Die Färöer sind eine Inselgruppe im Nordatlantik. Sie gehören zu Dänemark, genießen aber Autonomie. Die Färinger, die Bewohner der Inseln, lebten bis ins 19. Jahrhundert vor allem von der Schafzucht. Heute ist die Fischerei der wichtigste Wirtschaftszweig. Foto: Erik Christensen via Wikimedia Commons

„Einheit in Vielfalt“ lautet das Motto der EU. Doch gefährdet ist die Vielfalt nicht bei den größeren Sprachen, sondern bei den sogenannten Regional- und Minderheitensprachen. Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) Minority SafePack sammelt seit April 2017 Unterschriften, um die EU zu veranlassen, mehr für den Schutz nationaler und sprachlicher Minderheiten zu tun sowie die kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Union zu stärken. Doch reicht das aus?

Von Thomas Benedikter

Die Bürgerinitiative Minority SafePack möchte die EU anregen, politische Maßnahmen in den Bereichen Regional- und Minderheitensprachen, Bildung und Kultur, Regionalpolitik, Partizipation, Gleichheit, audiovisuelle Mediendienste und andere mediale Inhalte sowie regionale oder staatliche Förderungen durch die Mitgliedstaaten zu ergreifen. Gerade letztere wären weit stärker in die Pflicht zu rufen. Während die EU nämlich nur unterstützend für den Schutz der kleineren Sprachen tätig werden kann, liegt die entscheidende Verantwortung dafür bei den Nationalstaaten. Die Promotoren dieser EBI, die Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten (FUEN), die Südtiroler Volkspartei und die Partei der Ungarn in Rumänien, wollen natürlich beides: Sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten sollen den Minderheitenschutz ernster nehmen als bisher. Dabei geht es um innerstaatliche Rechte in Umsetzung internationaler Übereinkommen, aber auch um mehr Selbstverwaltung und Autonomie.

 

Die spröden Pfeiler des Minderheitenschutzes

Am 1. Februar 2018 ist das „Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten“ des Europarats seit 20 Jahren in Kraft. 39 Staaten haben es ratifiziert. Damit wären sie verpflichtet, es in nationales Recht zu übernehmen. Daran mangelt es. Warum? Zum einen sieht das Übereinkommen kaum klare Verpflichtungen vor. Zum andern fehlt der politische Wille. „Defizite bestehen etwa hinsichtlich der Herstellung effektiver Gleichheit, der finanziellen Förderung kultureller und medialer Einrichtungen nationaler Minderheiten, der strafrechtlichen Ahndung minderheitenfeindlicher Äußerungen und Handlungen, der tatsächlichen Gewährleistung des Rechts auf Gebrauch von Minderheitensprachen im Umgang mit Behörden mangels sprachkundiger Beamter, des Rechts auf Spracherwerb wegen qualitativ ungenügender Lehrmittel und unzureichend ausgebildeter Lehrkräfte sowie des Rechts auf effektive Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen […]“, schreibt der Minderheitenexperte Rainer Hofmann (aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de).

Der zweite völkerrechtliche Pfeiler des Minderheitenschutzes in Europa ist die 1992 vom Europarat verabschiedete „Europäische Charta der regionalen oder Minderheitensprachen“, die am 1. März 1998 in Kraft getreten ist. Bis Ende 2017 haben nur 25 Staaten des Europarats diese nicht verbindliche Charta unterzeichnet. Sie enthält Bestimmungen zum Schutz und zur Förderung von Minderheitensprachen in Schulen, in der Verwaltung, vor Gericht und in den Medien. Doch können die Unterzeichner-Staaten frei wählen, welche der Bestimmungen sie anwenden, welche sie in die staatliche Gesetzgebung aufnehmen. Die Charta selbst enthält keine Möglichkeit, Sprachenrechte auf europäischer Ebene einzuklagen. Somit gibt es keine Sanktionen, wenn Staaten ihre Verpflichtungen nicht umsetzen. Das mindert die Wirksamkeit dieser Charta für den Schutz von Minderheitensprachen. Es bleibt alles dem guten Willen der Staaten überlassen. Kollektive Rechte von Minderheiten auf Sprachengleichstellung sind in den Übereinkommen nicht verankert. In zahlreichen Fällen würde das nämlich bedeuten, den betroffenen Minderheiten in ihren angestammten Siedlungsgebieten lokale Selbstverwaltung einzuräumen. Es geht um Kulturautonomie oder noch besser: Territorialautonomie.

Svenja Osmers (GfbV)
Schnipp, schnapp, Fäden ab. Schluss mit der Fremdbestimmung durch den Staat. Autonomie ist der Königsweg zum wirksamen Minderheitenschutz.
Illustration: Svenja Osmers (GfbV)

Autonomie: der Königsweg zum Minderheitenschutz

Mit Autonomie ist nicht das Selbstbestimmungsrecht angesprochen, das jüngst Schotten und Katalanen in Anspruch genommen haben. Grenzen werden bei verfassungsrechtlich verankerter Territorialautonomie nicht verschoben, sondern politische Entscheidungsmacht. Territorialautonomie existiert heute in rund 36 Regionen in zehn Ländern Europas.
Auch ein bundesstaatlicher Aufbau mit möglichst weitgehenden Rechten der Bundesländer wie in Belgien und der Schweiz erfüllt den Zweck, Mehrsprachigkeit zu bewahren. Im Unterschied zu Bundesstaaten wird Territorialautonomie in der Regel nur einzelnen, hinsichtlich Sprache und Kultur besonderen Regionen zuerkannt. Beispiele sind etwa die Åland-Inseln in Finnland, die Färöer in Dänemark, Gagausien in Moldawien oder Wales im Vereinigten Königreich. Eine Sonderstellung nimmt Spanien ein, das sich nicht als Bundesstaat, sondern als Staat autonomer Gemeinschaften versteht und Autonomie als Grundrecht in seiner Verfassung verankert hat.

Autonomie schützt ethnische Minderheiten. Das ist durch eine mehr als 90-jährige Praxis erwiesen. Dass einige autonome Regionen in Europa dennoch die Eigenstaatlichkeit anstreben, wie etwa die Katalanen oder die Schotten, ist kein Symptom für die Wirkungslosigkeit von Autonomie. Dies ist Ausdruck der staatlichen Emanzipationsbestrebungen einiger „alter“ europäischer Nationen.* Mit anderen Worten: Autonomie ist in Katalonien, dem Baskenland und Schottland nicht beim Schutz der landeseigenen Sprache und Kultur an die Grenzen gestoßen, sondern am völkerrechtlich und demokratisch begründeten Anspruch auf Selbstregierung und volle Souveränität.

Territorialautonomie muss andererseits einen Mindestumfang an Zuständigkeiten und an einklagbaren Rechten umfassen. Ansonsten handelt es sich um eine bloße Fassade der Wahrung von Minderheitenrechten, die vor allem von autoritären Staaten vorgespielt wird – wie etwa in China. Echte Autonomie schafft einen Raum legislativer und exekutiver Selbstregierung durch lokal und demokratisch gewählte Organe. Ein gutes Beispiel für eine kleine, aber gut funktionierende Territorialautonomie ist die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien. Korsika dagegen konnte bisher keinen echt autonomen Status erreichen. Es verfügt zwar über einige Sprachenschutzrechte, aber über kein mit Gesetzgebungskompetenzen ausgestattetes Regionalparlament. Das ist das Herz einer demokratisch legitimierten Territorialautonomie.

Eine zweite Form von Autonomie ist die Kulturautonomie. Sie bezweckt den Schutz und die Förderung der Sprachen und Religionen, des kulturellen Erbes und Brauchtums von Minderheiten, die verstreut auf einem Staatsgebiet leben. Diese Form von Autonomie ist nur in Estland, Slowenien und Ungarn eingeführt worden. Durch eigene Selbstverwaltungsorgane sollen ethnisch-sprachliche Gemeinschaften ihr kulturelles Leben selbst gestalten. Die Sami in Nordskandinavien zum Beispiel leben verstreut, haben aber ihr eigenes Parlament und territorial bezogene Rechte. Die meisten Sprachminderheiten Europas leben jedoch in einem zusammenhängenden Siedlungsgebiet. Dies bietet die Voraussetzung für Regional- oder zumindest Lokalautonomie.

https://www.flickr.com/photos/nsrbilder/8884297132/
Die Sami sind ein indigenes Volk in Nordskandinavien. Sie leben verstreut, haben aber ihr eigenes Parlament und territorial bezogene Rechte. Foto: Norske Samers Riksforbund via Flickr

Sicherheit für Staat und autonome Regionen

Autonomie verlagert verfassungsrechtlich einen Teil staatlicher Macht bei Legislative und Exekutive auf die regionale Ebene, hin zu den direkt betroffenen Bürgern. Dadurch wird eine regionale Gemeinschaft in die Lage versetzt, möglichst alle kulturellen und sprachenrechtlichen Fragen selbst zu entscheiden. Darüber hinaus können die vor Ort gewählten politischen Vertreter aus allen Sprachgruppen andere Politikfelder in die eigenen Hände nehmen. Bei Autonomie dürfen sozial- und wirtschaftspolitische Zuständigkeiten sowie eine solide Finanzierung nicht zu kurz kommen – denn was bringt das Recht auf Sprachenschutz und Kulturautonomie, wenn die finanzielle Grundlage fehlt?

Was Autonomie im Unterschied zu einer bundesstaatlichen Ordnung nicht benötigt, ist ein institutionelles Mitentscheidungsrecht auf gesamtstaatlicher Ebene. Genauso wenig gefordert ist die Verankerung des Selbstbestimmungsrechts. Deshalb erweist sich auf rechtlicher Ebene die Befürchtung mancher Staaten Europas als haltlos, bei Gewährung von Autonomie als nächsten Schritt Sezession erwarten zu müssen. Dieses z.B. von Rumänien gegen seine ungarische Volksgruppe ins Feld geführte Argument ist vielmehr so zu lesen: So lange echte Autonomie gewährt wird, erübrigt sich die völkerrechtliche Selbstbestimmung. Ein europäisches Rahmenübereinkommen über Autonomierechte brächte Sicherheit für beide Seiten: Die Pflicht der Staaten, unter bestimmten Voraussetzungen Autonomie zu gewähren, aber auch den Verzicht der autonomen Regionen auf Sezession, solange die Autonomie respektiert wird.

Autonomie leistet, was weder die Europäische Rahmenkonvention noch neue Maßnahmen der EU für den Minderheitenschutz bewerkstelligen können: die politischen Rahmenbedingungen für wirksamen Schutz zu setzen. Die Minderheiten und die regionalen Gemeinschaften wissen selbst am besten, welche Rechte, Institutionen, Maßnahmen sich für ihren Schutz und ihre Entwicklung eignen. Autonome Gemeinschaften sind zudem in der Regel mehrsprachig. So müssen etwa das Baskenland, Wales, Südtirol, die Vojvodina täglich zwei Grundansprüche in Einklang bringen: Gleichberechtigung der Sprachgruppen und das friedliche Zusammenleben aller Gruppen in der Region.

Echte Autonomie schafft den institutionellen und finanziellen Rahmen einer Gleichberechtigung der Mehrheiten- und Minderheitensprachen. Fehlt diese Gleichberechtigung in den wichtigen Lebensbereichen von den Medien über die Ko-Offizialität in den Behörden bis zum Bildungssystem verliert die Minderheitensprache an Sprechern – sie verschwindet mit der Zeit. Die Sprachminderheiten in Frankreich – Korsisch, Bretonisch oder das Baskische – beweisen dies. Osteuropas Minderheiten haben mit Ausnahme von Gagausien in Moldawien und der Vojvodina in Serbien kaum Autonomie und sind deshalb noch stärker gefährdet.

Public Domain
Die Flagge der Åland-Inseln weht im Wind. Die Åland-Inseln gehören zu Finnland, genießen aber eine Territorialautonomie. Foto: Public Domain

Neuer Anlauf für mehr Autonomierechte gefragt

Die EBI Minority SafePack – sie kann noch bis zum 3. April 2018 online unterzeichnet werden – verschafft dem Anliegen der Minderheitensprachen mehr Sichtbarkeit. Doch das Vorhaben steht vor dem Scheitern: Zum Jahresbeginn 2018 waren noch nicht einmal 400.000 der erforderlichen Million Unterschriften beisammen. Trotzdem müssten sowohl die EU als auch der Europarat darauf drängen, dass betroffene Mitgliedstaaten mit Autonomie-interessierten Gemeinschaften in Verhandlung treten. Denn echte Autonomie sorgt für echten Minderheitenschutz, ohne die Souveränität eines Staats in Frage zu stellen.

 

*2018 wird dieses Recht auch von einer weiteren autonomen Region in der EU ausgeübt, nämlich vom zu Frankreich gehörenden Neukaledonien, seit 1997 mit Territorialautonomie ausgestattet. Dieser Fall ist in den Zusammenhang der Dekolonisierung einzuordnen.


Thomas Benedikter leitete in den 1990er Jahre die Südtiroler Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker und erstellte im Auftrag der EURAC Bozen Studien zur vergleichenden Autonomieforschung (z.B. „Moderne Autonomiesysteme“, POLITiS, 2012)

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