Im Gespräch mit Scheich Murshid al Khaznawi

„Ich bin gegen die Entstehung von islamischen Staaten“

Text: Scheich Murshid al Khaznawi (4. v. r.) im Jahr 2011 bei einer Hausveranstaltung der Gesellschaft für bedrohte Völker über Minderheiten im Islam Foto: Katja Wolff/GfbV

Er ist Islamgelehrter und setzt sich für interreligiösen Dialog ein – Scheich Murshid al Khaznawi, der im norwegischen Exil Imam in einer Moschee ist. GfbV-Nahostreferent Kamal Sido wollte mehr über das Engagement des muslimischen Geistlichen wissen.

Muslime werden zurzeit vermehrt mit dem Vorwurf konfrontiert, dass es in den mehrheitlich muslimischen Ländern zur massiven Verfolgung von Nicht-Muslimen kommt. Ist dieser Vorwurf richtig?

Ja, das ist richtig. Sehen Sie, was mit den kurdischen Yeziden im Irak geschehen ist! Sie wurden im Namen des Islam vom sogenannten Islamischen Staat (IS) getötet oder vertrieben, yezidische Frauen wurden vergewaltigt und versklavt. Das gilt auch für die Assyrer/Aramäer/Chaldäer. In muslimischen Ländern werden aber auch Muslime verfolgt, die einer anderen Konfession als der Mehrheitsgesellschaft angehören: Schiiten in Saudi-Arabien oder Sunniten im Iran beispielsweise. Wenn man den Islam kennenlernen möchte, dann muss man auf zwei Quellen zurückgehen: Auf den Koran und die Hadithen*. Warum? Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Islam als Glaube und den Muslimen als Menschen. Ganz gleich in welchem Land ich mich befinde, ich spreche von dem Islam. Aber in der Praxis bin ich nicht für das verantwortlich, was Muslime tun. Denn Muslime sind Menschen: Manche folgen den Vorgaben, manche eben nicht. Der Islam sagt, man soll nicht lügen. Viele Muslime lügen aber. Der Islam sagt, man darf nicht unterdrücken. Viele Muslime unterdrücken aber. Der Islam sagt, man darf nicht betrügen. Viele Muslime betrügen aber. Leider missbrauchen und instrumentalisieren islamistische Terrororganisationen den Islam. Wir stehen nicht vor einem „islamischen“ Terror, sondern vielmehr vor einer „Islamisierung“ des Terrors.

Welche Stellung haben die Minderheiten im Islam?

Im Islam gibt es den Begriff „Minderheit“ nicht. Zunächst muss man überlegen: Was ist eine Minderheit? Eine Minderheit ist eine Gruppe, die sich durch gewisse Merkmale wie Sprache, Glaube oder Kultur von der Mehrheit unterscheidet. Ich weiß nicht, wie andere islamische Geistliche zu den Rechten der Minderheiten stehen. Für mich aber gilt der Grundsatz: Jede Minderheit innerhalb eines Staates hat das Recht sich zu artikulieren und so zu leben wie sie möchte – ganz im Sinn von Demokratie, Gleichberechtigung und Gleichheit vor dem Gesetz. Und es ist die Aufgabe des Staates, Minderheiten zu schützen und für ihre Rechte zu garantieren. Im Übrigen mach Gott keine Unterschiede zwischen Ethnien und Sprachen. „O ihr Menschen! Wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und haben euch zu Völkern und Stämmen werden lassen, damit ihr euch kennenlernt. Der Edelste vor Gott ist der Frommste unter euch. Gottes Wissen und Kenntnis sind unermesslich“, heißt es in der 49. Sure des Korans. Daher unterscheidet der Islam nicht zwischen Volksgruppen. Doch in der Realität sieht es anders aus. Muslime verfolgen andere Muslime, die einer anderen Ethnie, wie die Kurden etwa, angehören. 

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Nicht nur Scheich Murshid al Khaznawi setzt auf interreligiösen Dialog: Imam Oumar Kobine Layama (von links nach rechts), der katholische Erzbischof Dieudonné Nzapalainga und der evangelische Pastor Guerekoyame-Gbangou aus der Zentralafrikanischen Republik haben die Interreligiöse Friedensplattform ins Leben gerufen, um Muslime, Katholiken und Protestanten davon zu überzeugen, auf Gewalt zu verzichten. Foto: UN Geneva via Flickr

Was sagt der Islam über andere Weltanschauungen und Glaubensgemeinschaften?

Wenn im Koran vom Judentum und Christentum die Rede ist, dann wird von den sogenannten Buchreligionen gesprochen. Alle folgen einer Offenbarung; alle sind Menschen und Christen, Muslime, Yeziden folgen jeweils dem Weg, den sie als den richtigen erkennen. Jeder hat das Recht zu glauben oder nicht zu glauben. Man kann niemanden zum Islam zwingen.

Viele Muslime instrumentalisieren die Religion, sie missbrauchen den Islam. Was können Sie dazu sagen?

Ja, der Islam wird von vielen Muslimen für politische Ziele missbraucht. Auch Staaten missbrauchen den Islam, um ihre geopolitischen nationalen Interessen durchzusetzen. Das wird beispielsweise von Saudi-Arabien, dem Sudan und Iran sowie der Türkei getan. Diese vier Staaten bezeichnen sich als islamische Staaten. Saudi-Arabien, in der Mehrheit sunnitisch, unterdrückt die Schiiten. Iran, in der Mehrheit schiitisch, unterdrückt die Sunniten. Im Sudan werden Christen verfolgt. Kurden werden im Iran und in der Türkei verfolgt, auch wenn sie mehrheitlich Muslime sind. In diesem Fall werden sie unterdrückt, weil sie eine ethnische Minderheit sind. Erdogan führt die islamisch-konservative AKP. Er wurde an unseren islamischen Schulen** erzogen. Er verurteilt gerne die Israelis. Aber gleichzeitig führt er einen gnadenlosen Krieg gegen die Kurden in der Türkei und in Syrien. Das nennt man Doppelmoral.

Wie stehen Sie zu einem islamischen Staat, der nach den Prinzipien der Scharia aufgebaut ist?

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Kurdisches Mädchen in Diyarbakir: Obwohl die Kurden im Osten der Türkei auch Muslime sind, geht Erdogan unerbittlich gegen sie vor. „Das nennt man Doppelmoral“, sagt Scheich Murshid al Khaznawi. Foto: Adam Jones via Flickr

Ich bin gegen die Entstehung von islamischen Staaten. Ich setzte mich für die Entstehung von zivilen Gesellschaften ein. Wir Muslime dürfen uns nicht zu Gefangenen unserer Vergangenheit machen. Muslime müssen die Vergangenheit richtig aufarbeiten, sonst geht die Zukunft verloren. Die Extremisten behaupten, es habe in der Geschichte einen „Islamischen Staat“ gegeben. Doch das stimmt nicht. Seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches versuchen extremistische Gruppen immer wieder, ein Kalifat zu errichten. Doch das ist eigentlich nicht ihr Hauptziel, vielmehr wollen sie einfache gläubige Muslime instrumentalisieren und mobilisieren, um nationale ethnische oder andere Interessen durchzusetzen. Das bringt jedoch nur Leid über Muslime und Nicht-Muslime. Daher ist es so wichtig, für einen demokratischen, laizistischen Staat zu kämpfen. Und wir müssen diejenigen, die Religion missbrauchen, um Diktaturen zu errichten, in aller Öffentlichkeit und Deutlichkeit bloßstellen.

Sie leben seit einigen Jahren in Norwegen und leiten dort eine Moschee. Was können muslimische Geistliche wie Sie, die in Europa leben, aber Wurzeln im Nahen Osten haben, tun, um die Diskurse dort zu beeinflussen? Können sie in freiheitlichen Gesellschaften neue theologische Ansätze entwickeln?

Die Freiheiten, die ich in Norwegen habe, hatte ich niemals in meiner Heimat. Ganz im Gegenteil: Ich wurde in meiner Heimat, obwohl ich Muslim bin, diskriminiert, unterdrückt und verfolgt – und dass nur, weil ich Kurde bin. Meine Erfahrungen in Europa versuche ich immer wieder an Geistliche im Nahen Osten weiterzugeben. Auf internationalen Konferenzen und in Radio- und Fernsehinterviews erzähle ich von den gut funktionierenden Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Europa. So kann ich, so können wir auf die Entwicklungen im Nahen Osten auch Einfluss nehmen. In Europa können wir neue theologische Ansätze entwickeln. Hier können wir nahezu ohne Angst vor Verfolgung zu allen möglichen politischen und gesellschaftlichen Themen Stellung nehmen. Dazu sind wir auf die Unterstützung von Regierungen, Parteien, wissenschaftlichen Institutionen sowie von der Kirche und Gesellschaft angewiesen. Kurz gesagt: Wir Muslime müssen uns und unser Islamverständnis an den freiheitlich-demokratischen Prinzipien anpassen.

* Bei den Hadithen handelt es sich um die gesammelten Aussprüche, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben werden. Sie sind neben dem Koran die wichtigste Quelle für die religiösen Vorschriften im Islam.

** Erdogan besuchte nach der Grundschule eine Imam-Hatip-Schule. Dies sind in der Türkei religiös ausgerichtete Fachgymnasien.


Zur Person

Der Islamgelehrte Scheich Murshid al Khaznawi wurde 1977 in Qamishli in Syrien geboren. Sein Vater war der kurdische Islamgelehrte Scheich Muhammad Maashuq al Khaznawi; das Regime von Baschar al-Assad ließ ihn 2005 umbringen. Scheich Murshid studierte Islamwissenschaft und lebt seit 2006 im norwegischen Exil. Auch sein Leben war in Gefahr. In Norwegen ist er Imam und Freitagsprediger der kurdisch-islamischen Moschee in Sarpsborg sowie Sprecher der Gesellschaft für religiöse Toleranz Dr. Maashuq al Khaznawisk, die sich für die Integration von Migranten in Norwegen einsetzt. Er moderiert zahlreiche Sendungen zu gesellschaftlichen und religiösen Themen auf verschiedenen TV-Sendern wie „Payam“ und „Rosengarten“ auf Kurd1-TV und „Religion und Gesellschaft“ auf dem Kanal Newroz-TV sowie „Qibla Botschaft“ auf Ronahi-TV. Scheich Murshid al Khaznawi gehört dem kurdischen Sufi-Orden Khaznawi an.



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