Ein Farmer in Osttimor: Die meisten Osttimoresen leben von der Landwirtschaft und der Fischerei. Bild: UN Photo via Flickr

Von Camilla Böttger

Nach einer langen Zeit der Fremdherrschaft und Unterdrückung hatte sich der Wunsch der Osttimoresen endlich erfüllt: Ihr Land wurde am 20. Mai 2002 in die Unabhängigkeit entlassen. Eine besondere Mitverantwortung für die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes trug Portugal als ehemalige Kolonialmacht, denn wegen der völkerrechtswidrigen Annexion durch Indonesien hatte die portugiesische Regierung den Dekolonisationsprozess in ihrer früheren Kolonie nie abschließen können.

Der 12. November ist kein gewöhnliches Datum für die Menschen in Osttimor. Alljährlich erinnern und gedenken sie an diesem Tag der Opfer des Massakers vom Santa- Cruz-Friedhof. „Wir entbieten unseren Respekt vor allem gegenüber den Toten, ihrem Kampf und ihrem Beitrag, den wir auch heute noch weiterführen müssen. Denn durch ihren Tod haben sie die Unabhängigkeit ermöglicht“, erklärte Justa Guterres anlässlich des 25. Jahrestages in einem Interview (Monika Schlicher und Maria Tschanz: In Solidarität mit Osttimor – 25. Jahrestag des Massaker vom Santa Cruz Friedhof, in Blickwechsel, Stiftung Asienhaus, Januar 2017), die die Stiftung Asienhaus leitet und insbesondere zu Osttimor/Timor-Leste arbeitet. Sie war selbst dabei gewesen und hat überlebt. Das Massaker ereignete sich am 12. November 1991 in Dili, der Hauptstadt Osttimors. Damals schoss das indonesische Militär ohne Vorwarnung auf friedliche Demonstranten, die sich zu einer Totengedenkfeier versammelt hatten und zum Friedhof zogen. Mehr als 270 Menschen starben, von den meisten fehlt bis heute jede Spur. Der Trauermarsch galt zwei jungen Männern, die bei vorherigen Unruhen von indonesischen Soldaten getötet worden waren. Es war eine Aktion des zivilen Widerstandes gegen die langjährige Unterdrückung durch das indonesische Militär, die brutal niedergeschlagen wurde. Dieses Massaker ist nur eines von vielen Gewaltverbrechen in der Geschichte Osttimors.

Osttimor, offiziell die Demokratische Republik Timor-Leste, ist ein unabhängiger Inselstaat in Südostasien und Teil der Insel Timor, die zwischen Australien und Indonesien liegt. Die Ost-West-Teilung der Insel geht auf die Epoche der Kolonialisierung zurück. Mitte des 19. Jahrhunderts beanspruchte Portugal den Osten Timors als Kolonie, während der Westen erst durch die Niederländer besetzt und 1949 Teil von Indonesien wurde. Osttimor gehörte bis in die 1970er Jahre zu Portugal. Erst der Militärputsch 1974 in Lissabon, bei dem das Regime des Premierministers Marcelo Caetano gestürzt wurde, leitete in Portugal einen Dekolonisationsprozess ein. Infolge gewalttätiger Auseinandersetzungen im August 1975 verlor die portugiesische Kolonialverwaltung die Kontrolle über das Gebiet und verließ fluchtartig die Insel. Daraufhin erklärte die Befreiungsbewegung FRETILIN, als stärkste politische Kraft im Land, Osttimor am 28. November 1975 für unabhängig. Neun Tage später marschierte das indonesische Militär in Osttimor ein und annektierte das Gebiet als seine 27. Provinz. Mit der gewaltsamen Besetzung begann eine lange Serie von schweren Menschenrechtsverletzungen, die Hunderttausenden Osttimoresen das Leben kostete. Heute ist unumstritten: Indonesien beging Völkermord in Osttimor.

Moderne Malerei aus Osttimor: Das Gemälde „Drei lächelnde Frauen“ hat die NGO East Timor Development Agency in Auftrag gegeben, um der osttimoresischen Unabhängigkeit ein künstlerisches Denkmal zu setzen. Die Frauen tragen traditionelle Gewänder und traditionellen Schmuck. Foto: Graham Crumb via Flickr

Die Vereinten Nationen (UN) haben weder die einseitig erklärte Unabhängigkeit der FRETILIN, noch die völkerrechtswidrige Besetzung durch Indonesien je anerkannt. Indonesien hielt Osttimor zwar besetzt, doch Portugal blieb für die UN weiterhin die zuständige Verwaltungsmacht. Als Reaktion auf die Fremdherrschaft und die anhaltende Gewalt formierte sich in Osttimor der bewaffnete Widerstand der Guerilla. In den neunziger Jahren wandelte sich dieser zu einem breiten zivilen Bündnis, der besonders von jungen Menschen getragen wurde, die jede Gelegenheit zu Demonstrationen nutzten. Eine dieser Protestaktionen war der Trauermarsch zum Santa Cruz Friedhof am 12. November 1991. Zufällig waren ausländische Journalisten anwesend. So kam das Ereignis an die Öffentlichkeit und löste international eine Welle der Bestürzung aus. Ihr brutales Vorgehen gegen die Bevölkerung Osttimors konnte die indonesische Regierung nun nicht mehr leugnen. Sie betonte, das Massaker sei ein „Unfall“ gewesen. Dennoch ordnete der UN-Sonderberichterstatter, der die Geschehnisse von damals untersuchte, den Vorfall als gezielte militärische Aktion ein.

Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an den Bischof Carlos Belo sowie dem im Exil lebenden Widerstandsführer Jose Ramos-Horta 1996 wurde Osttimor nun auch die nötige politische Aufmerksamkeit geschenkt. Ihr Engagement um eine friedliche Konfliktlösung trug entscheidend dazu bei, die internationale Wahrnehmung des Suharto-Regimes zu verändern. Präsident Suharto hatte Indonesien 32 Jahre lang diktatorisch regiert, sodass mit seinem erzwungenen Rücktritt im Mai 1998 schließlich eine politische Lösung des Konfliktes angestrebt werden konnte.

Im Januar 1999 bot Suhartos Nachfolger, Bacharuddin Jusuf Habibie, überraschenderweise an, über die Unabhängigkeit Osttimors abzustimmen. Dieser politische Schachzug war durchaus vorteilhaft für Indonesien: Der ungelöste Osttimor-Konflikt belastete nicht nur die außenpolitischen Beziehungen, sondern kostete dem Staat auch große Summen. Unter Vermittlung der UN mündeten die Verhandlungen zwischen Indonesien und Portugal in einem Vertrag, der ein Referendum über die Zukunft Osttimors vorsah. Im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes der Völker konnten die Menschen in Osttimor nun selbst entscheiden, ob sie bei Indonesien bleiben wollten oder einen eigenen Staat befürworteten. Am 30. August 1999 stimmten die Osttimoresen mit einer beeindruckenden Mehrheit von 78,5 Prozent für die Unabhängigkeit.

Feierlichkeiten anlässlich des Befreiungstages, der jedes Jahr am 20. September begangen wird: An diesem Datum griffen die Vereinten Nationen 1999 ein, um die indonesische Besetzung zu beenden. Foto: UN Photo via Flickr

Bereits vor der Wahl hatte das indonesische Militär paramilitärische Truppen, sogenannte pro-indonesische Milizen, ausgerüstet und zur Einschüchterung der Bevölkerung eingesetzt. Nach dem eindeutigen Votum für die Unabhängigkeit eskalierte die Gewalt in Osttimor. Der Verein Indonesia Watch berichtete, dass bei den Ausschreitungen 70 Prozent der Infrastruktur zerstört wurde und die pro-indonesischen Milizen mordend und plündernd durchs Land zogen. Tausende Menschen wurden ermordet, vergewaltigt und vertrieben. Die Weltgemeinschaft entschloss sich einzugreifen. Am 15. September genehmigte der UN-Sicherheitsrat die multinationale Friedenstruppe INTERFET, die unter australischem Kommando stand und fünf Tage später in Dili landete. Im Oktober wurde den Vereinten Nationen das Mandat übertragen, mithilfe der UNTEAT-Mission eine provisorische Verwaltung in Osttimor aufzubauen. Die UNTEAT-Mission diente dazu, Osttimor auf seine Unabhängigkeit vorzubereiten. Nach Ablauf des Mandats wurde Osttimor am 20. Mai 2002 von UN-Generalsekretär Kofi Annan in die Unabhängigkeit entlassen, der Widerstandskämpfer Xanana Gusmão zum ersten Präsidenten gewählt.

Portugal spielte eine entscheidende Rolle bei der Entlassung des Landes in die Unabhängigkeit. Bereits zuvor hatte sich die ehemalige Kolonialmacht vor der internationalen Gemeinschaft für das Selbstbestimmungsrecht der Osttimoresen eingesetzt. Im Anschluss an die erfolgte Unabhängigkeit der FRETILIN 1975 stellte die portugiesische Regierung klar, sie werde weder die Unabhängigkeitserklärung, noch die gewaltsame Eingliederung in den indonesischen Staat anerkennen. Damit war Portugal international weiterhin die zuständige Verwaltungsmacht. Die UN-Generalversammlung und der UN-Sicherheitsrat verabschiedeten anschließend Resolutionen, in denen die indonesischen Truppen zum Rückzug aufgefordert und Osttimors Recht auf Selbstbestimmung bestärkt wurde. Die insgesamt zehn von1975 bis 1982 verabschiedeten Resolutionen zu Osttimor betonten zwar die Unrechtmäßigkeit der gewaltsamen Aneignung des Landes durch Indonesien. Gegen Indonesien wurden jedoch keine Sanktionen verhängt. Zwar wurde das brutale Vorgehen gegen die Osttimoresen international verurteilt. Doch Indonesien wurde nicht zur Rechenschaft gezogen – zu bedeutend waren die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen. Die meisten westlichen Staaten ignorierten den anhaltenden Völkermord und unterstützten die indonesische Armee sogar mit Waffenlieferungen.

Die Regierung in Lissabon stand immer wieder in Kontakt zu den Oppositionellen in Osttimor. Die Vertreter der osttimoresischen Parteien FRETILIN und UDT übermittelten 1988 dem portugiesischen Präsidenten Mario Soares ein Dokument zur Lage in Osttimor. Nach ihren Vorstellungen sollte ihnen während einer Übergangsperiode die Verantwortung für Osttimor übertragen werden, um den Dekolonisationsprozess abzuschließen. Nach dem Vorfall am Santa Cruz Friedhof in Dili 1991 appellierte Soares an den UN-Generalsekretär Perez de Cuellar, dringend Maßnahmen zu ergreifen, um die Spirale der Gewalt und die Verletzung von Völkerrecht und UN-Resolutionen in Osttimor zu beenden. In Reaktion auf die Ausnahmesituation nach dem Votum für die Unabhängigkeit brachte Portugal wiederholt den Fall vor die Vereinten Nationen und forderte, eine UN-Eingreiftruppe aufzustellen. Damals sagte Portugals Staatspräsident den Fernsehsendern CNN und BBC World, dass das „dramatische Chaos“ in Osttimor „ein schnelles Handeln“ verlange.

Diese Frau zeigt bei den Parlamentswahlen 2012 ihre Wahlregistrierungskarte in die Kamera. Foto: UN Photo via Flickr

Portugal nahm durchaus eine Vorbildfunktion ein und zeigte, dass es als ehemalige Kolonialmacht eine besondere Mitverantwortung für die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes der Osttimoresen zu tragen hatte. Offen bleibt jedoch, inwieweit das Land Mitschuld an der „Invasion“ der indonesischen Streitkräfte 1975 hatte. Als Portugal ab den 70er Jahren die Dekolonisation in Osttimor einleitete, war das Land grundsätzlich dazu bereit, den Prozess durchzuführen. Der Nachbarstaat Indonesien erhob jedoch kurze Zeit später Ansprüche auf das Gebiet und setzte dazu militärische Gewalt ein. Damit wurde der Dekolonisationsprozess abrupt unterbrochen. Ob Portugal wegen der Probleme im eigenen Land* einfach mit der Entwicklung in ihrer damaligen Kolonie überfordert war, kann nur vermutet werden.

Mit der Entlassung in die Unabhängigkeit hatten die Osttimoresen ihr langersehntes Ziel endlich erreicht, doch der Aufbau eines demokratischen Staatswesens benötigt Zeit, zumal Osttimor nicht auf Erfahrungen zurückgreifen kann. Nach der Unabhängigkeit erfüllten sich die Hoffnungen auf eine Verbesserung der Lebensstandards nicht, sodass es in den Folgejahren immer wieder zu Protesten und Unruhen kam. Ein Beispiel ist die politische Krise 2006, die durch die Entlassung von 600 streikenden Soldaten ausgelöst wurde. Sie hatten sich zuvor beklagt, dass sie bei Beförderungen übergangen und Soldaten aus dem Osten von Osttimor gegenüber jenen aus dem Westenbevorzugt wurden. Aufsehen erregten ebenfalls die Attentatsversuche auf den Präsidenten José Ramos-Horta und den Premierminister Xanana Gusmão im Jahr 2008.

Die anhaltende politische Instabilität des Landes zeigt, dass die Bevölkerung bis heute unter den traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit leidet. Armut, Arbeitslosigkeit und Gewalt stehen Frieden und Nationalgefühl im Weg. Eine besondere Verantwortung für Osttimors Zukunft liegt heute nun nicht mehr in Portugals Händen, sondern bei der Jugend. Auch Justa Guterres, die damals das Massaker vom Santa Cruz Friedhof überlebt hat, appelliert an die Jugendlichen in Osttimor: „Früher, zu meiner Jugendzeit, sagten wir, dass wir die Schule vernachlässigen sollten, um Teil der Bewegung für die Unabhängigkeit zu werden. Heute muss der Beitrag der Jugend Lernen und Wissen sein. Nur so können sie zur Weiterentwicklung dieses Landes beitragen.“

* Der Militärputsch im April 1974 bedeutete für Portugal nicht nur das Ende der repressiven Diktatur, sondern leitete auch die Demokratisierung ein. Nach dem Umsturz war Portugal zunächst mit der gesellschaftlichen sowie politischen Umgestaltung des eigenen Staates beschäftigt. Außerdem belasteten die Wirtschaftskrise und die andauernden Kriege in den Kolonien den Staatshaushalt. Die ehemalige Kolonialmacht war wirtschaftlich geschwächt. Naheliegend ist daher, dass Portugal Osttimor vor der Annexion nicht schützen konnte.


Camilla Böttger studiert im Bachelor Ethnologie und Geographie an der Universität zu Köln. Im Sommer 2017 absolvierte sie ein Praktikum in der Redaktion von bedrohte Völker - pogrom.



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