Am Rande des 42. UN-Menschenrechtsrates sprechen wir mit Willie Littlechild. Foto: Hanno Schedler/GfbV

2019 haben die Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der indigenen Sprachen ausgerufen. Nun steht fest: Es folgt eine Dekade. Denn um indigene Sprachen wirksam zu schützen, braucht es mehr Zeit. So kann das Jahr 2019 als ein gelungener Auftakt gelten. Die Dekade verspricht die Chance, Sprachen- und Bildungsrechte langfristig in nationale Gesetze zu implementieren.

 

Von Regina Sonk

Wir sitzen am Rande der 42. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates in Genf mit Willie Littlechild zusammen. Es ist der 18. September 2019. Gerade ist eine halbtägige Sondersitzung des Rates zu indigenen Sprachen zu Ende gegangen. „Wir“, das sind mein Kollege Hanno Schedler und ich von der Gesellschaft für bedrohte Völker. Wir dürfen Willie noch einige Fragen stellen, obwohl er schon seit 9 Uhr morgens in diesem Saal sitzt. Willie ist Ende 70 und hat sich vor einigen Wochen das Bein gebrochen. Er geht an Krücken. Trotzdem hat er nicht den Weg aus Kanada ins schweizerische Genf gescheut, um an diesem Tag vor dem UN-Menschenrechtsrat zu sprechen.

Willie Littlechild ist kanadischer Cree. Seit langem setzt er sich für indigene Sprachen ein. „Ich hörte hier in diesem Saal eine Sprache sterben. Eine indigene Sprache. Ein alter Mann sagte: ‚Hört mir sehr genau zu, hört auf den Klang meiner Stimme, denn ich bin die letzte Person, die diese Sprache spricht.' Kurz darauf starb er.“

Willie selbst durchlebte in seiner Jugend das kanadische Internatssystem, in dem tausende indigene Kinder von ihren Familien getrennt wurden. Er erzählt uns, wie schwer und traumatisierend diese Jahre waren. Die eigene Kleidung zu tragen, die eigene Sprache zu sprechen – alles wurde bestraft. Die indigene Identität wurde den jungen Indigenen verboten und genommen. Sport habe ihm damals geholfen, durch diese Zeit zu kommen.

UN-Sonderberichterstatterin für die Rechte indigener Völker Victoria Tauli-Corpuz. Foto: Mark Garten/UN Photo

Viele Jahre später, während der Sitzungen der kanadischen Wahrheit- und Versöhnungskommission (original: Truth and Reconcilation Commission of Canada) hört er zu hundertfach seine eigene Geschichte. „Es war persönlich sehr schwer für mich, mehr als sechs Jahre jeden Tag die Wahrheit über das zu hören, was in Kanada mit unseren Sprachen und Kulturen passiert ist. (…) Aber der Schmerz war es wert, jetzt wo ich sehe, was passiert ist. (…) Das ist ermutigend.“ Die Kommission wurde gegründet, um die Geschichte und die dauerhaften Auswirkungen des Schulsystems zu dokumentieren. Es bot den Betroffenen die Möglichkeit, ihre Erfahrungen bei öffentlichen Anhörungen zu erzählen.

„Es ist deswegen eine sehr heilende Erfahrung, wenn Indigene auf einer Bühne wie dieser hier [beim UN-Menschenrechtsrat; Anm. d. Red.] ihre Sprache sprechen können. Es gibt Ihnen Kraft und Stolz für Ihre Identität. Es ist wichtig, dass Kinder und Jugendliche wissen, wer sie sind.“

Warum braucht es das Indigene Sprachenjahr 2019?

Weltweit droht ein Großteil der indigenen Sprachen zu verschwinden. Aus diesem Grund riefen die Vereinten Nationen das Jahr 2019 zum internationalen Jahr der indigenen Sprachen (International Year of Indigenous Languages, IYIL) aus. Eine Vielzahl von Forschungsarbeiten und Konferenzen rückte das Thema in die Öffentlichkeit. Nun hinterlässt es die Frage, was dieses Jahr für indigene Sprecher*innen leisten konnte. Was bleibt?

Die Leitlinie „Sichtbarmachen, Fördern und Schutz“ indigener Sprachen wurde schon bei der feierlichen Eröffnung des IYIL im Januar 2019 angezweifelt. Statt der direkten Förderung und Stärkung Indigener selbst, sah es danach aus, als stünde eher die Dokumentation von Sprachen im Vordergrund.

Yalitza Aparicio, UNESCO Botschafterin des IYIL (und Hauptdarstellerin im 2019 Oscar prämierten Film „Roma“). Foto: Rick Bajornas/ UN Photo

Laut der UN-Sonderberichterstatterin für die Rechte indigener Völker, Victoria Tauli-Corpuz, liege das Hauptproblem für den Schutz indigener Sprachen im fehlenden politischen Willen der jeweiligen Regierungen. Weder würden sie Indigene unterstützen, noch seien sie gewillt, innerhalb ihrer Grenzen die indigene Kultur oder Sprache in Schulen zu integrieren.

„Das Problem sehe ich darin, dass viele Regierungen erzwingen wollen, dass nur die eine nationale Sprache gesprochen wird und nur die eine nationale Kultur existiert. Aber das ist Unsinn. Alle Länder haben verschiedene Kulturen und Sprachen. Allein in meinem Land [den Philippinen; Anm. d. Red.] gibt es 160 Sprachen. Es ist sehr wichtig, diesen Menschen begreiflich zu machen, wie wichtig es ist, diese linguistische Vielfalt zu erhalten. Das liegt im Interesse der ganzen Welt.“, erklärte Victoria Tauli-Corpuz in einem Interview mit dem Direktor der Gesellschaft für bedrohte Völker im November 2019. (Das ganze Interview finden Sie in der Ausgabe 6/2019 von bedrohte Völker – pogrom ab Seite 60; Anm. d. Red.)

Was hat das Jahr gebracht?

Das Konzept dieses Internationalen Jahres ließ erst nicht darauf hoffen, dass Staaten in die Verantwortung gezogen würden. Das IYIL bestand vor allem aus Öffentlichkeitsarbeit – etwa in den sozialen Netzwerken im Internet – und fast 900 Veranstaltungen, Konferenzen, Ausstellungen und künstlerischen Darbietungen. Diese wurden jedoch fast komplett von Dritten durchgeführt, also nicht von der UNESCO, der UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur, die mit der Organisation des IYIL betraut gewesen war. Eigene Projekte beschränkten sich auf einen Alphabetisierungspreis, einen „UNESCO Weltatlas der Sprachen“ (Originaltitel: UNESCO World Atlas of Languages), sowie einen „Bericht über die Sprachen der Welt“ mit besonderem Fokus auf indigene Sprachen (Originaltitel: Global Report on World Languages).

Der Kritik am Sprachenjahr kann jedoch teilweise widersprochen werden. Neben den vordergründig sichtbaren Jahresaktivitäten, die in der Tat maßgeblich den akademischen Bereich und die breite Öffentlichkeit betrafen, gab es eine Reihe von Regionalkonferenzen mit und für indigene Organisationen. Hier im Hintergrund vollzog sich die politische Arbeit des IYIL. Die UNESCO organisierte internationale und regionale Treffen, an denen Vertreter*innen der UN-Mitgliedsstaaten, indigene Völker und Organisationen der Vereinten Nationen teilnahmen. Diese Konsultationskonferenzen wurden auf allen Kontinenten durchgeführt. Hinzu kamen hochrangige UN-Veranstaltungen wie die halbtägige Sondersitzung am 18. September beim Menschenrechtsrat in Genf. Hier forderten der Expertenmechanismus für die Rechte indigener Völker und die UN-Sonderberichterstatterin Tauli-Corpuz, sprachliche Rechte von Indigenen gesetzlich zu stärken.

Kurz vor der Sitzung des Menschenrechtsrates organisierte die GfbV einen Side Event, bei dem Indigene über die Lage ihrer Sprachen berichteten. Im Bild: die kanadische Indigene Valerie Bellegarde, eine lautstarke Advokatin indigener Sprachen bei den UN. Foto: Regina Sonk/GfbV

Was angestoßen wurde, kann nicht mehr ins Leere laufen. Schon von Beginn an wurde die Idee einer Dekade indigener Sprachen stetig in Diskussionen eingebracht – besonders von Aktivist*innen wie Willie Littlechild. In seinen beiden mündlichen Stellungnamen vor dem Menschenrechtsrat forderte er ein Jahrzehnt der indigenen Sprachen. Viele Schlüsselakteure wie Mitgliedsstaaten, UN-Gremien und auch die Europäische Union unterstützten diesen Vorstoß. Am 18. Dezember 2019, einen Tag nach der Abschlusszeremonie des Internationalen Sprachenjahres, wurde diese Dekade von der UN-Generalversammlung schließlich ausgerufen. Die Dekade kommt zwischen den Jahren 2022 bis 2032 und darf ab sofort von der UNESCO vorbereitet werden.


Die Dekade kommt

Das IYIL kann demnach als gelungener Auftakt gelten. Nun muss die folgende Dekade der indigenen Sprachen genutzt werden, um Indigene und ihre Sprachen rechtlich zu stärken. Trotz eines erfolgreichen Jahres stehen viele indigene Völker auch weiterhin vor der existenziellen Herausforderung, ihre eigenen Sprachen zu schützen. Denn Sprachenrechte sind Bildungsrechte. Das heißt, indigene Sprachen müssen in einem langfristigen Prozess aufgewertet und in ein bereits etabliertes Bildungssystem integriert werden. Yalitza Aparicio, Botschafterin des Sprachenjahres, sagte dazu bei der Abschlusszeremonie in New York: „Wir müssen einen Weg finden, diese Sprachen in die Schulsysteme einzubeziehen (…), weil Unwissenheit immer zu Diskriminierung führt. Wir verurteilen, was wir nicht kennen.“

Das Sprachenjahr 2019 hat erreicht, dass sich zentrale Akteur*innen endlich an einen Tisch gesetzt haben. Und, dass auf diese wichtige Grundlage nun aufgebaut werden kann. Eine Dekade bietet viel Zeit und die UNESCO hat schon jetzt angekündigt, die Umsetzung von bindenden Gesetzen zu ihrer Priorität zu machen. Diesen Prozess will die UNESCO beobachten und begleiten, um sicherzustellen, dass handfeste Ergebnisse für Indigene geschaffen werden.


Regina Sonk ist Referentin für indigene Völker bei der Gesellschaft für bedrohte Völker.



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