Ukraine – Ein Land voller Fremdenhass?

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Protestierende auf dem Maidan in Kiew: Der Euromaidan war eine ürgerrechtsbewegung, der sich Menschen aus allen sozialen Schichten angeschlossen haben. Unter diesen befanden sich auch rechtsradikale Kräfte, jedoch nicht in der Mehrheit, wie es Russland immer wieder behauptet. Foto: Alexandra (Nessa) Gnatoush via Flickr

Von Sandy Naake

So betitelte, jedoch ohne Fragezeichen, das Kreml-treue Nachrichtenportal Sputnik News im Juli 2015 einen Beitrag. „Der Fremdenhass in der Ukraine weitet sich seit einigen Jahren aus und ist bereits ein Teil der ukrainischen politischen Landschaft. Nicht immer ist er in Form von Pogromen und Medienberichten darüber zu finden“, heißt es weiter. Was hat es mit diesen Vorwürfen auf sich?

Pro-russische Medien warfen der Euromaidan-Bewegung bereits 2013/14 vor, im Kern nationalistisch und rechtsextrem zu sein. Der Euromaidan war jedoch ein breites Bündnis von Menschen aller sozioökonomischen Schichten mit verschiedenen Weltsichten, die ein gemeinsames Ziel verfolgten: die Absetzung des pro-russischen, korrupten und autoritären Präsidenten Viktor Janukowitsch und seiner Regierung. Unter den Protestierenden befanden sich auch rechtsradikale Gruppen, auf die sich vor allem die russische Propaganda konzentrierte. Sie stachen mit aufsehenerregenden Aktionen stärker hervor: So stürzten sie das Lenin-Denkmal in Kiew oder marschierten mit Fackeln durch das Zentrum der ukrainischen Hauptstadt, um Stepan Bandera zu ehren. An seiner Person scheiden sich seit Jahrzehnten die Geister: Der ukrainische Nationalist kollaborierte während des Zweiten Weltkriegs zunächst mit den Nazis und war mitverantwortlich für die Ermordung Tausender Juden. Am 30. Juni 1941 proklamierte er eine freie Ukraine. Das gefiel den deutschen Besetzern jedoch ganz und gar nicht. Bandera und seine Getreuen wurden verhaftet. Einige wurden erschossen oder ins KZ gepfercht. Bandera überlebte und starb 1959 in München. Vor allem sein Kampf für eine freie Ukraine wird von den Nationalisten in den Vordergrund gerückt.

Gegen Janukowitsch bildete sich mit dem Beginn der Proteste 2013 ein oppositionelles Dreierbündnis. Die Troika bestand aus Vitali Klitschko von der Ukrainischen demokratischen Allianz für Reformen, Julia Timoschenko von der Allukrainischen Vereinigung „Vaterland“ und Oleh Tjahnibok von der rechtsextremen Swoboda. Nach der Flucht von Janukowitsch und dem Zusammenbruch des Regimes im Februar 2014 formierte sich eine Übergangsregierung, an der Swoboda mit drei Ministern beteiligt war. Das war natürlich vor allem für Russland ein gefundenes Fressen. Dort sprach man von einer „faschistischen Junta“, die nun das Regiment in Kiew übernommen hatte. Doch allzu lange konnte sich Swoboda nicht freuen: Bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2014 erreichte Tjahnibok nur 1,14 Prozent der Stimmen und bei den Parlamentswahl im Oktober 2014 scheiterte Swoboda knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Auch sonst konnte sich keine rechtsextreme Partei bei der Wahl durchsetzen und ins Parlament einziehen. „Wenn ein eigener Vorteil zu erwarten ist, wird gefördert, zusammengearbeitet, ausgenutzt und schließlich fallen gelassen“, fasst Mathias Schmidt auf www.sicherheitspolitik-blog.de die Zusammenarbeit der Opposition mit Swoboda und die anschließende Niederlage der Partei zusammen.

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Junge Swoboda-Anhänger in Kiew: Die rechtsextreme Partei versucht, selbst Kinder und Jugendliche für ihre Gesinnung zu gewinnen. Foto: DmyTo via istock

Wer von euch ohne Sünde ist…

„Wär's nicht so komisch, wär's richtig lustig: Etwa, dass Faschisten andere Leute als ,Faschisten‘ beschimpfen. Oder dass sich Fürsprecher des russischen Imperialismus als ,Anti-Imperialisten‘ sehen, statt, wie doch eigentlich viel logischer wäre, als ,Pro-Imperialisten‘“, kommentierte Robert Misik im März 2014 in der österreichischen Tageszeitung Der Standard die gezielte Desinformation in russischen Propagandakanälen über die angeblich ukrainisch-nationalistische Revolution.
Dass vor allem Russland nationalistische Tendenzen in der Ukraine anprangert, ist angesichts der Krim-Annexion eine Farce. Für Moskau ist die Krim seit jeher Teil von Russland und Ukrainisch ein Dialekt der russischen Sprache. Seitdem Russland die Halbinsel völkerrechtswidrig besetzt hält, hat dort ein Prozess der Russifizierung begonnen. Russen werden gezielt auf der Krim angesiedelt, um die Bevölkerungszusammensetzung nachhaltig zu verändern. Zudem wird alles versucht, die dort seit Jahrhunderten ansässigen Krimtataren einzuschüchtern und mundtot zu machen – mit faschistoiden Mitteln.

„Wir haben es dort [in der Ukraine] mit einer radikalen Form von Rassismus und Intoleranz zu tun, mit Chauvinismus. Nicht nur die Freiheitspartei und der Rechte Sektor, auch die sogenannten gemäßigten und liberalen ukrainischen Politiker reden von der Dominanz der westukrainischen Identität. Eine Russophobie rassistischer Prägung hat von Anfang an die Aktionen des Maidan durchdrungen“, sagte der umstrittene, russische Politiker und Philosoph Alexander Dugin in einem Spiegel-Interview 2014. Dugins Ideologie gilt als Vorbild für Putins Expansionspolitik in der Ukraine. Dugin verachtet die westliche Kultur und tritt für ein eurasisches Imperium von Lissabon bis Wladiwostok unter russischer Führung ein. Er ist zwar nach eigenen Aussagen nicht persönlich mit Putin bekannt, er unterhält jedoch enge Kontakte zu ranghohen russischen Politikern und ist ein gern gesehener Gast im russischen Fernsehen.

Rassistisch ist also für Russland alles, was gegen das eigene Volk geht. Jedwede Kritik gegen andere Minderheiten scheint keineswegs fremdenfeindlich, sondern salonfähig zu sein. So gehören antisemitische Parolen in den separatistischen Republiken Donezk und Luhansk, die finanziell, wirtschaftlich und militärisch von Russland am Leben gehalten werden, zur offiziellen Ideologie der Marionettenregime, berichtet Vyacheslav Likhachev, führender Antisemitismusexperte der Ukraine. Anfang 2015 sagte Alexander Sachartschenko, „Ministerpräsident“ der selbst proklamierten Republik Donezk, dass die Ukraine von „armseligen Juden“ regiert werde. Nicht nur auf der politischen Ebene, auch im Alltag in der Ostukraine grassiert Antisemitismus. So verteilten im April 2014 maskierte Paramilitärs, die eine russische Flagge bei sich trugen, in Donezk judenfeindliche Flugblätter: Jeder Jude solle sich in der Regionalverwaltung registrieren lassen und Auskunft über seine Vermögensverhältnisse geben – andernfalls drohten Enteignung und Deportation. Das erinnert stark an ein dunkles Kapitel ukrainischer Geschichte. Der Antisemitismus in den separatistischen Republiken sei eine Reaktion darauf, dass die jüdische Minderheit die Euromaidan-Bewegung unterstützt und sich gegen die russischen Aggressoren ausgesprochen hat, ist sich der ukrainisch-britische Politologe Taras Kuzio, der zum Ukraine-Russland-Konflikt forscht, sicher. Viele Juden sind bereits aus den Kriegsregionen geflohen, weil sie den Zustrom Rechtsextremer, die die Separatisten unterstützen wollen, fürchten.

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Präsident Viktor Janukowitsch lebte fürstlich und prunkvoll in seiner 620 Quadratmeter großen Residenz Meschigorje. Die Wut über seine maßlose Selbstbereicherung brachte die Menschen 2013/14 u. a. in Kiew auf die Straße. Heute ist Meschigorje ein Museum. Foto: Roberto Maldeno via Flickr

Und wie ist es um Antisemitismus in der Ukraine bestellt? Die Gruppe zur Überwachung der Rechte nationaler Minderheiten kommt zu dem Schluss, dass antisemitisch motivierte Straftaten in der Ukraine in den vergangenen Jahren stetig zurückgegangen sind. Für 2016 wurde „nur“ ein gewalttätiger Angriff auf einen Juden verzeichnet; 2005 gab es noch 13 Opfer. Auch Vorfälle von Vandalismus an jüdischen Stätten wie Friedhöfe oder Holocaust-Mahnmale sind zurückgegangen: von 22 Fällen im Jahr 2015 auf 18 im vergangenen Jahr (die Statistik bezieht sich auf die nicht besetzten Gebiete der Ukraine). Während der drei Monate währenden Proteste auf dem Maidan war unter Tausenden Redebeiträgen nur einer eindeutig antisemitisch.

Rechtsradikale Strömungen und rassistische Übergriffe gibt es auch in der Ukraine. Vor allem Ressentiments gegen Roma sind in der Mitte der Gesellschaft zu finden und der ukrainische Staat tut wenig, um dieser Diskriminierung entgegenzuwirken. Zudem duldet die Regierung ultranationalistische und rechtsextreme, ukrainische Kämpfer in den östlichen Konfliktgebieten des Landes, die gegen russische Separatisten kämpfen. „Offiziell sind wir gar nicht hier. Politiker sagen, dass wir uns zurückgezogen haben. Aber die Dinge sind hier im Osten eben anders. Wir haben gute Beziehungen zu den [ukrainischen] Soldaten. Wir haben den gleichen Feind“, sagt einer dieser Kämpfer. Fakt ist auch, dass die rechtsextreme Partei Rechter Sektor, die eine Art Privatarmee aufstellt hat, mit der ukrainischen Armee zusammenarbeitet. „Jeden Schritt, den sie unternehmen, stimmen sie mit ukrainischen Kommandeuren ab“, sagt Likhachev.

Russland kanzelt jedoch die ganze Ukraine als rechtsextrem ab. Dabei wäre es angemessen, vor der eigenen Haustür zu kehren. Das Informationszentrum SOVA dokumentiert rassistische Gewalt in Russland. So wurden 2014 122 Menschen Opfer rassistischer Gewalt: Es gab 19 Tote und 103 Verletzte. 2015 starben neun Menschen und 68 wurden verletzt. Zum Vergleich: 2014 wurden nach Angaben der Gruppe zur Überwachung der Rechte nationaler Minderheiten 24 Menschen in der Ukraine Opfer rechtsextremer Gewalt (kein Todesopfer), 2015 wurden 19 Menschen verletzt und eine Person starb (in Russland leben 143 Millionen Menschen, in der Ukraine rund 42,5 Millionen).

Die Ukraine als ein Land voller Fremdenhass zu bezeichnen ist grotesk. Swoboda und andere rechte Parteien hatten in der Ukraine viel weniger Erfolg als viele andere populistisch-nationalistische und neonazistische Parteien in ganz Europa. Die Ukrainer haben rechtsextreme Parteien abgestraft. Sie wollen nach jahrzehntelanger russischer Einflussnahme nicht erneut ein autoritäres Regime, sondern den Funken des Euromaidan – das Bekennen zu demokratischen Werten und zur Europäischen Union – zum Leuchten bringen.



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