Seit 2012 erinnert ein Mahnmal in Berlin an die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma zur Zeit des Nationalsozialismus. Foto: Yvonne Bangert für GfbV

Es war ein langer Weg, bis die Sinti und Roma neben den Dänen, Sorben und Friesen endlich zu den vier anerkannten nationalen Minderheiten in Deutschland gehörten. Eine Erfolgsgeschichte.

Von Inse Geismar

Mut, Überzeugungskraft, Glaubwürdigkeit und vor allem ein langer Atem – das seien Voraussetzungen für erfolgreiche Menschenrechtsarbeit, die nicht jeder mitbringt. Doch Tilman Zülch und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter hätten all dies in die Waagschale werfen können, um die unerträgliche Lage der überlebenden Sinti und Roma nach dem Zweiten Weltkrieg zum Besseren zu wenden. So würdigte der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, den jahrelangen Einsatz des Gründers der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), als Zülch 2014 in Berlin den „Europäischen Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma“ entgegennahm. Diese Auszeichnung sei eine der wichtigsten Ehrungen, die die deutsche Zivilgesellschaft zu vergeben habe, betonte der damalige Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer, während der Feierstunde im Auswärtigen Amt.

Ehrenamtlicher Einsatz war entscheidend

Für Sinti und Roma hat sich die GfbV schon in den 1970er Jahren eingesetzt. Das war ein besonderer Kraftakt für alle, die damals mitmachten. Denn diese so dringend notwendige Menschenrechtsarbeit wurde ehrenamtlich geleistet. Doch die Entschlossenheit, Sinti und Roma zu ihrem Recht zu verhelfen, wuchs mit jedem Bericht über Vorurteile oder herabsetzende Behandlung. Schon damals wollte die GfbV eine Stimme sein für jene, von denen (fast) keiner spricht. Dabei war es von Anfang an oberstes Gebot, nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg, sondern in engem Kontakt gemeinsam mit ihnen zu handeln.

In der noch jungen GfbV-Zeitschrift, die damals schlicht „pogrom“ hieß, erschienen erste Beiträge über die anhaltende Diskriminierung von Angehörigen dieser Volksgruppe, aber auch flammende Plädoyers, ihnen endlich auf Augenhöhe zu begegnen. Das Verhalten von Experten, Behörden und Polizei, die Sinti und Roma nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch nach Vorgaben aus der Nazizeit „erforscht“, registriert oder drangsaliert hatten, machte die GfbV öffentlich. Zum Schrecken der Betroffenen waren nach 1945 Beamte in „Amt und Würden“ geblieben, die vorher im Reichssicherheitshauptamt die Deportation von Sinti und Roma organisiert hatten. Bis in die 70er Jahre verweigerten Behörden Sinti und Roma aus Ostpreußen, Hinterpommern oder Schlesien den deutschen Pass, selbst wenn sie ehemalige Insassen von Konzentrations- und Arbeitslagern waren. Sie erhielten sogenannte „Fremdenpässe“, in denen Berufe angegeben werden mussten. Meist stand an jener Stelle „Landfahrer“ oder „Musiker“. Die GfbV kämpfte für die Wiedereinbürgerung dieser Sinti und Roma. Mit Erfolg. Wir erreichten auch, dass Sinti und Roma eine Wiedergutmachung für das unter den Nazis erlittene Unrecht erhielten. 

1979 gab Tilman Zülch in der Reihe politischer Taschenbücher „rororo aktuell“ eine Dokumentation zur Situation der Sinti und Roma in Deutschland und Europa heraus. Der Band mit dem Titel: „In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt“ machte das Ausmaß des Völkermordes an bis zu 500.000 Angehörigen dieser Minderheiten unter den Nationalsozialisten bekannt. Bis dahin wurden die Nazi-Verbrechen an den Sinti und Roma zumeist totgeschwiegen. Noch Jahrzehnte später wurden sie von Polizei und Behörden verschleiernd „Landfahrer“ genannt. In seinem Vorwort zu dem rororo-Taschenbuch schrieb der deutsche Philosoph Ernst Tugendhat: „Die Zigeuner werden noch heute als Untermenschen zwar nicht offen bezeichnet, aber empfunden und behandelt.“

 

Frauen der ersten Stunde: Der Erfolg der GfbV-Arbeit für Sinti und Roma ist auch dem großen ehrenamtlichen Engagement von Dr. Ines Köhler-Zülch, Katrin Reemtsma, Martha Dambrowski und Kirstin Martins-Heuß zu verdanken (v. l. oben n. r. unten). Fotos: Katja Wolff, Yvonne Bangert, Inse Geismar, GfbV-Archiv

Spektakuläre Aktionen und prominente Unterstützung

Gemeinsam mit Romani Rose, der schon damals für die Rechte seiner Volksgruppe kämpfte, organisierte die GfbV ebenfalls 1979 einen Gedenkmarsch mit anschließender Kundgebung im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen. Rund 2.000 Menschen nahmen daran teil. Für diese Aktion konnte die GfbV wichtige Unterstützer gewinnen, deren Stimme in Politik und Gesellschaft unüberhörbar war: Den damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, und die Präsidentin des Europaparlaments, Simone Veil. Sie hat Bergen-Belsen überlebt, dort jedoch ihre Mutter verloren. In ihrer sehr bewegenden Rede bekannte und mahnte Veil damals: „Wir haben nicht immer genügend Solidarität gefühlt, diese Solidarität des gemeinsamen Unglücks. … Wir waren zusammen unter den Sterbenden, wir sind heute hier zusammen als Überlebende.“ Das Ringen für die Anerkennung der Sinti und Roma als Opfer der Nationalsozialisten bezeichnete sie als fundamentalen Kampf für die Menschenrechte.

Weltweit Schlagzeilen – von Deutschland über Australien bis in die USA – machte 1981 der dritte Welt-Roma-Kongress. Die GfbV hatte ihn für die Roma-Weltunion gemeinsam mit dem Verband Deutscher Sinti in Göttingen organisiert. Er stand unter der Schirmherrschaft der indischen Präsidentin Indira Gandhi. Aus drei Kontinenten kamen Roma, Sinti, Aschkali, Jenische, Gitanos, Bandjara und Gypsies in unsere Stadt, unter ihnen Schriftsteller, Musiker, Professoren, Wissenschaftler und sogar der Chefredakteur der größten Zeitung Indiens. Insgesamt 600 Kongressteilnehmer tagten in der Stadthalle. Die Göttinger freuten sich über die Gäste, die in ihrer traditionellen Festkleidung im Straßenbild Farbtupfer setzten.

Mit all diesen und vielen anderen Initiativen, die unter anderen Nobelpreisträger Günter Grass immer wieder mit seinem Namen unterstützte, gelang es der GfbV, NS-Verbrechen an den „Zigeunern“ weit über Deutschland hinaus bekannt zu machen. Unsere Menschenrechtsorganisation bewegte Bundeskanzler Helmut Schmidt und Bundespräsident Karl Carstens Anfang der 80er Jahre dazu, den Völkermord an den Sinti und Roma anzuerkennen und sich öffentlich zu entschuldigen. In Berlin erinnert seit 2012 ein Mahnmal an die Opfer.

Die Sinti und Roma gehören heute neben den Dänen, Sorben und Friesen zu den vier anerkannten nationalen Minderheiten in Deutschland. Aus einer Bürgerinitiative ist unter Romani Rose ein starker Zentralverband für die Sinti und Roma entstanden, der ihre Interessen wirksam vertritt. Eine seiner Hauptforderungen ist zurzeit eine Expertenkommission der Bundesregierung gegen Antiziganismus. Seit den 90er Jahren gilt unser Engagement verstärkt den Roma Südosteuropas. Wir setzen uns für eine Verbesserung ihrer desolaten Lage ein, um ihnen dort ein Leben in Würde zu ermöglichen. Für hier geborene und aufgewachsene Kinder von Roma-Flüchtlingen fordern wir Bleiberecht.

 

Inse Geismar ist Ethnologin und arbeitet seit 1987 für die Gesellschaft für bedrohte Völker. Sie war die erste Aktions-Referentin der Menschenrechtsorganisation, bevor sie das Presse-Referat übernahm.


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