Das Leben in der Rif-Region ist hart. Viele Menschen leben in Armut. Diese Masirenfrauen verkaufen ihr Gemüse am Straßenrand.
Foto: Evgeni Zotov/Flickr CC BY-NC-ND 2.0

Marokko gilt als politisch stabiler und reformwilliger Staat. Doch die Menschenrechtslage vor Ort widerspricht diesem Bild: Bei Beteiligung an friedlichen, sozialen Protesten drohen Festnahmen, Gewalt und Haftstrafen bis zu 20 Jahren.

Keine Ruhe im Rif: Marokkos Protest-Region

 

Von Lena Heitkamp

28. Oktober 2016, Küstenstadt Al Hoceïma, Nord-Marokko: Die Polizei konfisziert die Ware von Mohsin Fikri. Er ist 31 Jahre jung und Fischhändler. Seinen beschlagnahmten Fisch werfen die Polizisten in eine Müllpresse. Mohsin Fikri springt hinterher – und wird zerquetscht. Sein Tod wird zum Symbol der Unterdrückung und löst eine Protestwelle aus: die Hirak al-Shabi.

„Hirak al-Shabi“ bedeutet Volksbewegung und wird von Masiren getragen. Sie ist die größte marokkanische Protestbewegung seit dem „Arabischen Frühling“. Die indigenen, nicht-arabischstämmigen Masiren, auch unter der Fremdbezeichnung „Berber“ bekannt, stellen den Großteil der Bevölkerung im Rif-Gebirge. Die Region im Norden Marokkos ist historisch wie gegenwärtig strukturell benachteiligt. Armut, Korruption und Perspektivlosigkeit prägen den Alltag.

Hirak fordert die wirtschaftliche Einbindung der Region in den Nationalstaat, infrastrukturelle und medizinische Entwicklung und prangert Korruption und Machtmissbrauch an. Der soziale Charakter der Forderungen fand große Zustimmung in Marokkos ländlicher Peripherie. Landesweit mobilisiert Hirak Proteste gegen Marginalisierung. Eine aktuelle Boykottbewegung greift die Anliegen Hiraks auf. Angesichts der akuten Repression der Proteste haben sich die Forderungen Hiraks schnell um eine politische Dimension erweitert: die Freilassung der politischen Gefangenen.

Das Schienen-Netzwerk führt genau um die Rif-Region im Norden Marokkos herum. Bild: Classical geographer/ Wikipedia CC BY-SA-3.0

Kriminalisierung der Hirak-Proteste

Artikel 20 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besagt: „Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und zu Vereinigungen zusammenzuschließen“. Die marokkanische Verfassung wurde 2011 reformiert. Seitdem enthält sie ebenfalls einen 22 Artikel langen Grund- und Menschenrechtskatalog, der auch Versammlungsfreiheit garantiert. In der Rif-Region im Norden Marokkos scheint diese Versammlungsfreiheit jedoch ausgesetzt.

Friedlichen, sozialen Demonstrationen im Protestzentrum Al Hoceïma begegnen Polizei und Militär seit dem Frühjahr 2017 mit strategischen Verhaftungen. Mehr als 400 Verhaftungen sind bisher dokumentiert, rund 100 Menschen wurden verurteilt. Die schwerwiegendsten Verurteilungen fanden am 26. Juni 2018 in Casablanca statt – das Ende eines monatelangen Prozesses gegen 54 Inhaftierte.

Unter ihnen befindet sich auch Nasser Zefzafi. Er gilt als Sprecher und Kopf Hiraks und rief bis zu seiner Verhaftung im Mai 2017 fast täglich zu Protesten in Al Hoceïma auf. Sein Strafmaß ist das höchste, das seit Beginn der Niederschlagung Hiraks verhängt worden ist: Gemeinsam mit drei weiteren Protestführern wurde Zefzafi zu 20 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Die anderen Strafen betragen zwischen einem und 15 Jahren Haft. Alle Urteilssprüche begründet das Gericht mit „Gefährdung der Staatssicherheit“ durch die Angeklagten. Was eigentlich Menschenrecht sein sollte – soziale Proteste zu organisieren – wird so durch die Urteilssprüche und die Höhe der Strafen kriminalisiert. Zefzafi und die anderen Verurteilten haben Berufung eingelegt.

Nicht nur die Strafmaße stehen in der Kritik. Angeklagte und Anwälte werfen dem Gericht von Casablanca außerdem unfaire Prozessführung vor: Geständnisse sollen unter Folter oder Misshandlung erzwungen worden sein. Diese dienten anschließend als Grundlage für Urteilssprüche. 66 Angeklagte erhoben Foltervorwürfe. Eine eingehende Untersuchung ist bisher jedoch nicht erfolgt. Mehrere Gefangene wurden in Isolationshaft gehalten. Nasser Zefzafi etwa verbringt seit länger als einem Jahr 22 Stunden täglich ohne menschlichen Kontakt. Laut den Mindestgrundsätzen für die Behandlung von Gefangenen, den Mandela-Regeln, kommen seine Haftbedingungen verlängerter Einzelhaft gleich. Dies stellt eine Form der Folter. Um gegen seine Haftbedingungen zu protestieren, ist Zefzafi bereits mehrfach in Hungerstreik getreten.

Auch mit Journalistinnen und Journalisten, die kritisch über die Protestsituation im Rif berichten, gehen die marokkanischen Autoritäten ins Gericht. Sie behindern die Berichterstattung. Die Beschäftigten der Nachrichtenseite „Badil.info“ etwa wurden gezwungen, ihren Dienst einzustellen. Der Betreiber der Website, der Journalist Hamid el Mahdaoui, wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Auch ausländische Journalistinnen und Journalisten dürfen nicht in die Rif-Region einreisen, werden festgehalten oder ausgewiesen.

Ähnliche Einschränkungen betreffen zivilgesellschaftliche Akteure: Die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen ist nur unter strengen Auflagen möglich. Lokal agierende Organisationen würden mithilfe ausländischer Gelder zur Gefährdung des Staates beitragen, so die offizielle Begründung. Beobachterinnen und Beobachter werden ausgewiesen und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International verlieren ihre Arbeitsbefugnis.

Kaum Verbesserung der Lage im Rif

Die Lage der Zivilbevölkerung im Rif bleibt angespannt. Zwar sind die größten Proteste in Al Hoceïma seit 2017 abgeebbt, trotzdem steht die Stadt bis heute unter Kontrolle des Militärs. Der Zugang zur Region wird durch Checkpoints an den Grenzen überwacht. Aktuell demonstrieren die Menschen im Rif vor allem in der verarmten Bergbaustadt Jerada. Auch dort werden Zivilistinnen und Zivilisten Opfer von Polizeigewalt: Sie sehen sich mit Hausdurchsuchungen und willkürlicher, gewaltsamer Niederschlagung ihrer Proteste konfrontiert.

Die marokkanische Regierung hingegen relativiert Polizeigewalt. König Mohammed VI belässt die menschenrechtspolitische Lage im Rif größtenteils unkommentiert. Mohammed VI verkörpert die Hoffnung vieler, die die Freilassung der Gefangenen fordern: Nur er kann über eine Generalamnestie verfügen. Tatsächlich sprach der König im August 2018 anlässlich des muslimischen Opferfestes 188 Gefangene frei. Darunter waren auch elf Hirak-Verurteilte von Casablanca, die kürzere Haftstrafen erhalten hatten. Nasser Zefzafi und die übrigen Protestführer gehören nicht zu den Begnadigten.

Abgesehen von geringen Zugeständnissen trägt Marokkos Regierung kaum zur Verbesserung der Lage im Rif bei. Die bewilligten „Entwicklungsprojekte“ in Höhe von mehreren Millionen Dirham ermöglichen ausschließlich Baumaßnahmen, die stagnieren statt zu verbessern. So bleibt die Region beispielsweise weiterhin vom Netz des Schienenverkehrs ausgeschlossen. Dieser würde den Handel mit der Region und die Bewegungsfreiheit der Menschen vor Ort ankurbeln.

Insgesamt ignorieren die offiziellen Beschwichtigungsversuche die Kernanliegen Hiraks. Das hat auch außenpolitische Konsequenzen: Die anhaltende Vernachlässigung der Rif-Region, die massive Militärpräsenz sowie die Menschenrechtsverletzungen an Zivilbevölkerung und an politischen Gefangenen sind ernstzunehmende Fluchtursachen. Die Anzahl der Migrationsversuche von Marokko nach Europa hat zugenommen – Anlass genug für die Hirak-Protestierenden, Widerstand gegen ihre Unterdrückung zu leisten und Perspektiven zu fordern, sich zu versammeln und zu demonstrieren. Es ist ihr Recht.


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