Mit Stöcken bewaffnet zogen die Soldaten von Biafra in den Krieg. Foto: Tilman Zülch

Etwa 50 Jahre sind seit dem Völkermord in Biafra vergangen. 50 Jahre, in denen Nigeria es versäumte, das Unrecht aufzuarbeiten und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Die Erinnerung an die Gräueltaten bleibt ein Auftrag der Gesellschaft für bedrohte Völker – und ist heute so aktuell wie damals.

Von Ulrich Delius

Der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka findet klare Worte, wenn man ihn auf den Völkermord in Biafra (1967 – 1970) anspricht. „Ich bin sehr pro-Biafra, weil ich eingestehen muss, dass den Igbos schrecklich viel Unrecht zugefügt wurde… Es ist mit ihnen in einer Weise brutal umgegangen worden, dass es das Gefühl rechtfertigt, nicht Teil der Nation gewesen zu sein“, erklärte der Schriftsteller jüngst.

Wole Soyinka hat sich intensiv mit diesen dunkelsten Seiten der Geschichte seiner Heimat Nigeria befasst. „Die offiziellen Stellen wollen sich nicht mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen – vor allem nicht mit der Geschichte, über die du unglücklich bist. Aber wenn du dich nicht mit deiner Vergangenheit auseinandersetzt, wirst du die Zukunft vermasseln“, stellt der Schriftsteller fest.

Was für Wole Soyinka absolut unabdingbar ist, ist für seine Landsleute nicht die Norm. Mehr als 50 Jahre nach Beginn des Völkermords redet man in Nigeria nicht über die Gräueltaten, die im Namen der Einheit des Landes von nigerianischen Soldaten in Biafra verübt wurden. Die Aufarbeitung der Geschichte bleibt ein Fremdwort. Stattdessen werden die Verbrechen tabuisiert und verdrängt.

Massenmord ohne Richter

Was war in Biafra geschehen?  Am 30. Mai 1967 erklärt sich die an Erdöl reiche Region im Südosten Nigerias für unabhängig. Nur wenige Tage später beginnt am 6. Juli 1967 der Krieg um Biafra. Er sollte in einem qualvollen Sterben von mehr als zwei Millionen unbewaffneten Igbo enden und später als der Genozid von Biafra bekannt werden. Es waren nigerianische Soldaten, die am 6. Juli das Feuer eröffneten.

Doch eigentlich hatte der Krieg schon früher begonnen. Schon im Jahr 1966 wurden im Norden Nigerias immer wieder Massaker und Pogrome an Igbos und Angehörigen anderer biafranischer Völker begangen. Mindestens 30.000 Biafraner fielen diesen Verbrechen zum Opfer.

Nach dem Ausbruch des Krieges besetzen Nigerias Soldaten die Küstenregion Biafras und die Grenzregionen zum Nachbarland Kamerun. Dreimal starten nigerianische Soldaten Großoffensiven gegen Biafra. Da die Angriffe erfolglos bleiben, verhängt Nigeria eine Land- und Seeblockade gegen den jungen Staat. Rund zehn Millionen Menschen – zumeist Zivilisten – werden von Nigerias Armee eingeschlossen. Sie haben keine Chance, aus dem Kessel zu fliehen. Gezielt unterbinden Nigerias Soldaten die humanitäre Versorgung der Eingeschlossenen. Hunger wird zum Mittel der Kriegführung. Zwei Jahre lang setzen sich die Biafraner gegen die Belagerung zur Wehr. Doch der Preis ist hoch: Im Sommer 1968 steigt die Zahl der Toten auf bis zu 10.000 am Tag. Bis zum Zusammenbruch Biafras im Januar 1970 fallen dem Völkermord trotz Hilfsaktionen von Kirchen und Solidaritätsgruppen rund zwei Millionen Menschen zum Opfer.

Die Biafraner wurden eingekesselt und ausgehungert. Im Sommer 1968 starben mehrere tausend Igbo-Kinder am Tag. Foto: Tilman Zülch

Ursprünge der GfbV

Tilman Zülch studiert zu dieser Zeit Betriebswirtschaft in Hamburg. Ihn und seine Freundinnen und Freunde empört es, dass westliche Staaten und die Sowjetunion Nigerias Vernichtungskrieg mit Rüstungslieferungen unterstützen. Sie fordern ein Ende der Waffenkumpanei und des Mordens an der Zivilbevölkerung. Schließlich gründen Tilman Zülch und Klaus Guercke das „Komitee Aktion Biafra-Hilfe“, um gegen das Stillschweigen der deutschen Bundesregierung zu dem Morden zu protestieren. Viele namhafte Intellektuelle und Personen des öffentlichen Lebens unterstützen den Appell der Gruppe. Aus dem Komitee entsteht später die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).

Nach dem Ende des Genozids wird der Völkermord in Nigeria gezielt aus dem allgemeinen Bewusstsein verbannt. Weder wird er in Schulbüchern angemessen erklärt, noch historisch, strafrechtlich, gesellschaftlich oder politisch aufgearbeitet. Doch die mangelnde Aufarbeitung des schrecklichen Geschehens rächt sich. Nigerias Schweigen zum Genozid und die erneute Diskriminierung von Biafranern schüren ihr neuerliches Aufbegehren in den letzten Jahren. Statt sich mit ihrer Kritik, ihren Wünschen und Forderungen ernsthaft auseinanderzusetzen, setzen Nigerias führende Politiker darauf, die sich zuspitzende Krise auszusitzen und Biafra-Aktivisten zu kriminalisieren.

Nichts gelernt

Nigerias Regierung geht mit massiver und exzessiver Gewalt von Sicherheitskräften gegen Biafra-Aktivisten vor. Außerdem verweigert sie ihnen grundlegende Bürgerrechte. So wird Aktivisten von Pro-Biafra-Organisationen das in der Verfassung festgeschriebene Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit verwehrt. Stattdessen werden sie willkürlich verhaftet, entführt oder erschossen. In einem im Mai 2017 veröffentlichten Menschenrechtsreport dokumentiert die GfbV die Erschießung von 180 Biafra-Aktivisten im Zeitraum zwischen August 2015 und April 2017. Niemand hat das Recht, friedliche Demonstranten zu erschießen und mögliche Beweise zu vernichten.

So wurden nach einem Massaker der Sicherheitskräfte bei einer Biafra-Gedenkveranstaltung im Februar 2016 die 13 Leichen der Erschossenen auf einer Müllkippe abgelegt. Als Menschenrechtler auf das Massengrab aufmerksam wurden und eine Untersuchung der Geschehnisse verlangten, versuchte man, die Leichname kurzerhand vor Ort zu verbrennen. Beweise für das Verbrechen sollten vernichtet werden. Regelmäßig versuchen die Sicherheitskräfte nach solchen Übergriffen die Spuren der Gewaltanwendung zu verwischen.

Tabus aufbrechen

Die erneute dramatische Eskalation der Menschenrechtsverletzungen in Biafra zeigt, wie wichtig es ist, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht zu tabuisieren sondern aufzuarbeiten. Wer schwerste Menschenrechtsverletzungen wirksam eindämmen will, muss die Verantwortlichen für die Verbrechen zur Rechenschaft ziehen.

Die GfbV hat sich immer für eine konsequente Ächtung und Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid eingesetzt. „Nie wieder Biafra“ blieb zwar eine leere Worthülse, weil es der internationalen Staatengemeinschaft am politischen Willen fehlte, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. In Kambodscha, Ruanda und Darfur wurden erneut schreckliche Verbrechen begangen. Doch unsere Menschenrechtsarbeit hat mit dazu beigetragen, den Schutz der Zivilbevölkerung gegen solche schlimmsten Verbrechen zu stärken. So bleibt die Erinnerung an die Gräueltaten in Biafra für die GfbV ein Auftrag, sich für ein Ende von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid einzusetzen. Die jüngste Vertreibung von 700.000 Rohingya aus Burma zeigt, wie brisant und aktuell diese Herausforderung auch heute noch ist.

 

Ulrich Delius ist langjähriger Afrika-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker. Seit 2017 ist er Direktor der Menschenrechtsorganisation.


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