Choeung Ek ist einer der Schreckensorte, an denen das Regime der Roten Khmer massenhaft Menschen ermorden ließ. Heute ist das Gelände eine Gedenkstätte – und wird vor allem von Tourist*innen besucht.
Foto: Jos Dielis/ Flickr CC BY 2.0

Wikipedia; gemeinfrei
Bearbeitung: studio mediamacs Bozen

Welche Rolle spielen Totengeister bei dem Umgang mit dem Völkermord in Kambodscha durch die Roten Khmer in den Jahren 1975 bis 1979? Der Ethnologe Paul Christensen verbrachte mehr als ein Jahr in dem südostasiatischen Land, um es herauszufinden.

von Hanno Schedler

Die Roten Khmer, eine einst maoistisch-nationalistische Guerillagruppe unter Pol Pot, folgten einem Ideal eines kommunistischen Agrarstaates. Durch die Wirren des Vietnamkrieges, während dem die US-amerikanische Luftwaffe in den Jahren 1969 bis 1973 auch Teile von Vietnams Nachbarland Kambodscha bombardierte, konnten sie 1975 in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh einmarschieren. In den kommenden vier Jahr waren die Roten Khmer für eine ungeheure Anzahl von Toten verantwortlich – die Schätzungen gehen von 740.000 bis drei Millionen bei einer Einwohnerzahl von sieben Millionen. Sie wurden Opfer von Zwangsarbeit, Hunger und Krankheit sowie Hinrichtungen und parteiinternen Säuberungen.

Menschen, die als „gebildet“ angesehen wurden, besonders Intellektuelle, Künstler*innen und Mönche, wurden als Volksfeind*innen zur Zielscheibe des Regimes: als durch moderne Entwicklungen entfremdetes „neues Volk“ im Vergleich zum sogenannten „alten Volk“ der agrarwirtschaftlich orientierten Roten Khmer wurden sie zu Menschen zweiter Klasse. Bei Ungehorsam wurde die durch die Roten Khmer propagierte Maxime „Dich zu halten ist kein Gewinn, Dich zu verlieren ist kein Verlust“ umgesetzt.

Die Schreckensherrschaft der Roten Khmer endete am 7. Januar 1979 mit dem Einmarsch vietnamesischer Truppen, die das Nachbarland bis zu ihrem Abzug ein Jahrzehnt später besetzt hielten. Die humanitäre Krise Kambodschas, die laut dem Ethnologen Paul Christensen 1970 mit dem US-amerikanischen Bombardement Kambodschas begann, endete erst im Jahr 1998. In diesem wurden die verbliebenen 30.000 Kämpfer der Roten Khmer, die sich seit 1979 im Nordwesten des Landes aufgehalten hatten, im Rahmen eines Abkommens mit der kambodschanischen Regierung unter Premier Hun Sen in das kambodschanische Militär eingegliedert.

Foto: Paul Christensen

Geister des Krieges

Auf die Idee, die Rolle von Totengeistern aus der Zeit der Roten Khmer für Kambodschas Gegenwart zu untersuchen, war Paul Christensen durch das Buch „Ghosts of War in Vietnam“ (dt.: Geister des Krieges in Vietnam) aus dem Jahr 2008 gekommen. Der Autor Heonik Kwon beschreibt darin die Rolle von Totengeistern für die vietnamesische Bevölkerung nach dem Vietnamkrieg, der in Vietnam selbst „Amerika-Krieg“ genannt wird. Kwon kommt zu dem Schluss, dass die Kommunikation der Lebenden mit den als mächtig wahrgenommenen Totengeistern eine spirituelle Verarbeitung des während des Kriegs Erlebten ermöglicht.

Bei seinen eigenen Forschungen kam Christensen zu dem für ihn überraschenden Schluss, dass die Rolle von Totengeistern in Kambodscha sich deutlich von der im Nachbarland unterscheidet. Er beschreibt, wie sich die Sicht auf die Totengeister Kambodschas seit dem Ende des Völkermords durch die Roten Khmer 1979 in vier Phasen entwickelt hat. In der ersten Phase berichteten einige Gesprächspartner*innen Christensen, wie sie direkt nach dem Sturz der Roten Khmer „leuchtende Erscheinungen oder Schatten über den Gräbern schweben [sahen]. Andere wurden von ihnen in Menschengestalt im Traum heimgesucht.“ Bedrohlich hätten die Beschreibungen nur selten gewirkt – und die von den Erscheinungen hervorgerufenen (meist gesundheitlichen) Probleme konnten stets mit kleinen Opfergaben im privaten Kontext gelöst werden.

In der einige Monate später auftretenden zweiten Phase war die Angst vor den Totengeistern ebenfalls nicht stark ausgeprägt. Christensen erklärt sich dies „einerseits durch den alltäglichen Umgang mit dem Tod in den Jahren davor und andererseits mit der akuten Notlage.“ In der dritten Phase, wenige Jahr später, hätten die Toten nun, abhängig von ihrem individuell angesammelten Karma, auf ihre Wiedergeburt gewartet. Seit dem Abzug der betont säkularen vietnamesischen Besatzung im Jahr 1989 sei es zu einer Revitalisierung der buddhistischen Nachtodkonzeption gekommen.

Paul Christensens Buch „Geister in Kambodscha – Existenz, Macht und rituelle Praxis“ ist in diesem Jahr im Universitätsverlag Göttingen erschienen.
Foto: Universitätsverlag Göttingen

Die Rolle der Reinkarnation in Kambodscha

Der große Unterschied bei der Rolle der Totengeister für die Gesellschaften Kambodschas und Vietnams liegt in einer unterschiedlichen Ausrichtung des Buddhismus. Gläubige des eher indisch-thailändisch geprägten Theravada-Buddhismus Kambodschas nehmen an, dass die Menschen aus der Zeit des Völkermords bereits wiedergeboren sind. Wer keine große Schuld auf sich geladen habe, werde bereits nach drei bis fünf Jahren wiedergeboren. Dies erkläre aus Sicht der Kambodschaner*innen die hohen Geburtenraten in den 1980er und 1990er Jahren. Die Vorstellung, die Toten nun wieder als neue Menschen (nur selten als Tiere) unter den Lebenden zu wissen, sorge für Erleichterung bei den Hinterbliebenen, beschreibt Christensen.

Dass die Totengeister und der Kontakt zu ihnen keine besondere Rolle in der Verarbeitung der Vergangenheit spielen, erklärt Christensen zudem damit, dass „es direkt nach der Vertreibung der Roten Khmer kaum Geistmedien gab. Zum anderen war der Zeitraum vor der Reinkarnation, in dem der Kontakt [zwischen Lebenden und Totengeistern] hätte stattfinden müssen, auf wenige Jahre beschränkt.“ In Vietnam spielen Totengeister bis heute eine prägendere Rolle.

 

Keine Besänftigung der Geister ohne Bestattung der Körper

Im Mahayana-buddhistisch geprägten Vietnam ist die Vorstellung einer Reinkarnation weniger verbreitet. Bis heute werden in Vietnam Überreste der Toten des Krieges gesucht, weil eine Person nur bestattet werden und ihr Geist befreit beziehungsweise erlöst werden kann, wenn ihre Überreste gefunden werden. Weil diese Geister stören oder sogar krankmachen können, ist das Interesse an ihrer Befreiung und Besänftigung groß.

Außerdem stellt die bis heute herrschende Kommunistische Partei Vietnams, die sehr stark auf das nationale Narrativ des siegreichen Kampfes gegen die USA setzt und die Erinnerung an den nationalen Befreiungskampf hochhält, die Toten gerne als Helden dar. Sie bietet Angehörigen sogar an, nach den Überresten der Toten zu suchen und herauszufinden, ob es Märtyrer*innen waren. In diesem Fall bekommen die Angehörigen zum Beispiel eine höhere Rente. „In Kambodscha habe ich nie gehört, dass irgendwer jemals ein Grab ausgehoben hat, um herauszufinden, wer da drin lag,“ sagt Christensen. Die Überreste sind dort unwichtig für die Bestattungszeremonie. Die Totengeister aus der Zeit der Roten Khmer gelten größtenteils als wiedergeboren.

 

Aufarbeitung eher für Tourist*innen
Die Roten Khmer brachten in der Zeit ihrer Terrorherrschaft überwiegend Angehörige der eigenen ethnischen Gruppe um: Khmer ermordeten Khmer. Nur bei einem kleinen Teil der Ermordeten handelte es sich um Angehörige der muslimischen Cham-Gemeinschaft und ethnischen Vietnamesen. Es gibt zwar einen hybriden Strafgerichtshof, auf den sich 2003 die Vereinten Nationen und die kambodschanische Regierung einigten. Dort können jedoch nur hochrangige Rote Khmer angeklagt werden können. Premierminister Hun Sen war selbst Angehöriger der Roten Khmer. Das Interesse in Kambodscha an dem Gerichtshof ist laut Christensen eher gering. Die Erinnerung an den Völkermord wird vom Staat nicht gefördert.

In Kambodscha ist die Vorstellung weit verbreitet, dass böse Taten in jedem Fall bestraft würden, zum Beispiel mit einer verzögerten Reinkarnation oder einer Reinkarnation in eine kranke Person. Zur Legitimierung ihrer Besatzungsmacht errichteten die Vietnames*innen Gedenkstätten an den Völkermord, um sich als Befreier*innen inszenieren zu können. Nach ihrem Abzug 1989 bis 1990 wurden die Gedenkstätten lange nicht mehr gepflegt. In den vergangenen Jahren wurden sie nun von westlichen NGOs renoviert und gehören zu den meist besuchten Tourist*innen-Attraktionen. Die kambodschanische Bevölkerung geht eher davon aus, dass es sich um Einrichtungen für westliche Tourist*innen handelt – während diese davon ausgehen, dass es sich um Orte handele, die den Kambodschaner*innen besonders am Herzen liegen.
 


Hanno Schedler ist Referent im Bereich „Völkermordprävention und Schutzverantwortung“ bei der Gesellschaft für bedrohte Völker.



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