Vor dem Besuchereingang des UN-Hauptquartiers in New York steht diese Skulptur des Künstlers Arnaldo Pomodoro. Foto: Manuel Elias/UN Photo.

Dolkun Isa, ein Vertreter der Uiguren, sollte im UN-Hauptquartier in New York vor den Vertreterinnen und Vertretern der UN-Mitgliedsstaaten sprechen. Unsere Autorin hat ihn begleitet – und wusste zu Beginn noch nicht, dass sie sich im UN-Gebäude mit China anlegen würde.

Von Eliane Fernandes Ferreira

Im April 2019 reiste ich nach New York, um im Hauptquartier der Vereinten Nationen (UN) an der „18th Session of the United Nations Permanent Forum on Indigenous Issues“ (UNPFII) (dt.: 18. Sitzung des Permanenten Forums für indigene Angelegenheiten der Vereinten Nationen) teilzunehmen. Sie fand vom 22. April bis zum 3. Mai statt. Als Beobachterin der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) begleite ich seit einigen Jahren indigene Vertreterinnen und Vertreter aus Brasilien. Das Permanente Forum ist immer ein interessantes Treffen für Menschen wie mich, die sich ehrenamtlich für Menschenrechte engagieren. Dort traf ich unter anderem die indigene Politikerin Sônia Guajajara, den Menschenrechtsaktivisten Beto Marubo und meine langjährigen Freunde Benki Piyãko vom Volk der Ashaninka sowie Lucas Manchineri vom Manchineri-Volk.

In meiner zweiten Woche in New York erhielt ich eine Nachricht von Ulrich Delius, dem Direktor der Gesellschaft für bedrohte Völker. Er bat mich, den Vertreter der Uiguren, Dolkun Isa, zum Permanenten Forum zu begleiten. Als Brasilien-Expertin hatte ich bis dahin nie direkt mit der Thematik der Uiguren zu tun – obwohl ich von ihnen bereits durch das langjährige Engagement der GfbV für diese Minderheit gehört und Isa sogar schon bei verschiedenen Jahreshauptversammlungen der GfbV in Göttingen gesehen hatte. Natürlich sagte ich Ulrich Delius meine Unterstützung zu. Allerdings kannte ich da noch nicht den ganzen Hintergrund der Geschichte der Uiguren in China und was in den vergangenen Jahren im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York unter dem Einfluss Chinas geschehen war.

Allen chinesischen Bemühungen zum Trotz kann Dolkun Isa seinen Redebeitrag zur Lage der Uiguren bei der 18. Sitzung des Permanenten Forums leisten. Foto: Eliane Fernandes Ferreira/GfbV

Der letzte Platz auf der Liste

Hanno Schedler, Referent bei der GfbV und unter anderem verantwortlich für die Koordination der UN-Arbeit der Menschenrechtsorganisation, bat mich zu versuchen, Isa für den 1. Mai 2019 als Redner im Plenarsaal des Permanenten Forums anzumelden. Gleich informierte ich mich über diese Möglichkeit und erhielt die Antwort, dass nur die Person selbst, die zu sprechen beabsichtige, sich anmelden könne. Ich hielt fest an meiner Aufgabe und erklärte den Mitarbeiterinnen der Vereinten Nationen die Situation. Sie schlugen vor, dass ich meinen eigenen Namen als Rednerin anmelden solle. Am 1. Mai würden wir dann zusammen versuchen, meinen Namen durch Isas als Redner zu ersetzen. Ich akzeptierte den Vorschlag und gab meinen Namen für den letzten Platz auf der Liste des Plenums an.

Mit einem Platz auf der Rednerliste erhalten Vertreterinnen und Vertreter von indigenen Völkern und Minderheiten die Erlaubnis, einen dreiminütigen Redebeitrag im Plenarsaal zu halten: Diese drei Minuten sind für sie alle die Möglichkeit, vor dem Vorstand des Forums für indigene Völker über ihre Lage zu berichten. Vertreterinnen und Vertreter der UN-Mitgliedsstaaten sind ebenfalls anwesend. Sie haben die Chance, auf die Aussagen der indigenen Vertreterinnen und Vertreter zu reagieren, um diesen zum Beispiel zu widersprechen und zu sagen, dass ihre Regierungen sehr wohl die Rechte indigener Völker und Minderheiten in ihren jeweiligen Ländern respektieren würden.

Bei den Indigenen Brasiliens geschah dies, als die meisten indigenen Vertreterinnen und Vertreter in der zweiten Woche des Permanenten Forums bereits zurück nach Brasilien geflogen waren. Der damalige Präsident der brasilianischen Indigenen-Behörde FUNAI (Fundação Nacional do Índio), General Franklimberg Ribeiro de Freitas, sagte, dass die Regierung Brasiliens sich in den vergangenen Jahren darum bemüht habe, die Rechte der Indigenen Brasiliens zu respektieren, und Projekte für deren Stärkung und Schutz unterstütze. Das stimmt nicht, wie ich von Indigenen in Brasilien und meinen eigenen Recherchen vor Ort weiß. Doch wenn sich Brasilien schon so positioniert, wie würde dann China erst reagieren, wenn wir als GfbV erreichen würden, dass Dolkun Isa die Chance bekäme, am letzten Tag der Plenarsitzung über die Lage der Uiguren in China zu sprechen?

Dolkun Isa

Dolkun Isa ist ein Vertreter der Uiguren und Präsident des Weltkongresses der Uiguren. Seit seiner Jugend setzt er sich für die Rechte seines Volkes ein. Er floh 1994 aus China nach Europa. Seit 2006 besitzt Isa die deutsche Staatsbürgerschaft. Er ist Mitglied der Gesellschaft für bedrohte Völker. 2017 reiste Dolkun Isa nach New York und nahm als GfbV-Vertreter am Permanenten Forum für Indigene Angelegenheiten teil. Durch den Druck der chinesischen Regierung wurde er jedoch nach wenigen Tagen vom Forum ausgeschlossen und musste das UN-Gelände verlassen. Bis heute hat es keine offizielle Begründung für seinen Ausschluss gegeben. Im darauffolgenden Jahr konnte er an dem Forum teilnehmen, nachdem sich westliche Staaten für ihn eingesetzt hatten.

Dolkun Isa in New York

Am 28. April kam Dolkun Isa dann nach New York. Ich war von der GfbV in Göttingen über alles informiert und wusste, was meine Aufgaben sein würden. Dolkun und ich kommunizierten miteinander über eine sichere App, die ich auf mein Handy herunterladen musste. Wir verabredeten uns, um ihn am nächsten Morgen zu akkreditieren. Ich war total gespannt, da ich nicht genau wusste, was auf uns zukommen würde. Noch war mir auch die ganze Lage und ihre Ernsthaftigkeit nicht völlig bewusst. Ich dachte, ich würde Dolkun begleiten, wie ich eben die brasilianischen Indigenen immer begleite – das heißt meistens problemlos. Ich hatte nicht mit China gerechnet.

Als wir am nächsten Morgen vor dem UN-Anmeldebüro standen, wurde ich immer nervöser. Ich fing an, alle zu beobachten, die um uns herum standen. Alle, die asiatisch aussahen, hielt ich für potenzielle chinesische Spione. Ich versuchte, in meinem Kopf nicht alles so hochzuspielen. Irgendwie behielt ich die Ruhe und ging mit Dolkun in das Gebäude. Schon während wir gespannt in der Warteschlange standen, wurde Dolkun Isa von einem UN-Polizisten aus der Reihe gezogen. Er bat Dolkun, ihm zu folgen – was auch ich ungefragt tat. Der Polizist lotste Dolkun in einen kleinen Raum. Mich bat er, draußen zu warten. Ich antwortete, dass ich Dolkuns Begleitung sei. Trotzdem musste ich draußen bleiben. Meine Präsenz im Raum war unerwünscht.

Ich war sehr neugierig und hatte Angst, dass Dolkun Isa seine Anmeldung nicht gestattet würde. Nach fünf Minuten kam Dolkun aus dem Raum heraus. Er hatte eine etwas erleichterte Mine aufgesetzt. Aber ich sah in seinem Gesicht noch die Unterdrückung, die er seit vielen Jahren erleben muss. Ich, als nicht-indigene Frau, bekam einen Eindruck, wie erniedrigend es sich anfühlt, einer Minderheit anzugehören. Mein Adrenalinspiegel und mit Sicherheit auch der von Dolkun waren sehr hoch.

Ich fragte Dolkun, was im Raum geschehen war. Er berichtete mir mit leiser, unterdrückter Stimme, dass er einen Vertrag unterschreiben musste. Mit diesem verpflichtete er sich, dass er als GfbV-Beobachter an dem Permanenten Forum und nicht als Präsident des Weltkongresses der Uiguren teilnehmen würde. Wenn er sich als solcher äußern würde, würde er erneut aus dem UN-Hauptquartier und aus dem Forum ausgeschlossen werden. Wir gingen erneut zu der Schlange für die Anmeldungen und Dolkun erhielt endlich seine Akkreditierung für das Permanente Forum. Erst dann fühlten wir uns erleichtert. Unser erster kleiner Sieg.

Ein Selfie gleich nach der Akkreditierung. Der erste Sieg! Foto: Eliane Fernandes Ferreira/GfbV

Nächste Station: UN-Hauptquartier

Direkt danach gingen wir zu Fuß Richtung UN-Hauptquartier an der 1st Avenue in New York City.  Innerlich feierten wir diesen ersten Sieg und hielten den Augenblick mit meinem Handy fest, indem wir ein Selfie (ein Foto-Selbstporträt; Anm. d. Red.) an Ulrich Delius und Hanno Schedler in Göttingen schickten. Die erste Etappe war geschafft!!!

Wir betraten das Hauptquartier der Vereinten Nationen. Bei der Kontrolle gab es keine Probleme. Aber sobald wir im Gebäude waren, merkten wir, dass chinesische Gesandte bereits mitbekamen, dass Dolkun Isa anwesend war. Schnell ruhten Blicke auf uns und Vertreter aus China folgten uns dezent, aber nicht unbemerkt. Dolkun bestätigte mir, was ich bemerkt hatte. Er zeigte mir, welche unserer Verfolger er bereits kannte. Nach jahrzehntelangen Einschüchterungsversuchen seitens der chinesischen Regierung ist Dolkun die Blicke und die Anwesenheit von Regierungsvertretern gewöhnt. Ich entschied mich, als seine Verstärkung nicht von seiner Seite zu weichen. Ich stellte ihm einige Personen aus dem Vorstand des Permanenten Forums vor, um über sein Anliegen zu berichten. Ich dachte, das wäre auch gut, falls China versuchen würde, seinen Namen von der Liste der Redner zu streichen – welchen wir noch immer mit meinem austauschen mussten.

Glücklicherweise erhielt Dolkun die Unterstützung Deutschlands und anderer Länder wie den USA, Italien, Norwegen und einigen mehr. Der deutsche Botschafter Christoph Heusgen lud Dolkun für den Nachmittag in die Botschaft ein. Viele weitere Vertreter anderer Staaten folgten seinem Beispiel, um von Dolkun mehr über die Lage der Uiguren zu erfahren. Die diplomatischen Vertreterinnen und Vertreter hörten ihm alle aufmerksam zu. Ebenso überlegten sie, was sie machen könnten, um Dolkun Isa beim Permanenten Forum zu unterstützen, falls China gegen ihn aussagen würde. Diese Reaktionen gaben uns mehr Sicherheit und ein gewisses Gefühl von Gerechtigkeit. Ich freute mich für Dolkun, dass er so viel Aufmerksamkeit von den diplomatischen Vertreterinnen und Vertretern erhielt. Dies machte die Sache um einiges besser.

Der entscheidende Tag

Am 1. Mai konnten wir Dolkun Isas Namen für die letzte Plenarsitzung gegen meinen auf der Rednerliste austauschen. Ein großer Erfolg für uns! Wir stellten fest, dass die chinesischen Regierungsvertreterinnen und -vertreter im Plenarsaal sehr angespannt waren – wahrscheinlich wegen der Anwesenheit von Dolkun. Sie schienen eine Strategie auszuarbeiten und berieten sich die ganze Zeit über. Einmal sah ich, dass einer der Vertreter aufstand und zu der Wand lief, wo die Rednerliste hing, auf der Dolkuns Name stand. Ich stand schnell auf und positionierte mich neben ihm. Ich wollte zeigen: Dolkun Isa ist nicht allein. Auch waren Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Botschaft und der US-Regierung anwesend, um Dolkun zur Seite zu stehen.

Es war eine nervenaufreibende Situation. Durch die direkte und sichtbare Verfolgung erlebte ich politische Unterdrückung hautnah mit – eine erschreckende und traurige Erkenntnis. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas innerhalb des UN-Hauptquartiers möglich wäre.

Dolkun war natürlich angespannt. Er hatte jetzt die Möglichkeit, beim Permanenten Forum über die Verfolgung der Uiguren und die schweren Menschenrechtsverletzungen seitens Chinas zu sprechen. Nach einigen Redebeiträgen von anderen indigenen Vertreterinnen und Vertretern war seine Zeit endlich gekommen: In den drei Minuten legte er Chinas Vorgehen dar, sein Volk in „Umerziehungslagern“ gefangen zu halten. Er erzählte, wie seine Mutter in einem dieser Lager starb und er den Kontakt mit etlichen Familienangehörigen wie seinem Vater und Bruder verloren habe.

Infobox

Videolink zu der Sitzung am 1. Mai 2019 (Redebeitrag Dolkun bei 1:28:48; Abgeordneter China: 1:35:33; Abgeordnete USA: 1:40:35; Abgeordneter Deutschland: 1:48:55)

Rund um das Permanente Forum erhalten die Indigenen viel Aufmerksamkeit. Im Bild: Sônia Guajajara gibt Interviews für die Presse in New York. Foto: Eliane Fernandes Ferreira/ GfbV

Ich merkte, dass im Saal die Anspannung bei allen Anwesenden wuchs. Jeder wusste, was es heißt, die chinesische Politik zu kritisieren. Ich filmte Dolkuns ganze Rede. Sie ist auch online auf der Webseite der UN zu sehen. Nachdem er fertig war, schauten wir uns an und ohne etwas zu sagen, drückten wir uns die Hände. Wir hatten das Gefühl, eine Mission erfüllt zu haben. Gleich danach musste ich zum Flughafen, um meinen Rückflug nach Deutschland nicht zu verpassen. Ich verabschiedete mich von Dolkun mit der Angst, dass China doch noch irgendetwas gegen ihn unternehmen würde.

Ich verließ den Saal. Vor lauter Anspannung hatte ich Tränen in den Augen. Im Taxi erhielt ich einen Anruf von meinem Freund Lucas Manchineri, der noch beim Permanenten Forum war. Er erzählte mir, dass China nach Dolkuns Rede ums Wort bat: Der Vertreter Chinas würdigte Dolkun als Terroristen herab. Dolkun war aber nicht allein. Gleich darauf baten Deutschland und die USA um Redebeiträge. Sie verteidigten Dolkun und sagten vor dem ganzen Plenarsaal, dass Dolkun als Vertreter der Uiguren das Recht habe, innerhalb der Vereinten Nationen über die Lage seines Volkes zu sprechen. China dürfe dieses Recht nicht unterdrücken. Als deutscher Staatsbürger werde Dolkun außerdem sowohl in Deutschland als auch in den USA respektiert. Die Unterstellung des Terrorismus sei haltlos. So schaffte es Dolkun Isa trotz aller Unterdrückung und Verfolgung, seine Botschaft und seine Anklage den Anwesenden beim Permanenten Forum der Indigenen Völker vorzustellen.

[Nachtrag der Redaktion]

Im Januar 2020 wurde bekannt, dass auch Dolkuns Vater verstorben ist – vermutlich in einem der mehr als 1.200 Umerziehungslager in China.


Eliane Fernandes Ferreira ist Ethnologin und Brasilien-Koordinatorin der Gesellschaft für bedrohte Völker. Stets ist sie mit indigenen Vertreterinnen und Vertretern in Kontakt und selbst auch immer wieder vor Ort.



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