Foto: Lokal_Profil/Wikipedia CC BY-SA 2.5; Bearbeitung: Alexander Becker

Ein historischer Sieg für alle Indigenen der Taimyr-Halbinsel! Der Dolgane Gennadij Schtschukin verteidigte ihre Rechte erfolgreich vor dem russischen Verfassungsgericht. 

 

Von Merle Brüggemann 

Gennadij Schtschukin denkt an seine Mutter, als er am 28. Mai 2019 vor dem Verfassungsgericht der russischen Föderation spricht und einen großen Erfolg für die indigenen Völker der russischen Arktis einfährt. Seine Mutter schmuggelte als kleines Mädchen unter ihrer Jacke Fisch zu seiner Großmutter, die sich vor sowjetischen Mächten verstecken musste. 1930 gab es einen bewaffne-ten Widerstand vieler Bauern gegen die Sowjetisierung, denen sich indigene Völker anschlossen. Auch die Großeltern von Gennadij Schtschukin beteiligten sich daran. Sie wehrten sich gegen den Beitritt in die Kollektivwirtschaft. Seine Großväter wurden verhaftet. Alle Verwandten galten damit als Volksfeinde –  auch seine Großmutter. Seine Großmutter war krank und wurde von der indige-nen Gemeinschaft versteckt, um der staatlichen Willkür zu entkommen. Alle, die ihr halfen, liefen Gefahr verhaftet zu werden. 

Vergegenwärtigt sich Gennadij Schtschukin diese Ereignisse, sieht er darin seine Motivation für den Kampf, den er heute führt. Er widmet sein Leben der Verteidigung der Kultur und Lebensweise der indigenen Völker der Taimyr-Halbinsel im Norden Sibiriens. Gennadij Schtschukin wurde 1962 gebo-ren. Der heute 57-Jährige gehört zum Volk der Dolganen, einem Volk der Halbinsel. Die Mitglieder seiner Familie waren seit Generationen Rentierzüchter. Nach seinem Wehrdienst studierte Schtschukin „Unterstützung der Bürger*innen in sozialen Fragen“ an der Staatlichen Universität Moskau. Er folgte damit dem Rat seiner Mutter: „Studiere, um den Menschen hier zu helfen“.

Der Dolgane Gennadij Schtschukin vor dem Gebäude des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation. Foto: © Gennadij Schtschukin

Die Taimyr-Halbinsel ist die Heimat vieler indigener Völker: Neben den Dolganen leben etwa die Nenzen, Nganassanen, Ewenken und Enzen in der Region. Früher lebten die nomadischen Völker von der Rentierzucht und zogen mit ihren Herden durch die weiten Flächen der Tundra. Heute ist das so nicht mehr möglich.

Ab Mitte der 1960er entdeckte die Regierung das wirtschaftliche Potential der gesamten russischen Arktis. Das Gebiet ist reich an Öl, Gas, Kupfer, Nickel, Eisenerz und Kohle. Frühere Weideflächen mussten Raffinerien und Eisenbahnstrecken weichen.

Viele der Nomaden wurden in die Sesshaftigkeit gezwungen: Schtschukins Volk musste den Ort Ust-Awam für 600 bis 700 Personen aufbauen, in dem sie nun dauerhaft leben. Trotz der Sesshaf-tigkeit spielt das Rentier immer noch eine wichtige Rolle im Leben der kleinen Völker. Das traditio-nelle Jagen der Rentiere ist noch immer erlaubt, wenn auch in eingeschränkter Form. Es bildet für die indigenen Völker eine wichtige Nahrungs- und Einnahmequelle. Doch die Regierung gründete einen nationalen Betrieb für die Rentierzucht.

Nicht nur das wirtschaftliche Dasein erschweren die staatlichen Behörden den Indigenen so, son-dern auch ihr kulturelles Leben. Eines Tages kamen Männer in ihr Dorf, erinnert sich Gennadij Schtschukin. Sie schlachteten alle Rentiere. Die Dolganen, die sich wehrten, wurde festgenommen. Gennadij Schtschukin war damals noch ein Kind und versuchte entrüstet, seine Rentiere zu retten. Die Behörden schickten ihn daraufhin in ein Internat in der Stadt Dudinka im westsibirischen Tief-land – wegen seines „schlechten Benehmens“.

Auf dem Internat wurde seine Kleidung und die der anderen indigenen Kinder zerrissen. Ihre Haare wurden ihnen abrasiert. Gennadij Schtschukin erinnert sich heute: „Ich sah zum ersten Mal ein kahlgeschorenes Mädchen in fremder Kleidung“. Mehrmals versuchte er, aus dem Internat auszu-brechen. „Vor allen versammelten Schülern wurden wir gewarnt, dass beim nächsten Versuch un-sere Eltern eingesperrt würden“, berichtet er. Damals war ihm nicht bewusst, dass seine Heimat Ust-Awam 400 Kilometer von dem Internat entfernt lag.

Die Entwurzelungsversuche bewirkten bei Gennadij Schtschukin Gegenteiliges. Heute ist er Vorsit-zender der Dolganen-Gemeinschaft „Amjaksin“ und Präsident der örtlichen Vereinigung zahlen-mäßig kleiner Völker, dem Dachverband mehrerer indigener Gemeinschaften des Taimyr-Bezirks. Er berät nach eigenen Angabe mehr als 110 indigene Gemeinschaften juristisch in Frage über die traditionelle Lebensweise. Dazu gehören Themen wie Fischfang, Jagd und die Rentierzucht. Diese Beratungstätigkeit brachte ihn bis vor das Verfassungsgericht.

Der Dolgane Gennadij Schtschukin wurde 2014 vor dem Bezirksgericht Dudinka angeklagt. Hinter-grund der Klage war ein Streit über die Bedeutung des Artikels 19 des Gesetzes „Über die Jagd und die Erhaltung von Jagdressourcen […]“.  Das Gesetz schützt die traditionelle Lebensweise und Wirt-schaft indigener Völker. Gemäß Artikel 19 des Gesetzes ist jedes Mitglied einer Gemeinschaft zah-lenmäßig kleiner Völker berechtigt, acht wilde Rentiere in einem Kalenderjahr zu jagen. Das gilt für jedes Mitglied unabhängig davon, ob es den Status eines Jägers innehat. 

Vor dem Verfassungsgericht hat Gennadij Schtschukin einen Sieg für sich, seine ganze Region und die indigenen Völker Russlands errungen. Foto: © Gennadij Schtschukin

Schtschukin vertrat die Auffassung, dass es Personen nach Artikel 19 erlaubt sei, ihr Recht auf ein oder mehrere Mitglieder der Gemeinschaft zu übertragen, die den Status eines Jägers innehaben. Die lokale Staatsanwaltschaft sah das anders. Sie war der Ansicht, dass eine Delegation des Rechts nicht möglich sei. Schtschukins Verhalten sei als strafbare „Anstachelung zur illegalen Jagd“ zu klas-sifizieren. Das Bezirksgericht Dudinka und das Berufungsgericht der Region Krasnojarsk folgten der Auffassung der Staatsanwaltschaft. Überraschenderweise wurde Gennadij von seiner Strafe je-doch amnestiert. Er vermutet, dass die Richter*innen eine Revision des Urteils vor der nächst hö-heren Instanz, dem Kassationsgericht, umgehen wollten.

Eine Amnestie war Gennadij Schtschukin aber nicht genug. Er wandte sich an das Verfassungsge-richt der russischen Föderation, um feststellen zu lassen, dass eine Übertragung des Rechts auf andere Personen in Einklang mit der Verfassung stehe. Das Verfassungsgericht bestätigt: „dass Artikel 19 des föderalen Gesetzes […] nicht im Widerspruch zur Verfassung […] steht, da es […] vor-sieht, dass [...] ihre Mitglieder berechtigt sind, ein oder mehrere Mitglieder mit dem Status eines Jägers zu beauftragen, Jagdressourcen […] zu erbeuten“. Nur das Gesamtkontingente aller Ge-meinschaftsmitglieder dürfe nicht überschritten werden.

Die Richter*innnen wiesen die unteren Gerichte außerdem an, ihre Entscheidungen bezüglich Gennadij Schtschukin abzuändern. Sie sollten ihre Urteile mit dem des Verfassungsgerichts in Ein-klang bringen. Schtschukins Anwalt Wladimir Tsvil ließ nach dem Urteil verlauten: „Die Rechte indi-gener Völker sind ein wichtiger Teil der kulturellen Vielfalt und des historischen Erbes der Mensch-heit, da es sich um eine jahrhundertealte Art und Weise handelt, unter harten natürlichen und kli-matischen Bedingungen zu leben. Und diese Schicht der zivilisatorischen Vielfalt darf nicht verloren gehen, sie muss erhalten bleiben.“ Das Urteil sei ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Gennadij Schtschukin ist stolz auf seinen Siegeszug vor dem Verfassungsgericht: „Ich verteidigte die Wirksamkeit der Föderationsgesetze auf lokaler Ebene, wo die indigenen Gemeinden und Ver-bände der Kleinen Völker des Nordes leben und wirken.“ Der gerichtliche Sieg ist nicht nur ein per-sönlicher. Es ist ein Sieg für die ganze Region. Gennadij Schtschukin hat einen wichtigen Bestandteil der indigenen Kultur erfolgreich verteidigt.


Merle Brüggemann studiert Rechtswissenschaften an der Westfälischen Wilhelmsuniversität Münster. Ihren Schwerpunkt absolvierte sie im Europa- und Völkerrecht. Hierbei legte sie beson-deres Augenmerk auf Vorlesungen im Bereich der Menschenrechte.



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