Die Autorin (links) und zwei Mitstreiterinnen auf einer Demonstration in Wien. Foto: Verónica Yuquilema Yupangui

Als Indigene in Ecuador aufzuwachsen, ist auch heute nicht einfach. Unsichtbare Grenzen durchziehen die noch immer kolonial geprägte Gesellschaft. Sich mit vererbtem und erfahrenem Rassismus auseinanderzusetzen, benötigt Kraft. Es ist ein Prozess der Dekolonisierung, um sich von kolonialen Grenzen zu lösen und die eigene Identität lieben zu lernen.

 

Von Verónica Yuquilema Yupangui

Ich kann mich selbst nicht erinnern – aber meine Mutter erzählte mir, wie ich als fünfjähriges Mädchen eines Tages weinend nach Hause kam. Ein Mädchen in der Schule hatte mich aufgrund meiner Kleidung „INDIA SUCIA“ (dt. etwa: schmutzige Indianerin) genannt. Ich fragte meine Mutter, warum ich wie alle Indigenen meiner Gemeinschaft ein Blusenkleid und einen Wickelrock aus Wolle, einen sogenannten Anaku, tragen musste, anstatt wie die anderen Mädchen in der Schule gekleidet zu sein.

Ich bin eine Kichwa Puruwa. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Stadt Riobamba in Ecuador. Mit meiner Geschichte möchte ich die Realität und die verschiedenen Nuancen darstellen, die viele Menschen mit einer Herkunft wie der meinen in ihrem Alltag erfahren und mit der sie leben müssen. Denn im Alter von fünf Jahren bereits zu erfahren und zu verstehen, was Rassismus bedeutet, ist eine unmenschliche Aufgabe für ein Kind.

Wir Runakuna[1] sind von klein auf gezwungen worden, täglich gegen diesen Rassismus zu kämpfen. Doch damit nicht genug. Auch gegen den Kapitalismus und das Heteropatriarchat müssen wir uns täglich behaupten. Denn die Kolonisierung Südamerikas vor mehr als 300 Jahren brachte Verarmung durch die Dominanz des heterosexuellen bürgerlichen weißen Mannes mit sich. Noch immer spüren wir die Auswirkungen dieser jahrhundertelangen Unterdrückung. Uns dagegen zu wehren, ist ein Kampf und stetiger Widerstand, den wir von unseren Großeltern geerbt haben. Wir führen ihn mit großem Stolz weiter. Dabei ist es notwendig zu erkennen, in welcher Art und Weise unsere Körper innerhalb dieser kolonialen Grenzen leben, die so sehr in der ecuadorianischen Gesellschaft verwurzelt sind.

Foto: Wikipedia gemeinfrei; Bearbeitung: Alexander Becker

Für uns gehört der Kolonialismus nicht der Vergangenheit an. Für uns ist der Kolonialismus nichts, was vor mehr als 500 Jahren stattgefunden und mit der Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert aufgehört hat. Nein. Der Kolonialismus kommt in einer seiner höchsten Formen, dem Rassismus, täglich zum Ausdruck und ist weiterhin fest in den Strukturen der ecuadorianischen Gesellschaft verankert.

Durch die Kirche, neue Gesetze und Gewalt wurde der Kolonialismus in Form der widerrechtlichen Unterdrückung unseres Volkes legitimiert. Heute ist diese eurozentrische Tradition lebendiger denn je und obwohl diese strukturellen Mauern innerhalb der Nationalstaaten vermeintlich überwunden wurden und verborgen sind, existieren sie doch.

Der einzige Unterschied zwischen der physischen, sexuellen und psychologischen Gewalt, der meine Großeltern und Eltern ausgesetzt waren, und der Gewalt, die wir heute erleben, ist, dass sie sich nicht mehr so offensichtlich frontal und brutal äußert. Ohne Zweifel kann ich sagen, dass die heutige Art von Gewalt jedoch genauso machtvoll ist. Runakuna wie ich fühlen dies und müssen sowohl im Kleinen als auch im Großen Wege des Widerstandes finden.

Junge Kichwa-Frauen in traditioneller Kleidung. Foto: Chris Fester/Wikipedia CC BY 2.0

Der Körper der Runakuna in der Stadt

Die Menschen, die als Runakuna geboren werden, müssen sich jeden einzelnen Tag aufs Neue dazu entscheiden, gegen Rassismus, Verarmung und Chauvinismus zu kämpfen. Das tun wir, denn im öffentlichen Raum werden wir als Indigene wahrgenommen. Erst wenn wir die Haustüren hinter uns schließen, eröffnet sich der private Raum, in dem wir frei von Vorurteilen leben können. Im öffentlichen Raum ist das anders.

Die Kichwa-Frau kämpft täglich gegen diese drei Probleme gleichzeitig. Wenn sie durch traditionelle Kleidung öffentlich ihre Identität preisgibt, muss sie mit den damit einhergehenden sozialen Auswirkungen rechnen. Wenn sie etwa ein luxuriöses Hotel oder eine Universität betritt, wird sie überrascht und verächtlich beäugt. Wenn der Kichwa-Mann sich dazu entscheidet, seine Identität preiszugeben, indem er lange Haare, einen Poncho und kurze Hosen trägt, geschieht dasselbe – mit dem Unterschied, dass er Diskriminierung aufgrund seines Geschlechts nicht kennt.

Diese Formen des Rassismus werden verschleiert. Wenn sie doch einmal aufgedeckt werden, werden die Probleme auf ein fehlendes Selbstwertgefühl anstatt auf gesellschaftliche Strukturen zurückgeführt. Wenn wir jedoch über den Mangel an Selbstwertgefühl sprechen, wird gerne vergessen, dass es die Kolonisator*innen waren, die uns wie Tiere behandelten. Die in den Gerichten über unsere Schicksale diskutierten, ohne auch nur zu erwägen, dass die sogenannten „Indios“ auch eine Seele haben könnten.

Frauen der Kichwa Saraguro im März 2018 in der ecuadorianischen Stadt Saraguro. Die Stadt trägt ihren Namen nach dem indigenen Volk. Foto: Verónica Yuquilema Yupangui

Private Räume und das koloniale „Recht auf Zutritt“

Vor längerer Zeit wollten meine Brüder und ich in einem Nachtclub in Riobamba feiern gehen. Mit Poncho und Anaku (indigene Tracht in Ecuador – Männer tragen Ponchos, Frauen tragen Blusen und Anakus) eindeutig als Kichwa zu identifizieren, gingen wir zum Eingang, um die Tickets zu holen. Dort wurde uns erklärt, dass es sich bei der Party heute Nacht um eine „exklusive Veranstaltung“ handele. Wir könnten nicht hereingelassen werden. Die Verantwortlichen würden sich das Recht, wer eintritt und wer nicht, vorbehalten. Wir waren skeptisch und vermuteten einen anderen Grund. Also baten wir einen unserer Freunde – weiß, groß, blond und deutsch – die Tickets zu kaufen. Ohne Probleme oder der Befragung irgendwelcher Verantwortlichen wurde ihm der Eintritt gewährt.

Dieses Beispiel stellt nur eines der vielen Male dar, an denen wir wegen unserer Identität daran gehindert wurden, uns in bestimmten, öffentlichen Räumen aufzuhalten. Derartige Vorkommnisse sind keine Einzelfälle. Sie wiederholen sich landesweit. Das weltweit verbreitete „Recht auf Zutritt“ ist ein missbräuchliches Vorrecht hegemonialer Strukturen. Es ermöglicht, Menschen auszugrenzen und sozial zu hierarchisieren.


„Die oder der Beste sein“

Als Runakuna sind wir Tag für Tag gezwungen, in allem die Besten zu sein – sei es akademisch, bei der Arbeit oder im sozialen Bereich. Das wird uns bereits früh von unseren Eltern beigebracht, die noch bis vor nicht allzu langer Zeit selbst körperlicher Gewalt ausgesetzt waren. Ob wir wollen oder nicht: Dieses koloniale Erbe werden wir den Rest unseres Lebens tragen.

Bildung hat sich zu einer Chance entwickelt, der wirtschaftlichen und sozialen Ausgrenzung zu entkommen. Doch selbst, wenn wir die gewünschte Professionalisierung erreicht haben, geht der Kampf weiter. Denn die Kichwa-Philosophie, die sich in unserer Hautfarbe, unserer Sprache und unserer Kleidung widerspiegelt, legt uns das Stigma auf, mit dem wir uns weiterhin in jedem öffentlichen und privaten Bereich befassen müssen.

Juliana Illapa Poma ist die Großmutter unserer Autorin. Sie ist ihrer Enkelin ein wichtiges Vorbild. Foto: Verónica Yuquilema Yupangui

Warum stehen wir noch?

Aufgrund der Liebe unserer Väter und Mütter, die der Kolonialismus nicht angreifen konnte. „Anaku und Sombrero trage ich mit Stolz. Ich spreche zwei Sprachen und bin eine gute Indigene“, sind einige der Sätze, die meine Mutter mir von klein auf immer wieder einprägte. Um in einem von einer anderen Kultur dominierten Raum zu leben, bedarf es für die Minderheiten größerer Anstrengung und Energie zum Überleben.

Es waren unsere Mütter und Väter, die als Protagonist*innen unsere Geschichte und unser Leben als Volk würdigten. Es war die Liebe ihres Bewusstseins für unsere tausendjährige Geschichte, die sie motiviert, das Wissen und die Praktiken für ihre Söhne und Töchter lebendig zu halten.

„Rumi shunku“ ist eine starke Strategie gegen die Unterdrückenden. Wir hatten nie das Recht, unsere wahren und inneren Gefühle auszudrücken. Wir konnten nie herausschreien, wie der Rassismus uns innerlich umbringt. Das wussten unsere Mütter und Väter sehr gut. Deshalb wurde uns beigebracht, stark zu sein und uns von nichts und niemandem erniedrigen zu lassen. Diese Kunst erlernten sie in den Widerstandskämpfen unserer Großeltern und ihrer eigenen gegen das koloniale und kapitalistische System.

Trotzdem war es für uns Runakuna nie eine Option, die Opferrolle zu akzeptieren. Im Gegenteil hat die Verhärtung unserer Herzen es uns ermöglicht, unsere Geschichte und Philosophie innerhalb der kolonialen Nationalstaaten zu verteidigen.


Dekolonisierung bedeutet, zu unseren Herzen und zur Sensibilität zurückzukehren

Sensibilität und Emotionalität waren ein Luxus, den wir Runakuna uns nicht erlauben konnten. Für unsere Eltern war der Kampf ums Überleben im Kontext der sozialen Ausgrenzung existentiell. Sowohl in der Stadt als auch auf dem Land mussten sie für Grundrechte wie Bildung, Gesundheit oder Wohnen kämpfen. Sie mussten lernen, ihre Gefühle zu unterdrücken, emotionale Mauern aufzubauen und niemals Schwäche zu zeigen.

Die Aymara-Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui (2010) betont daher die Notwendigkeit, insbesondere die Köpfe und Herzen der kolonisierten Völker zu dekolonisieren. Ein Weg besteht darin, die Liebe zur eigenen Identität wiederzufinden und ebenso zu politisieren – damit wir wieder empathische und gefühlvolle Menschen werden, die keine emotionalen Mauern um sich herum brauchen. Diese Rückkehr zur eigenen Empathie ist auch eine Rückkehr zu uns selbst und dient als Motor zur Wiederherstellung unserer Leben als Individuen, Familien, Völker, Kulturen und Gesellschaften. Dekolonisierung bedeutet also auch Bruch mit der antrainierten Stärke und Kälte.

Der erste Schritt des Dekolonisierungsprozesses zwingt uns dazu, die Schmerzen zu erkennen und anzunehmen, die in unseren Körpern und Herzen durch Ablehnung, Spott und Ausgrenzung noch immer vorhanden sind. Denn nur wenn wir lernen, diese Wunden zu heilen, können wir uns mit unserer Geschichte versöhnen. Nur dann können wir mit der Reproduktion kolonialer Grenzen aufhören, die uns weiterhin daran hindern, eine gleichberechtigte und gerechtere Gesellschaft aufzubauen.


Verónica Yuquilema Yupangui ist Kichwa Puruwa aus Chimborazo/Ecuador. Sie ist Menschenrechtsaktivistin und Anwältin. Sie arbeitete bei der Regionalstiftung für Menschenrechtsberatung INREDH in Ecuador mit indigenen Gemeinschaften zusammen und promoviert derzeit an der Universidad de Coimbra in Portugal und der Universität Wien zur Frage der Wiederherstellung indigener Rechtsprechung.

Aus dem Spanischen übersetzt von Judith Bergkemper und Regina Sonk.


[1] Die Autorin verwendet anstelle des Begriffes „Indigene“ das Kichwa-Wort Runa (pl. Runakuna), was im Deutschen Mensch bedeutet.



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