Schon als Kinder und Jugendliche müssen Haratin hart arbeiten. Foto: UN Photo/Jean Pierre Laffont

Sklavenhändler raubten Menschen in Afrika und verkauften sie als Sklaven unter anderem in Mauretanien. Die arabischen Herrscher zwangen ihren schwarzen Sklaven ihre Kultur auf; schwarze und arabische Kulturen vermischten sich. Doch die Haratin, obwohl bis heute versklavt, wahrten ihre Gesänge und Tänze.

 

Von Abidine Ould-Merzough

Im westafrikanischen Land Mauretanien besteht die traditionelle Sklaverei bis heute fort. Sie betrifft in erster Linie die Bevölkerungsgruppe der Haratin: die schwarzen Nachkommen von Sklaven und ehemaligen Sklaven. In Mauretanien herrscht ein Kastensystem, das den unterdrückten Schichten und Ethnien das Leben erschwert. Die Haratin leiden unter einer rassistischen Stigmatisierung, die alle ihre menschlichen Ausdrucksformen im Leben beeinträchtigt.

Zwischen 1500 und 1900 kamen arabische Invasoren aus dem Orient und aus dem Norden Afrikas, um Handel mit Waren und Menschen zu betreiben. Schwarze wurden bei Überfällen gefangen genommen und landeten in der Sklaverei. Bis zu 17 Millionen Menschen wurden geraubt, um sie auf Sklavenmärkten zu verkaufen.

Das Land Mauretanien verbindet Afrika südlich der Sahara und Nord-Afrika. Es war immer ein Land der Begegnungen und der Verschmelzung von Kulturen – obwohl letzteres oft nur mit Gewalt durch Konflikte zwischen arabo-berberischen Invasoren und Schwarz-Afrikanern und durch Überfällen auf afrikanische Dörfer geschehen konnte. Dabei entstanden neue Formen von Geselligkeit, die eine hybride Kultur hervorbrachte, deren Reichtum nach wie vor wenig bekannt ist.

Schwarze wurden in die arabische Kultur assimiliert. Für gewöhnlich nahmen versklavte Menschen die Sprache und die Kultur ihrer Herren an – doch die Haratin bewahrten charakteristische Merkmale ihrer Kulturen bei, die tief in ihrer Seele verankert sind und sich etwa in ihrem musikalischen Genre niederschlägt – vergleichbar mit „Gospels“ in der schwarzamerikanischen Gesellschaft.

Die Bedeutung von Gesängen für ein Volk ist groß, spiegeln sie doch die Geschichte eines Volkes wider. Man lernt über die Menschen, indem man ihre Lieder hört, mehr als auf irgendeine andere Weise. In den Liedern drücken sie alle Erfahrungen, alle Wunden, alle Wut und alle Ängste aus, aber auch alle Hoffnungen, Bedürfnisse und Bestrebungen nach Freiheit und Selbständigkeit.

Foto: Wikipedia, gemeinfrei; Bearbeitung: Alexander Becker

Eine geerbte Kultur überlebt die Sklaverei

Egal, ob es um Haratin in Mauretanien, in Mali oder in der Westsahara ging: Haratin-Angehörige fanden überall die gleichen Tänze, gleichen Melodien, gleichen Spiele und sogar die gleichen Lieder vor. Die Haratin waren bekannt für ihre exzessiven Feiern bei religiösen Festen und Hochzeiten. Wurde in einer Gemeinschaft geheiratet, so war das eine willkommene Gelegenheit für die benachbarten Edebay (lokale Bezeichnung für ein Sklaven-Dorf; Anm. d. Autors) mitzufeiern – egal ob sie eingeladen waren oder nicht. Entfernung und Stammesangehörigkeit spielten dabei keine Rolle. Bei solchen Festen entstanden Freundschaften und Beziehungen, die über Jahre hielten. Dabei konnten Wettbewerbe zwischen den Gemeinschaften entstehen, da jeder das schönste und beste Fest ausrichten wollte.

Zwei musikalische Manifestationen vermitteln die Besonderheiten der Haratin-Kultur: Der Gesang Elmdeh (Lobpreis) und der Tanz Redh sind eine Inspiration aus den schwarzafrikanischen und den arabisch-muslimischen Kulturen. Sie spielen heute noch eine große Rolle im Leben der Haratin-Gemeinschaft in Mauretanien.

Der Elmedh zeichnet sich durch einen starken religiösen Akzent aus, bei dem wenig getanzt wird. Der Inhalt der Lieder ist islamisch inspiriert. Sie sind dem Lob des Propheten Mohammed und seinen Botschaften gewidmet. Deswegen wird Elmedh in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, dem heiligen Tag im muslimischen Wochenkalender, gesungen. Wer die abendlichen Treffen mit seinen religiösen Liedern besucht, tut dies zur Ehrung und Lobpreisung von Allah und seinem Propheten.

Der Redh ist ein Ausdruck des Widerstands gegen die Unterdrückung: Gesang, der Klang der Flöte (Neyfaare), der Rhythmus der Trommeln und der Tanz lassen die Unterdrückung vergessen. Redh ist eine Flucht aus einem harten Alltag, ein Ablehnungsausdruck der Sklaverei, aber auch eine momentane Befreiung.

Der Redh-Tanz hat heidnische Ursprünge, die in die Musik und Philosophie der Haratin eingeflossen sind. Mehrere Instrumente werden für die musikalische Begleitung des Tanzes verwendet. Die Flöte (Neyfaare) stellt zu Beginn des Tanzes den einleitenden Klang und den seelischen Aufruf dar. Ihr folgt ein melodiöser Gesang. Die Tbal (Trommel) fehlt bei keiner Gelegenheit und wird mit Händeklatschen begleitet. Beim Redh werden häufig in tänzerischer Form Kampfsituationen mit Hilfe von Holzstäben (Debous) oder Luftgewehren (Leghmas) dargestellt.

Die bekannten Musikinstrumente der Haratin sind Tbal (Trommel), Neyfaare (Flöte), Zaouzaya (kleine Musikflöte, die mit maximal vier Fingern gespielt wird), Erbab (eine Laute mit nur einer Saite), Zagaary (ein Musikbogen mit einer Saite) und Tidint (eine Art Gitarre mit drei Saiten). Es gibt auch Debous (Holzstäbe) und Leghmas (Luftgewehre), die die Haratin bei tänzerischer Kampfsimulation verwenden.

 

Schutz der Kultur heute

Heute gibt der Staat Mauretanien mit der Unterstützung der UNESCO viel Geld aus, um kulturelles Erbe zu bewahren. Tatsächlich wird jedoch nur die maurische Kultur gefördert. Die Haratin und Schwarz-Afrikaner werden sowohl von privaten und institutionellen Veranstaltern sowie auch von den staatlichen Behörden von finanzieller Unterstützung ausgeschlossen. In den Landesmedien sucht man vergeblich nach Sendungen, die die Haratin-Kultur in ihre Programme aufnehmen. In den Augen der Medienmacher ist die Kultur der Haratin niederwertig. Sie schenken ihr keine Beachtung.

Es gibt kaum Dokumentationsquellen, die Themen schwarzer Kulturen behandeln. Forschern stehen nur unzureichende Ressourcen zur Verfügung. In der vergangenen Zeit haben nur wenige mauretanische Intellektuelle auf eigener Initiativen hin Versuche unternommen, das Thema „Haratin-Kultur“ zu behandeln. Eine Ausnahme bildet die erfolgreiche Initiative von Mohamed Ali Bilal, Gründer des Teranim Zentrums (Centre Teranim pour les arts populaires traditionnels; dt. etwa: Teranim Zentrum für traditionelle Volkskunst), der regelmäßig Elmedh-Veranstaltungen organisiert, die durch Privatspenden finanziert werden.

Des Weiteren haben Haratin-Intellektuelle Bücher oder Essays publiziert, die ausschließlich der Haratin-Geschichte gewidmet sind. Im Moment wird ein neues Buch mit dem Titel „Reinigungen und Schicksale“ erwartet, in dem der Autor, Ahmed Mohamed Lemine, die Kultur und Gebräuche der Haratin ausführlich beschreibt. Vor einem Jahr hatte ein Offizier, Oberstleutnant Sidi Bilal SIDI, ein Buch mit dem Titel „Mauritanie la racine“ (dt.: Mauretanien der Ursprung) veröffentlicht, in dem er die Geschichte hinsichtlich der gesellschaftlichen Strukturen und die Ausgrenzung der Haratin beleuchtet. Dies hatte für ihn die Suspendierung vom Dienst zur Folge. Ein Junger Aktivist namens Elhacen Messaoud hat im Jahr 2019 ein Buch mit dem Titel „Zurück zu sich selbst“ veröffentlicht. Es hat ein großes Interesse in der Haratin-Jugend ausgelöst, weil es sich mit Wiederfindungsfragen zur Haratin-Identität auseinandersetzt.


Abidine Ould-Merzough ist Ehrenmitglied und aktuelles Vorstandsmitglied der Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker, Koordinator der mauretanischen NGO Sahel Fondation (http://www.sahelfondation.org/) und ehemaliger Europa-Koordinator der Initiative zur Abschaffung der Sklaverei (IRA-Mauritanie).

 

Haratin-Gesänge und Tänze



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