Indien

Multireligiosität in Gefahr

Ein Mann liest den Koran in Ajmer im Bundesstaat Rajasthan. Muslimen in Indien wird oft vorgeworfen, eine überproportional wachsende Bevölkerungsgruppe zu sein. Diese Angstmacherei soll Hinduisten dazu bewegen, mehr Kinder in die Welt zu setzen, damit sie weiter in der Mehrheit bleiben. Dem Zensus aus dem Jahr 2011 zufolge ist allerdings fraglich, ob Indien wirklich eine rapide steigende muslimische Bevölkerung fürchten müssen: Hinduisten stellen immer noch 80,5 Prozent der Bevölkerung, Muslime nur 13,4 Prozent. Foto: aluxum via istock

Von Anna Hobbiebrunken

Die indische Verfassung garantiert die freie Ausübung der Religion, unabhängig von Rasse, Kaste, Geschlecht oder dem Geburtsort. Diese rechtlich garantierten Freiheiten scheinen jedoch seit dem Machtantritt von Premierminister Narendra Modi und seiner hindu-nationalistischen Volkspartei BJP im Mai 2014 nicht mehr zu zählen. Die BJP propagiert jedoch die Vormachtstellung des Hinduismus und fordert gar einen „Hindu-Staat“. Dieses hindunationalistische Gedankengut scheint auch bei Teilen der hinduistischen Mehrheitsbevölkerung zu fruchten: Die Gewalt gegen Christen und Muslime ist in den vergangenen Jahren weiter angestiegen, wie Berichte des Nationalen Rates der Kirchen in Indien (National Council of Churches in India/NCCI) und der Organisation Christliche Solidarität Weltweit (Christian Solidarity Worldwide) zeigen. Das Repertoire reicht von Alltagsdiskriminierungen bis hin zu Vergewaltigungen und Auspeitschungen.

Es hat auch schon religiös motivierte Todesfälle gegeben, wie etwa das Massaker in Kandhamal im Bundesstaat Orissa, das sich bereits 2008 ereignet hat. Nach offiziellen Angaben wurden 38 Christen ermordet, die Dunkelziffer wird allerdings höher geschätzt. Tagelang wurden Kirchen, Häuser und andere religiöse Stätten zerstört. Tausende Menschen flohen. Auslöser war damals der Mord an Laxmananda Saraswati, ein hindunationalistischer Anführer der Organisation Vishwa Hindu Parishad (Hindu-Weltrat/VHP). Christen wurden für die Tat verantwortlich gemacht, obwohl Naxaliten, eine maoistisch-separatistische, gewaltbreite Bewegung, hinter dem Mord steckten.

Auch vor Pastoren halten sich nationalistische Hindus nicht zurück. Vier Maskierte attackierten den Pastor Lalta Ram am 22. Mai 2016 in Naupur im Bundesstaat Uttar Pradesh während eines Gottesdienstes mit Bambusstöcken. Sie schlugen so lange auf ihn ein, bis er bewusstlos wurde. Er wurde beschuldigt, Zwangskonvertierungen durchzuführen. Seine Frau Sushila Devi und Besucher des Gottesdienstes versuchten, ihm zur Hilfe zu kommen, wurden jedoch ebenfalls verletzt.

Muslime sind noch stärker betroffen als die christliche Minderheit. Sie werden als Terroristen diffamiert und teilweise sogar aufgefordert, nach Pakistan oder Bangladesch zurückzukehren, da sie in den Augen vieler radikaler Hindus keine „richtigen“ Inder seien.

Muslime als Schlächter der heiligen Kuh

Angriffe gegen Muslime gibt es auch immer wieder, wenn wichtige Symbole des Hinduismus „entweiht“ werden. So gibt es die Organisation zum Schutz der Kuh (Gau Raksha Dal). Sie taucht zum Beispiel dort auf, wo Kühe – die Tiere sind Hinduisten heilig – geschlachtet, gehäutet oder zum Verzehr verkauft wird. Oft schlagen Mitglieder der Organisation ihre Opfer brutal nieder oder zwingen sie, Kuhexkremente zu essen. Insbesondere Muslime und hinduistische Dalits, die sogenannten Kastenlosen, sind von diesen Übergriffen betroffen. Verheerend wurde es im Juli 2016 für eine Dalit-Familie in der Stadt Una im Bundesstaat Gujarat. Mit Stöcken und Eisenstangen bewaffnet gingen Mitglieder der gewaltbereiten Organisation auf ein Ehepaar, dessen zwei Söhne und drei weitere Verwandte los. Vier von ihnen wurden auf dem Weg zur Polizeistation ausgepeitscht. Aus Protest über diesen brutalen Übergriff traten 200 Dalits im Oktober 2016 zum Buddhismus über. Am 24. August 2016 wurden zwei Musliminnen im Distrikt Mewat im Bundesstaat Haryana von vier Männern aus Rache vergewaltigt. Sie wurden beschuldigt, Kuhfleisch gegessen zu haben. Zudem wurden zwei ihrer Verwandten ermordet.

https://www.flickr.com/photos/jaumescar/24578805341
Die Kuh ist den Hindus heilig, weil sie die Menschen mit fünf heiligen Gaben versorgt: Ghee, eine Art Butterschmalz, das zum Kochen verwendet wird; getrockneter Kuhdung, der als Brennmaterial und Dünger dient; der Urin der Kuh, der als Heilmittel eingesetzt wird; die Milch und Joghurt, mit dem Lassi, ein beliebtes Getränk zubereitet wird. Foto: Jaume Escofet via Flickr

Anti-Konversionsgesetze zum Schutz der hinduistischen Mehrheit

Die Anti-Konversionsgesetze spiegeln beinahe am stärksten die Deklassierung des Islam in Indien wider. Das Gesetz wird vor allem für diejenigen Bevölkerungsgruppen missbraucht, die dem Hinduismus den Rücken kehren wollen, um zum Buddhismus, Christentum oder Islam zu konvertieren. Dadurch soll sichergestellt werden, dass der Hinduismus nicht an Anhängern verliert. Den Behörden muss mitgeteilt werden, dass man konvertiert und warum. Das muss einen Monat vor dem Übertritt zu einer anderen Religion geschehen. Wenn die Monatsfrist nicht eingehalten wird, drohen hohe Geld- oder sogar Gefängnisstrafen. Für Kastenlose fallen die Strafen entsprechend höher aus. Wenn jedoch Menschen zum Hinduismus übertreten, wird das Gesetz kaum beachtet. Das gibt insbesondere radikalen Hindus Raum, Zwangskonvertierungen durchzuführen.

Hinduistische Werte an Schulen

Doch auch andere staatliche Beschlüsse spielen nationalistischen Hindus in die Hände. Bereits kurz nach dem Machtwechsel setzte die Regierung Schulreformen durch. Yoga ist ebenso wie das morgendliche Singen der Nationalhymne, bei dem Schüler in Reih und Glied stehen, zur Pflicht geworden. In einer wöchentlich stattfindenden Kulturstunde werden hinduistische Götter oder Nationalhelden geehrt und hinduistische Festtage gefeiert. In den Lehrbüchern sind bereits Legenden hinduistischer Gottheiten zu finden. Zudem werden nationalistische Gedichte auswendig gelernt, sowohl in der jeweiligen Regionalsprache als auch in Englisch.

Des Weiteren plant die Regierung ein religionsübergreifendes, für alle in Indien lebenden Menschen gültiges Familiengesetz. Bisher hat jede Religion ihre eigene Gesetzgebung im Familienrecht, in die sich der Staat nicht einmischen darf. Insbesondere Muslime sollen dem neuen Gesetz nach davon abhalten können, polygame Ehen zu führen, oder aus Sicht radikaler Hindus, frauenverachtende Scheidungsgesetze zu nutzen, die im islamischen Recht festgeschrieben sind. 

Die Nationalhymne wird Pflicht in indischen Kinos

Ein weiteres, am 1. November 2016 in Kraft getretenes Gesetz, verpflichtet jedes Kino, vor dem Zeigen eines Films die Nationalhymne zu spielen. Die Besucher müssen dazu aufstehen und auf diese Weise Respekt ihrem Land gegenüber zeigen. Dieser Beschluss ist ein weiteres Zeichen dafür, dass Indien ein einheitliches Nationalgefühl immer weiter in den Mittelpunkt rücken will. Doch einigen Indern greift dieses Gesetz zu stark in die Privatsphäre ein. So kam es bereits in einigen Kinos zu Schlägereien zwischen Besuchern, die die Nationalhymne gesungen, und Menschen, die das Singen verweigert haben.

Bereits im Dezember 2014 beschloss die neue Regierung, den „Good Governance Day“ auf den 25. Dezember als jährlichen Feiertag zu legen. An diesem Tag soll besonders gezeigt werden, was für ein hart arbeitender Mensch man ist und wie sehr man deshalb ein guter indischer Bürger ist. Er kann an diesem Tag beweisen, wie sehr er seinem Land dient, indem er arbeitet. Nun fällt der Tag jedoch mit Weihnachten zusammen. Die hindunationalistische Regierung will so verhindern, dass Christen diesen Feiertag begehen und stattdessen ihrer Arbeit nachgehen.

Eine Kirche im Bundesstaat Kerala im Südwesten Indiens. Foto: Skouatroulio via istock

Regierung sperrt ausländische Spenden für Hilfsorganisationen

Die hindunationalistische Regierung versucht mit allen juristischen Mitteln, die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen stärker zu kontrollieren und einzuschränken. Unter Hinweis auf ein Gesetz aus dem Jahr 2010, das ausländische Finanzierungen von Aktivitäten in Indien restriktiv regelt, verloren allein 2016 mehr als 11.300 Nichtregierungsorganisationen die Erlaubnis, ihre Arbeit mit Zuwendungen aus dem Ausland zu finanzieren. Insgesamt sind seit 2014 nun schon 22.000 Organisationen in Indien von diesen Restriktionen betroffen. Menschenrechtsorganisationen und kirchliche Hilfswerke leiden massiv unter diesen Einschränkungen, manche Vereine sind sogar in ihrer Existenz gefährdet. Das Ziel der Regierung: vermeintlich „westliche Einflüsse“ verringern und kritische Stimmen mundtot machen.

Auch Indiens Kirchen sind in einer schwierigen Lage. Fast täglich bekommen sie Berichte über neue Übergriffe auf Christen und Einschränkungen der Glaubensfreiheit. Doch sie fürchten noch mehr Verfolgung durch Hindu-Nationalisten, wenn sie die prekäre Menschenrechtslage öffentlich anprangern.

Angesichts dieses massiven Drucks muss sich die deutsche Regierung mehr für die Rechte religiöser Minderheiten in Indien einsetzen. Obwohl Premierminister Modi immer wieder beteuert, religiöse Freiheit zu garantieren, sieht es in der Praxis anders aus. Die religiösen Minderheiten werden zunehmend zu Außenseitern in einem Land, das kulturell, religiös und gesellschaftlich vielfältiger nicht sein könnte. Es gilt nun den Druck auf Modi zu erhöhen, damit er sich politisch stark macht für alle Bürger seines Landes.


Anna Hobbiebrunken studiert Sozialwissenschaften im Bachelor mit den Schwerpunkten Politikwissenschaften, Interdisziplinäre Indienstudien und Ethnologie. 2016 hat sie das Asienreferat der Gesellschaft für bedrohte Völker unterstützt.



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