pflanzen wir Araukarien, aber wir essen die Früchte auch. Wir können sie mit einem besonderen Verfahren so lagern, dass wir sie über das ganze Jahr essen können. Außerdem wird durch die Früchte Wild angelockt, das wir jagen können. In Verbindung mit den Araukarien wachsen auch viele andere Pflanzen, zum Beispiel die für den Mate-Tee. Der ist für uns ein sehr wichtiges Getränk. Er gibt uns Energie und wärmt uns. Meine Großmutter erzählte mir, dass es verschiedene Arten von Pinhão gibt. Und jede Familie hat die eigenen Pinhões (Plural) vermehrt. Diese Samen wurden dann mitgenommen und überall dort gepflanzt, wo die Familie sich niederließ. So trägt die Pinhão auch die familiäre Identität.

Foto: Regina Sonk/ GfbV

Sie haben gerade erwähnt, dass Sie mit der Araukarie Ihre Toten ehren. Wie meinen Sie das?

Es gibt eine Zeremonie des Übergangs vom Tod zum Leben: „Kiki Koi“. Die Araukarie ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Rituals. Aber leider können wir dieses Ritual nicht mehr richtig praktizieren, denn Araukarien sind selten geworden und deswegen geschützt. Es gibt Völker in Südbrasilien, die in Territorien leben, in denen keine Araukarien mehr wachsen. Ich habe das Privileg, in Mangueirinha geboren zu sein, einem indigenen Land, wo es noch Araukarienwälder gibt.

Die Tatsache, dass es gesetzlich verboten ist, eine Araukarie zu fällen, ist in gewissermaßen empörend für uns! Zuerst fällen die Nicht-Indigenen unsere Araukarienwälder und jetzt verhängen sie ein Verbot, auch für uns, sie zu fällen. Dabei haben wir die Araukarienwälder immer nachhaltig genutzt! So ein Verbot hat Auswirkungen auf ein Volk. Das beeinträchtigt unser Leben, unsere Kultur, wir werden dadurch geschwächt. Viele glauben, dass manche von uns krank werden, weil wir unsere Rituale nicht mehr praktizieren können.

Das Ritual Kiki Koi wurde schon vor 70 Jahre in seiner ursprünglichen Form verbannt – auch wegen des Einflusses der katholischen und evangelikalen Kirche. Unser Ritual wurde als makaber und dämonisch gesehen. Aber sie verstehen das nicht. Für uns ist das Ritual wichtig, es stärkt uns. Ich habe mehrmals an dem Ritual in einer abgemilderten Form teilgenommen. Aber viele von uns kennen es leider gar nicht mehr. Das gilt vor allem für die Jüngeren.

Das Ritual machen wir nicht, weil es schön ist. Man muss vieles beachten. Es gibt ein bestimmtes Datum und bestimmte Prozeduren und wenn diese nicht berücksichtigt werden, kann das zu Krankheiten und sogar dem Tod in den Gemeinschaften führen. Das ist ein ernstes und wichtiges Ritual. Es dauert sieben Tage.

Marcelo Träsel/ Flickr CC BY-SA 2.0

Würden Sie uns erzählen, wie das Ritual abläuft?

Bei der Ursprungsform des Rituals soll eine Araukarie gefällt werden. Dafür müssen ausgewählte Krieger beim ersten Sonnenschein in den Wald ziehen. Sie werden von dem spirituellen Anführer, den Kuiâ, geleitet. Es wird die ganze Zeit gesungen. Der Kuiâ wählt den richtigen Baum aus. Bei den Araukarien gibt es weibliche und männliche Bäume. Es muss ein männlicher Baum sein, der von anderen männlichen Bäumen umgeben ist. Die Krieger und Anführer bitten durch Gesang um die Erlaubnis, den Baum zu fällen. Es wird solange gesungen, bis der Geist die Araukarie verlässt. Das kann bis zu einem Tag dauern. Wenn die Äste und Nadeln des Baums welken, darf er gefällt werden.

Danach bringen die Krieger den zwei bis drei Meter langen Baumstamm zur Gemeinschaft. Der Baum wird ausgehöhlt, sodass ein Trog entsteht. In diesem Trog wird ein Getränk aus Wasser, Mais und Honig hergestellt. Wir mischen die Inhaltsstoffe nicht bloß zusammen. Jede Zugabe einer Zutat wird von verschiedenen Gesängen begleitet. Das Getränk ist nach ein paar Tagen leicht alkoholisch. Dann trinken wir es. An diesem Tag werden auch die Neugeborenen mit indigenen Namen getauft. Außerdem werden die Toten „abgeholt“.

Auf dem indigenen Friedhof ist vor jedem Grab ein Kreuz, das den Verstorbenen repräsentiert. Bei dem Kiki Koi holen wir die Kreuze von den Verstorbenen und tragen sie in das indigene Dorf, sodass die Geister der Verstorbenen für diese Zeit zurück in die Gemeinschaft geholt werden. Es gibt in der Kaingang Gemeinschaft zwei Gruppen, die Kamé und die Kairú. Die Kamé holen die Kamé und die Kairú die Kairú. Am letzten Tag werden die Kreuze zurück auf den Friedhof gebracht. Das ist eine ernste Zeit. Man muss aufpassen und während dieser Zeit müssen Kinder immer von Erwachsenen begleitet werden.

 

Wie ist denn das Ritual in der abgemilderten Form, von der Sie gesprochen haben?

Heute gibt es nur das indigene Dorf Xapecó, das das Ritual in dieser abgeänderten Form durchführt. Es wird jedes Jahr derselbe Baumstamm benutzt und das Getränk wird nicht mehr ganz traditionell hergestellt. Früher ging man in den Wald, um Honig von Wildbienen zu ernten. Man hat auch den Mais selbst produziert. Heute gibt es kaum noch Honig im Wald und viele können den Mais nicht mehr selber anbauen. Daher wird Mais und Honig für die Herstellung des Getränks heute meistens gekauft. Aber wir können im Endeffekt nichts dafür. Wir sind nicht die, die den Wald gerodet haben und die Natur zerstört haben. Trotzdem müssen wir uns an die Regeln halten.

 

Man hört viel von der Entwaldung und von Waldbränden im Amazonasgebiet. Beides hat Auswirkungen auf den Klimawandel. Wie ist die Situation bei Euch in Südbrasilien?

Wir haben untypische Wetterlagen bei uns in Südbrasilien. Dieses Jahr ist es extrem kalt und trocken. Wir haben sogar Wasserknappheit. Erstens weil es zu wenig regnet, zweitens weil die Infrastruktur fehlt. Es ist für uns schwierig, Nahrungsmittel anzubauen. Das Klima und die natürlichen Zyklen haben sich geändert. Wir haben früher nach dem Mondkalender Nahrungsmittel angebaut. Heute ist das nicht mehr möglich, weil die Natur zerstört wurde und mit ihr die natürlichen Zyklen. Dieses Jahr wurden wir von einem Zyklon getroffen und vor ein paar Wochen gab es sogar Frost.

 

Welche Verantwortung trägt Europa oder Deutschland für die Zerstörung der Araukarienwälder? 

Brasilien wurde von Europäern kolonialisiert. Europäer haben unsere Wälder gerodet. Am Anfang die Portugiesen im Nordosten, dann die Spanier im Westen. Wir in Südbrasilien wurden von Deutschen und Italienern kolonialisiert. Darum trägt Europa Verantwortung. Die Deutschen haben hier Araukarienwälder gerodet und auf den Flächen die ersten Sojaplantagen etabliert. Wir Kaingang, aber auch die Xokleng und die Guaraní, Xetás, Charruas mussten einen hohen Preis zahlen. Unsere Wälder wurden abgeholzt und wir wurden vertrieben. Heute leben wir in kleinen Territorien. Deutschland spielte auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Rolle bei der Entwaldung und dem Export von Araukarienholz nach Europa – wegen des Wiederaufbaus.

Dieser Export muss aufhören! Wir brauchen keine Abkommen, die Naturgüter aus Brasilien exportieren. Wir brauchen Abkommen, die die Natur regenerieren und unsere Landrechte garantieren, damit unsere Kinder und Enkelkinder auf dem Land leben können, auf dem schon unsere Vorfahren gelebt haben. Land, das eigentlich uns gehört, wird uns nicht zugeschrieben. Viele Angehörige unserer Völker wohnen in Zelten unter prekären Bedingungen. Viele wohnen neben Sojaplantagen und werden durch die Pestizide krank – und hier ist Bayer, wieder aus Deutschland, verantwortlich. Also, wir wurden von Europäern vertrieben, unsere heiligen Wälder werden für den Export nach Europa abgeholzt und wir werden krank durch ihre Pestizide. Die Verantwortung ist enorm.


Juliana Miyazaki führte das Interview Mitte September per Videoanruf und übersetzte es anschließend aus dem Portugiesischen.



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