Seit dem 11. März 2018 ist Richter Chile Eboe-Osuji (links) Präsident des Internationalen Strafgerichtshofs. Im Bild ist er mit UN-Generalsekretär António Guterres zu sehen. Bild: UN Photo/Evan Schneider

 

Claus Kreß gehört zu den führenden Experten auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts. Unter anderem ist er Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht an der Universität zu Köln. Als Beamter im Bundesministerium der Justiz nahm er 1998 als Mitglied der deutschen Delegation an den Verhandlungen über den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Rom teil. Andreas Bummel, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für bedrohte Völker, hat mit ihm gesprochen.

"Ein Zeichen gegen die Pervertierung der Staatsgewalt in stürmischer Zeit“

 

Vor zwanzig Jahren waren Sie bei der Konferenz in Rom dabei. 2002 hat der IStGH seine Tätigkeit aufgenommen. Welche Bilanz ziehen Sie heute?

Eine gemischte. Der Gerichtshof hat zu Beginn durch interne Querelen für überflüssige negative Presse gesorgt. Er hat weiterhin auch – was allerdings nicht vorwerfbar ist, sondern zu erwarten war – mit den Schwierigkeiten des Anfangs zu kämpfen. Auf der anderen Seite ist das Gericht inzwischen arbeitsfähig. Auf der internationalen Bühne wird es – das zeigt gerade auch die erregte politische Kritik aus mancherlei Richtung – unverkennbar als Akteur wahrgenommen.

 

Gibt es Fälle, bei denen eine präventive Wirkung des IStGH greifbar wurde?

Es ist ungemein schwierig, eine solche präventive Wirkung ganz konkret „dingfest“ zu machen. Das ist beim Strafrecht übrigens im herkömmlichen nationalen Kontext nicht anders. Im Kern geht es im Völkerstrafrecht darum, elementare Verhaltensnormen des Völkerrechts als Grenzen politischen Handelns fest im Bewusstsein gegenwärtiger und zukünftiger Staatenlenker zu verankern – selbst in Zeiten schwerer politischer Konflikte. Das ist ein schwer messbarer, jedenfalls langwieriger Prozess.

 

Bei dem ersten Fall vor dem Internationalen Strafgerichtshof ging es um den Einsatz von Kindersoldaten. Diese ehemaligen Kindersoldaten in der Demokratischen Republik Kongo sollen an einem Programm zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft teilnehmen. Bild: UN Photo/Sylvain Liechti

Hat es schon wichtige Verfahren gegeben?

Jeder Fall vor dem IStGH ist wichtig. Im ersten Verfahren ging es um den Einsatz von Kindersoldaten. In einem weiteren Fall stand – erstmals – die Schändung von Kulturgütern im Mittelpunkt. Besondere Bedeutung hat der Haftbefehl gegen den amtierenden Staatschef des Sudan, al-Bashir, erlangt. Hier geht es um eine zentrale Mission des Gerichtshofs: ein Zeichen zu setzen gegen die Pervertierung der Staatsgewalt, um einen Teil der eigenen Zivilbevölkerung zu terrorisieren.

 

Donald Trumps Sicherheitsberater John Bolton hat den IStGH kürzlich für tot erklärt und US-Sanktionen gegen die Richter und das Personal angedroht. Was können die USA tatsächlich machen, um dem IStGH zu schaden?

Das hängt davon ab, wie entschieden der Rest der Staatengemeinschaft bereit ist, dem Angriff dieser US-Administration entgegenzutreten. Im Übrigen gilt: Die amtierende Regierung der USA, die das große Vermächtnis der USA (nicht nur) zum Völkerstrafrecht mit Füßen tritt, ist nicht das Ende der Geschichte. 

 

Ist die Aufnahme von Ermittlungen gegen US-Staatsangehörige wegen Verbrechen in Afghanistan überhaupt realistisch? Es gilt ja das Prinzip der Komplementarität, also der Vorrang der nationalen Strafverfolgung. Unternimmt die US-Justiz nichts?

Das sind tatsächlich zwei Fragen. Im Hinblick auf die Komplementarität gilt, dass die USA es jederzeit in der Hand haben, einem internationalen Strafverfahren durch ernsthafte eigene Strafverfolgung eigener Leute zu begegnen. Auch für die USA gilt: Dieser Staat hat den Vorrang vor dem IStGH bei der Ahndung von Völkerstraftaten. Das IStGH-Statut nimmt sehr viel Rücksicht auf die Souveränität der Staaten. Gehen die amerikanischen Strafverfolgungsbehörden einem ernstzunehmenden Verdacht, dass amerikanische Staatsangehörige in Afghanistan systematisch schwere Kriegsverbrechen begangen haben, indessen nicht ernsthaft nach, so ist der IStGH nach dem Statut zu Ermittlungen berufen. Denn Afghanistan ist ein Vertragsstaat. Solche Ermittlungen mögen wegen des Widerstands der USA nicht in Verurteilungen münden. Dennoch wären sie ein wichtiges Signal, dass auch die USA nicht über dem Völkerrecht stehen. Der Wutausbruch Boltons zeigt, dass ein solches Signal dort durchaus beeindruckt.


Der Internationale Strafgerichtshof

Als „Geschenk der Hoffnung für künftige Generationen“ hat der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) gewürdigt. Dieses wurde am 17. Juli 1998 in Rom verabschiedet. Vier Jahre später nahm das Gericht in Den Haag seine Arbeit auf. Inzwischen haben sich ihm 123 der 193 UN-Mitgliedsländer angeschlossen, darunter alle EU-Mitglieder. Nicht dabei sind China, Indien, Israel, Russland, Türkei und die USA.

Der IStGH ist für eine Strafverfolgung individueller Personen bei Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffskrieg zuständig. Es gilt dabei das Territorial- und Nationalitätsprinzip: Entweder der Staat, auf dessen Gebiet das fragliche Verbrechen stattgefunden hat oder der Staat, dessen Staatsangehörigkeit der mutmaßliche Täter besitzt, müssen Vertragsparteien sein. Der IStGH wird nur tätig, wenn eine nationale Strafverfolgung nicht stattfindet. Dessen ungeachtet können Staaten den IStGH selbst bitten, ein Verfahren aufzunehmen. Auch der Sicherheitsrat kann Fälle an den IStGH verweisen.


Autokratische Staatschefs aus Afrika wollen, dass Staatsoberhäuptern im Statut Immunität gewährt wird. Hat dieses Ansinnen Aussicht auf Erfolg?

Ich sehe nicht, dass eine Änderung des Statuts absehbar wäre. Allerdings ist ein Drängen dahin, zu überholt geglaubten Immunitäten zurückzukehren, unübersehbar. Und dies leider nicht nur bei bestimmten afrikanischen Staatschefs. Am Ende wird hier – wie stets im Völkerrecht – die Haltung der Staaten entscheiden. Auch hier kommt es also darauf an, ob eine kritische Masse von Staaten (nicht zuletzt auch Deutschland) Kurs halten und sich dem gerade recht heftigen Gegenwind entgegenstellen. An dieser Stelle geht es um nichts Geringeres als den Kern des Völkerstrafrechts: Eine Völkerstrafrechtspflege, die vor den Rädelsführern Halt machte, müsste ihre Legitimität einbüßen. 

 

Die befürchtete Austrittswelle in Afrika ist bis jetzt ausgeblieben. Ist der IStGH wirklich voreingenommen auf Afrika fokussiert?

Nein, das ist er nicht. Zahlreiche afrikanische Situationen sind dem Gerichtshof von den betreffenden Staaten selbst unterbreitet worden. In anderen Fällen – wie etwa der Situation in Darfur im Westen des Sudan – ist nicht zu bestreiten, dass es zu solchen Verbrechen gekommen ist, für deren Ahndung der IStGH gedacht ist. Zahlreiche Afrikaner sind dem Gerichtshof dafür dankbar, dass er sich dieser Situationen annimmt. Afrika lässt sich nicht auf die Verlautbarungen von autokratischen Staatschefs mancher afrikanischer Staaten reduzieren, so eindrucksvoll diese auch die Melodie gegen „Neo-Kolonialismus“ intonieren. Auf der anderen Seite ist klar, dass das Völkerstrafrecht nicht gleichmäßig durchgesetzt werden kann, solange sich Großmächte wie China, Russland und die USA der Gerichtsbarkeit des IStGH nicht unterwerfen. Das ist ein schwerwiegendes Problem. Doch sollte man deswegen nicht den Gerichtshof kritisieren, sondern diese Staaten.

Ein Teil des Gebäudes und das Emblem des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Niederlande. Bild: UN Photos/Rick Bajornas

Inzwischen verlangsamen sich die Beitritte zum IStGH. Gibt es wichtige Länder, die bald noch folgen könnten? Warum ist Indien kritisch?

Für den Augenblick ist die „Großwetterlage“ für Beitritte nicht günstig. Man wird Geduld haben müssen. Indien hat insbesondere Bedenken gegen eine – aus der Sicht dieses Staats – zu starke Rolle des UNO-Sicherheitsrats geäußert. Hier verschränkt sich die Kritik am IStGH möglicherweise mit der bekannten Kritik an der nicht länger repräsentativen Zusammensetzung des Sicherheitsrats.

 

Wie wichtig ist die erst zum 17. Juli 2018 erfolgte Aktivierung des Tatbestandes des Angriffskrieges? Es hat ja einige Kompromisse gegeben…

Die Strafbarkeit des Angriffskriegs stand –  als Verbrechen gegen den Frieden – im Zentrum der Geburtsstunde des Völkerstrafrechts in Nürnberg. Erst seit die Zuständigkeit des IStGH auch über dieses Verbrechen aktiviert ist, ist sein Statut wirklich vollständig. Ja, es hat leider massiven politischen Widerstand – und leider gerade auch westlicher Staaten – gegen diese Entscheidung gegeben. In der Folge waren weitreichende Kompromisse unabdingbar, die der Gleichheit der Durchsetzung des Völkerstrafrechts zunächst einmal schmerzhafte Grenzen setzen. Aber die Tür ist nun aufgestoßen. Diejenigen Staaten, die einstweilen abseitsstehen, sehen sich von jetzt an nach innen und außen der Frage ausgesetzt, warum sie dem Gerichtshof ihr eigenes Verhalten nicht zur Prüfung unterwerfen. Denn die eng gefasste Definition erfasst nur den Einsatz massiver und eindeutig völkerrechtswidriger militärischer staatlicher Gewalt gegen einen anderen Staat.

 

Carla Del Ponte hat als Anklägerin des Ad-hoc-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien gesagt, dass eine kleine Polizeieinheit der Anklagebehörde hätte Wunder wirken können, um Gesuchte schnell festzunehmen. Was halten Sie von der Idee?

Das ist ein wunderbarer Traum. Seiner Verwirklichung steht „nur“ der Widerstand zu vieler Staaten entgegen, die insoweit auf ihrer Souveränität beharren.

 

Eine letzte Frage: Der IStGH kann in Sachen Syrien nichts unternehmen, weil der Sicherheitsrat blockiert ist. Könnte die Generalversammlung irgendwie tätig werden, zum Beispiel selbst den Fall verweisen oder ein eigenes Ad-hoc-Tribunal einrichten?

Über solche – gewiss diskussionswürdigen – Entscheidungsbefugnisse verfügt die Generalversammlung leider nicht. Immerhin hat sich die Generalversammlung für die Sicherung von Beweisen im Hinblick auf spätere Strafverfahren stark gemacht. Hoffentlich befördert die Tragödie in Syrien demnächst einmal die Debatte über die Errichtung eines UNO-Gremiums, das nicht aus weisungsgebundenen Vertretern der Staaten zusammengesetzt ist. In dieser Hinsicht weist der Vorschlag einer Parlamentarischen Versammlung bei der UNO in die richtige Richtung.
 


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