Yeziden

„Die menschliche Vernunft hat vor religiösen Regeln Einzug gehalten“

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Diese Yezidin ist mit ihrem Kind vor dem Islamischen Staat geflohen. Foto: Marco Gomes via Flickr

Der Psychologe Jan Ilhan Kizilhan hat sich auf dem Feld der Traumatologie spezialisiert. Im Rahmen des Projektes „Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“ half er dabei, in der nordirakischen Stadt Dohuk ein Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie an der Universität Duhok zu eröffnen. Warum eine solche Einrichtung vor Ort notwendig ist und was ihn dazu bewegt, eine derart wichtige Arbeit zu leisten, erläutert er in einem Gespräch mit Sandy Naake.

Im März waren Sie im nordirakischen Dohuk, um ein Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie an der Universität Duhok zu eröffnen. Dort sollen junge Menschen aus der Region zu Psychotherapeuten ausgebildet werden. Warum braucht es eine solche Gesundheitsversorgung vor Ort?

Weil der ganze Nahe Osten bisher keine akademische Ausbildung für Psychotherapie und Psychotraumatologie anbietet. Schon während der Saddam-Ära und mit dem Einmarsch des Islamischen Staates wurden Hunderttausende Menschen traumatisiert. Und die Menschen müssen ihre Traumata vor Ort verarbeiten. Deshalb ist es wichtig, Psychotherapie in die allgemeine Gesundheitsversorgung zu integrieren. An dem Institut werden die Menschen in drei Jahren nach dem deutschen Psychotherapeutengesetz ausgebildet. Zeitgleich können sie auch einen Masterstudiengang in Psychotherapie und Psychotraumatologie absolvieren.

Spielt es eine Rolle, ob die Therapeuten aus dem gleichen Kulturkreis kommen beziehungsweise dieselbe Sprache sprechen?

Der Traumatologe Jan Ilhan Kizilhan. Foto: Privat

Es ist immer von Vorteil, wenn man die gleiche Sprache spricht, da die Sprache besonders in der Psychotherapie wichtig ist. Nur so sind wir in der Lage, eine Diagnose zu treffen und die Betroffenen gezielt zu behandeln. Außerdem herrscht in diesen Kulturen ein anderes Krankheitsverständnis, sie äußern Symptome anders als etwa in Europa, wie zum Beispiel die fallende Nabelschnur als Ausdruck einer emotionalen Belastung. All das erschwert die Arbeit. Unsere jetzigen Studierenden jedoch kommen aus dieser Kultur, sie sprechen die Sprache und können ihr Wissen mit unserem Know-how der westlichen Medizin sowie Psychotherapie gut kombinieren. Wir lernen natürlich auch viel über die Kultur und von den Menschen. Möglicherweise werden wir mit diesen neuen Erkenntnissen therapeutische Methoden entwickeln, mit denen wir auch Migranten in Deutschland helfen können.

2015 initiierte die baden-württembergische Landesregierung das vielbeachte Projekt „Sonderkontingent für besonders schutzwürdige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“. Rund 1.100 traumatisierte yezidische Frauen und Kinder, aber auch Schiiten, Kakai und Christen sind nun in Deutschland, um ihre schlimmen Erlebnisse therapeutisch aufzuarbeiten. Welches Behandlungskonzept verfolgen Sie?

Diese Frauen gehören zu den ersten Gruppen, die wir im Irak, nach ihrer Freilassung aus den Fängen des IS untersucht haben. Sie leiden alle unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, Depressionen, Ängste und psychologische Schmerzen aufgrund der schlimmen Erfahrungen, die sie während der IS-Geiselhaft gemacht haben. Diese Menschen müssen erst einmal stabilisiert werden. Sie brauchen Sicherheit, Vertrauen und Orientierung. Das sind die Grundpfeiler einer jeden Psychotherapie, wenn es um die Verarbeitung von Traumata geht. Erst nach einer Stabilisierung können wir therapeutisch versuchen, mit den Überlebenden das Trauma zu verarbeiten, damit sie wieder eine Perspektive für die Zukunft haben.

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Lalish im Nordirak ist das bedeutendste Heiligtum der Yeziden. Dort liegt Scheikh Adi begraben, der das Yezidentum vor 900 Jahren reformiert hat. In Lalish werden die Yezidinnen, die in IS-Gefangenschaft waren, auch wieder in die yezidische Gemeinschaft aufgenommen. Dazu müssen sie die Kleidung, die sie beim IS trugen, verbrennen. Danach werden sie in Weiß gekleidet. Foto: Levi Clancy via Wikimedia Commons

Stellen Sie sich einen Jungen vor, der mit eigenen Augen miterlebt, wie seine Eltern erschossen werden und sie nicht in der Lage waren, ihm zu helfen. Er hat zum einen das Vertrauen in seine Eltern verloren, obwohl sie nichts dafür können. Er fühlt sich im Stich gelassen. Seine Eltern haben ihn nicht schützen können. Zum anderen hat er das Vertrauen in die Menschheit verloren, weil er sich fragt, warum Menschen so grausam sind. Dieses Vertrauen müssen wir wieder aufbauen. So sind Tagesstruktur, Schulbesuch, soziale Kontakte und Begleitung bei diesem Jungen wichtig, damit seine Ängste nicht sein Leben kontrollieren.

Dies ist zum Beispiel bei einigen yezidischen Mädchen relativ schwierig, da wir es hier mit einer posttraumatischen Belastung zu tun haben, die noch nicht vorbei ist. Diese Belastung sollte eigentlich schon vorbei sein und man sollte beginnen, sie zu verarbeiten, sich damit auseinandersetzen, darüber zu sprechen. In diesem Fall ist das jedoch schwierig, da der IS im Irak und in Syrien weiter aktiv ist und viele Verwandte sich immer noch in IS-Gefangenschaft befinden oder die jungen Frauen gar nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Das heißt, wir haben neben der posttraumatischen Belastung auch noch eine akute Traumatisierung. Und bei den Yeziden speziell spielen auch noch transgenerationelle Traumata eine große Rolle. Die Yeziden waren ja mit dem Einfall des IS am 3. August 2014 in den Irak nicht das erste Mal Opfer eines Genozids. Ihre Vorfahren haben auch viele schlimme Dinge erlebt und diese dann bewusst oder unbewusst weitergegeben. Insofern macht das die Behandlung schwieriger und wir brauchen neue Konzepte, weil wir es mit drei Typen von Traumata, transgenerationelle, kollektive und individuelle Traumata, zu tun haben.

Gerade junge Mädchen, die nach Baden-Württemberg gekommen sind, zeichnen sich durch eine starke Resilienz [seelische Widerstandsfähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen]aus und sind eher in der Lage, mit dem Erlebten umzugehen. Sie gehen in die Schule oder machen eine Ausbildung. Dabei werden sie parallel psychotherapeutisch behandelt. Die älteren Frauen indes schämen sich und fühlen sich schuldig. Sie haben nach den Vergewaltigungen das Gefühl, ihre „Ehre verloren“ zu haben und natürlich auch Angst, aus der yezidischen Gemeinschaft ausgestoßen zu werden. Die patriarchalen Wertvorstellungen sitzen noch tief und so müssen wir immer individuell schauen, wer stabil ist und bei wem wir das Trauma behandeln können.

Was bedeutet es für das Yezidentum, dass der Baba Sheikh, das religiöse Oberhaupt der Yeziden, vergewaltigte Yezidinnen wieder in die Gemeinschaft aufnehmen will?

In der Zeit, als wir dort tätig waren, war ich ja maßgeblich daran beteiligt, mit Baba Sheikh darüber zu reden, die jungen Yezidinnen wieder in ihrer Gesellschaft aufzunehmen. Einige konservative yezidische Stammesführer wollten es nicht, da sie glaubten, dass durch den sexuellen Kontakt mit den Terroristen, auch wenn es aufgezwungen war, die Frauen keine Yezidinnen mehr seien. Es war ein langes Hin und Her, aber schließlich hat die menschliche Vernunft vor religiösen Regeln Einzug gehalten. Aus Sicht der Yeziden ist es eine Revolution, dass nach 800 Jahren diese Regel per Dekret vom Baba Sheikh aufgehoben wurde. Das war natürlich therapeutisch wichtig für die jungen Frauen, damit sie sich nicht entwurzelt fühlen. Sonst wären sie in zweifacher Weise Opfer gewesen: Opfer des IS und Opfer ihrer eigenen Religion. Es birgt natürlich aber auch Gefahren. Viele Yeziden, insbesondere die Älteren und die Stammesführer, haben Angst, dass das Heiratsverbot mit Nicht-Yeziden nicht mehr eingehalten wird und sich die religiöse Gemeinschaft aufzulösen droht. Diese Sorgen teile ich persönlich nicht, da ein Glaube Orientierung und Sicherheit vermitteln soll und den Menschen nicht schaden darf. Dieser neuen Herausforderung müssen sich die Yeziden stellen. Ihnen war bereits zuvor klar, dass ihre Regeln im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr lange zu halten sind. In welche Richtung es gehen wird ist noch unklar. Ich sehe zwei Möglichkeiten: Entweder wird es in zwei bis drei Generationen die Gemeinschaft der Yeziden so nicht mehr geben, weil die Katastrophe sie intern und extern zerstören wird. Oder die Gemeinschaft lernt, mit dieser Katastrophe umzugehen, wächst daraus, reformiert sich und verändert ihre Regeln, sodass sie eine Zukunft haben werden.

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Die Yezidinnen Nadia Murad (links) und Lamiya Aji Bashar erhielten 2016 den Sacharow-Preis der EU für ihren unermüdlichen Einsatz für die yezidische Minderheit. Sie waren selbst in IS-Gefangenschaft. Foto: European Parliament via Flickr

Was passiert mit den Frauen nach der Therapie? Wollen sie zurückkehren oder in Deutschland bleiben?

Aufgrund der aktuellen politischen Situation im Irak kann man noch gar nicht sagen, was mit den Yeziden nach dem Krieg passiert. Die Yeziden befürchten, dass sie instrumentalisiert und zum Spielball vieler politischer Interessen werden. Die jungen Frauen hier in Deutschland haben deshalb kein Vertrauen in die Menschen. Die Zukunft im Irak ist völlig unsicher und was passiert mit den Yeziden nach der IS? Es fehlen Sicherheiten, ein Versöhnungsprozess ist notwendig und politische Rechte müssen den Yeziden gegeben werden, damit sie wieder in ihren Siedlungsgebieten zurückkehren. Zurzeit leben mehr als eine halbe Million Yeziden in Flüchtlingscamps und ihre Zukunft ist ungewiss. Alle yezdischen Frauen, die ich bisher gefragt habe, und das sind über 90 Prozent, wollen in Deutschland bleiben. Sie kriegen auch automatisch einen Aufenthaltsstatus und müssen nicht das ganze Asylverfahren durchlaufen, da sie im Rahmen eines Sonderkontingents gekommen sind. Wir haben aber auch einige Frauen, die für einige Zeit in den Irak zurückgekehrt sind, weil Angehörige befreit wurden. Dies haben wir aus therapeutischer Sicht begrüßt, da das die Verarbeitung der Traumata nur unterstützen kann, wenn sie wieder nach Deutschland zurückkommen.

Bosnien, Kongo und nun der Nahe Osten: Warum wird sexuelle Gewalt als Kriegswaffe immer wieder eingesetzt?

Sexuelle Gewalt war und ist seit Menschheitsgedenken ein Instrument in allen Kriegen. Die Frau wird vergewaltigt und so wird symbolisch versucht, die Gesellschaft zu vergewaltigten, zu demütigen und mürbe zu machen. Die Gemeinschaft soll von innen zerstört werden. Wir haben bereits in Ruanda und Bosnien erlebt, dass Frauen mit Absicht geschwängert wurden, um ihre Familien zu demütigen. Auch die Yeziden haben solch patriarchalen Vorstellungen und ich kenne Fälle, in denen Väter sich umgebracht haben, nachdem sie gehört haben, dass ihre Tochter von IS-Schergen vergewaltigt wurde. Das sind alte Normen und Werte, die die Yeziden verinnerlicht haben sind und das ist dem IS wohl bewusst. Im Vergleich zu den Vorfällen in Ruanda oder Bosnien werden die Frauen jedoch auch vergewaltigt, um sie auf diese Weise zum Islam zu konvertieren. Ich selbst habe viele Interviews mit Frauen geführt. Eine junge Yezidin hat dabei erzählt, dass sie von der Ehefrau eines IS-Kämpfers festgehalten wurde, damit er sie vergewaltigen konnte. Nachdem er sich an ihre vergangen hatte, sagte die muslimische Frau des IS-Terroristen zu ihr: „Mach dir keine Sorgen, jetzt gehörst du zu uns.“ Das heißt, auch der IS weiß, dass bei Yeziden ein sexueller Kontakt mit Nicht-Yeziden nicht erlaubt ist. Und so wird sexuelle Gewalt auch als Mittel der Zwangsbekehrung eingesetzt.

Was motiviert Sie, eine so wichtige, sicherlich auch seelisch belastende Arbeit zu machen?

Das ist nicht einfach. Aber wenn ich die Möglichkeit habe, Menschen zu helfen – egal ob Yeziden oder Muslime –, ist es für mich eine große Chance, ihnen etwas zu geben, was ich selbst bekommen habe. Ich komme auch aus einem dieser Länder und weiß wie es ist, Teil einer verfolgten Generation zu sein. Wir dürfen nicht schweigen, sondern müssen aufstehen und von Terror bedrohten Menschen beistehen. Damit zeigen wir ihnen, dass sie nicht allein sind.



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