Roma: Das vergessene Volk

Foto: Steve Evans/Flickr
Ein ukrainisches Roma-Kind blickt in die Ferne. Roma sind die in der Ukraine am stärksten bedrohte Minderheit, von ihren Mitbürgern werden sie regelrecht geächtet. Foto: Steve Evans via Flickr

Von Melissa Ebert

Ende August 2016: In einem Wald nahe dem ukrainischen Dorf Loshchynivka in der Region Odessa, das auch von Roma besiedelt ist, wird der Leichnam eines neunjährigen Mädchens gefunden. Ein 21-jähriger Rom wird verdächtigt, das Mädchen, das keine Roma ist, vergewaltigt und umgebracht zu haben. Ausreichende Ermittlungen gibt es jedoch noch nicht, und der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe. Trotzdem nehmen die übrigen Dorfbewohner dies zum Anlass, sich zu einem wütenden Mob zusammenzuschließen, um an den Roma Rache zu üben. Hunderte Bewohner fordern Autoritäten auf, sofort alle 50 Roma aus Loshchynivka auszuquartieren. Videos zeigen, wie die Bewohner Fenster mit Steinen einschlagen und Zäune umwerfen, auch ein Haus geht in Flammen auf.

Nach Informationen der Minority Rights Group (MRG) unternahm die Polizei vor Ort nichts, um die Gewalt des Mobs zu stoppen. Zwar gaben Offiziere in Folge der eskalierenden Lage bekannt, am Folgetag einen „sicheren Korridor“ für die Roma zu errichten, damit diese das Dorf verlassen können. Jedoch flüchteten 40 der 50 Roma aus Loshchynivka bereits in der Nacht zuvor, um den Dorfbewohnern zu entkommen. Sie nahmen nur das Wichtigste mit, die meisten ihrer Habseligkeiten ließen sie in ihren Häusern zurück.

Es scheint, als hätten die Bewohner von Loshchynivka – größtenteils Bulgaren, Ukrainer und Russen – nur auf einen Anlass gewartet, die Roma anzugreifen. Leider ist dieses tragische Beispiel kein Einzelfall: Roma sind in der Ukraine ständiger und systematischer Diskriminierung ausgesetzt. Gewalt ist dabei keine Seltenheit und Vorurteile, etwa dass sie Drogendealer oder Diebe sind, sind weit verbreitet.

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Ein Rom in Berehowe in dem ukrainischen Oblast Transkarpatien transportiert Holz auf einem Fahrrad. Roma leben hier unter teilweise katastrophalen Bedingungen. Foto: lindakharkov via Flickr

Seit der Krim-Annexion durch Russland im März 2014 hat sich die ohnehin schon prekäre Lage der Minderheiten in der Ukraine, und somit auch der Roma, um ein Vielfaches verschlechtert. Aufgrund der gefährlichen Lage, besonders in der Ostukraine, sind laut Schätzungen aus den Jahren 2014 und 2015 bereits mehr als 10.000 Roma aus ihrer Heimat an einen anderen Ort in der Ukraine geflohen. Roma sind die am meisten gefährdete Gruppe der Binnenflüchtlinge, denn viele von ihnen sind nicht einmal als legale Bürger der Ukraine anerkannt. 40 Prozent von ihnen besitzen keine Ausweisdokumente. Die Stimmung der ukrainischen Bevölkerung Roma gegenüber ist so schlecht, dass sich geflüchtete Roma in ihren neuen Zufluchtsorten oft nicht wohl fühlen. Sie werden vom Großteil der Ukrainer regelrecht geächtet. Laut der ukrainischen Roma-Frauenstiftung Chirikli sind 25 Prozent der Roma-Binnenflüchtlinge deshalb 2015 und Anfang 2016 wieder in die Ostukraine zurückgekehrt. Sie ziehen das Leben in ihrem eigenen Haus in einer gefährlichen Kriegsgegend der vermeintlichen Sicherheit in unbekannten Regionen ihres Landes vor – dies zeigt, wie schwer und gefährlich das Leben für Roma außerhalb ihrer Gemeinschaften ist. „Es ist, als hätte jemand den Dschinn des Hasses aus der Flasche gelassen“, sagte Natalia Varakuta, eine Roma-Aktivistin aus Donbass, im Juni 2014. „Trotz allem glauben wir immer noch daran, dass die Ukraine anfangen wird, uns wie eine Mutter zu behandeln, nicht wie eine Stiefmutter.“

Nicht nur für die Flüchtlinge, auch für viele andere Roma sind die Bedingungen in jeglicher Hinsicht katastrophal. Ihr Hauptsiedlungsgebiet liegt in Transkarpatien im äußersten Südwesten der Ukraine, wo die Missstände am deutlichsten zutage treten. Oft wohnen Roma dort in Ansiedlungen aus Holz- und Lehmbaracken, teilweise ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser.

Dem European Roma Rights Centre (ERRC) zufolge verlassen die meisten jungen Roma in der Ukraine die Schule sehr früh – wenn sie sie überhaupt besuchen – und oftmals ohne lesen zu können. In Schulen, in denen die Mehrheit der Kinder Roma sind, ist das Niveau des Unterrichts um einiges schlechter als in gemischten Schulen. Zwar ist in letzteren der Unterricht qualitativ besser, doch Roma-Kinder werden dort meistens diskriminiert. „Es ist ein Teufelskreis”, sagt Yuriy Ivanko, Vizepräsident des Ukrainischen Romani-Kongresses und selbst Rom. Roma können es sich nicht leisten, ihren Kindern Schulmaterial zu kaufen. Deshalb würden andere Kinder sie auslachen oder auf sie herabsehen. „Also bevorzugen viele Kinder es, gar nicht in die Schule zu gehen. Ohne Bildung können sie aber als Erwachsene keine Arbeit finden“, berichtet Ivanko. Viele Roma in der Ukraine sind arbeitslos. Ihre Situation ist fast hoffnungslos, denn es gibt nicht einmal genug Arbeit für die übrige Bevölkerung der Ukraine. Die meisten Roma können nicht einmal Sozialhilfe beziehen, denn dafür sind Ausweispapiere notwendig, die viele nicht besitzen. „Es wächst gerade eine neue, verlorene Generation von Ungebildeten heran, die, wenn sie erwachsen ist, keine Bildung für ihre eigenen Kinder ermöglichen kann“, bedauert Ivanko.

Auch im Gesundheitssystem lässt man Roma spüren, dass sie „Bürger zweiter Klasse“ sind. Sie leiden daher unter einem allgemein schlechten Gesundheitszustand: Viele Roma-Frauen, Romnija, berichten von Diskriminierung und schlechterer Behandlung durch Ärzte und Krankenhauspersonal – teilweise sogar von kompletter Verweigerung einer Behandlung.

Dass die Stimmung der ukrainischen Bevölkerung gegenüber den Roma so feindlich ist, kommt nicht von ungefähr: Die Medien präsentieren ein massiv von Vorurteilen belastetes Bild der Minderheit. Roma werden häufig in Verbindung mit Armut und Verbrechen dargestellt. Dies führt dazu, dass sie noch stärker diskriminiert werden – ein Teufelskreis. Menschenrechtsaktivisten sehen in den Roma der Ukraine eine Gemeinschaft, die von allen aufgegeben wurde. Ein Aktivist von der ukrainischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sagt: „Die Roma sind ein vergessenes Volk. Die Regierung will sich nicht um sie kümmern, weil man die nötigen Kosten als viel zu hoch ansieht. Sie gelten als marginale ethnische Randgruppe."

Foto: UNHCR Ukraine
Diese Romni ist mit ihren sieben Kindern aus der Konfliktregion Donezk nach Pawlohrad in der Zentralukraine geflohen. Nach Angaben der ukrainischen Roma-Frauenstiftung Chirikli sind 25 Prozent der Roma-Binnenflüchtlinge 2015 und 2016 wieder in die Ostukraine zurückgekehrt, weil sie an den Zufluchtsorten noch mehr Diskriminierung als in ihrer Heimat erfahren haben. Foto: UNHCR Ukraine via Flickr

Jedoch gibt es auch Bestrebungen, gegen die Diskriminierung anzugehen. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich einige Organisationen gegründet, um auf die Diskriminierung von Roma – besonders auch Romnija – aufmerksam zu machen und dagegen zu arbeiten. So setze das ERRC vor allem auf rechtlichem Weg gegen Menschenrechtsverletzungen, diskriminierende Handlungen und Vorurteile gegenüber Roma ein.

Der Roma Women Fund Chirikli ist die erste Initiative für Romnija in der Ukraine. Seit 2004 leistet sie Bildungsarbeit für Roma und bietet Trainings und Workshops für Jugendliche und Erwachsene an. Zudem hat sie dabei geholfen, sieben Nichtregierungsorganisationen, die sich für Roma und verwandte Themen einsetzen, zu etablieren und zu koordinieren.

Die Situation der Roma scheint sich unterdessen in Odessa nur bedingt zu verbessern. Anfang Januar 2017 berichteten Medien von einer Aktionswelle mit Anti-Roma-Postern in der Stadt im Süden der Ukraine. „Roma sind Räuber und Mörder!“ und „Vergesst nicht Loshchynivka” ist auf den Plakaten zu lesen, die an Laternenpfähle, Litfasssäulen oder Ampeln geklebt wurden. Wer für die diskriminierenden Aushänge verantwortlich ist, ist noch unklar, aber der rasanten Verbreitung zufolge muss es sich um eine größere organisierte Gruppe handeln. Einige Medien gehen davon aus, dass es Anhänger aus dem radikal-rechten Spektrum gewesen sein müssen, die vor kurzem nach Odessa gezogen sind. Dort wurde ihnen vom ukrainischen Staat Land gegeben, um Häuser zu bauen – zum Dank für ihren Kampf gegen die Separatisten in Donezk und Luhansk.

Loshchynivka ist unter den Roma längst nicht vergessen, sind doch die 40 im August geflohenen Roma immer noch nicht in ihre Heimat zurückgekehrt. Einige haben es gewagt, von Spezialeinheiten begleitet, kurzzeitig ins Dorf zurückzukommen, um ihre Habseligkeiten zu holen, die nach den Pogromen noch geblieben sind.

„Die Vorurteile gegen Roma sind sehr groß in der Ukraine“, sagt Ivanko. „Solange wir es nicht schaffen, das Bild zu ändern, das die Mehrheit von uns und unseren Problemen hat, sind wir Konflikten und Leid ausgesetzt. Für uns Roma-Aktivisten gibt es nur eine Regel: Wenn wir es schaffen, die Vorurteile mindestens einer Person abzubauen, haben wir nicht vergebens gearbeitet. Wenn es mit einem Menschen möglich ist, dann ist es auch mit vielen möglich. In diesem Sinne sind wir bescheiden und hartnäckig zugleich.“


Melissa Ebert studiert Germanistik und Politikwissenschaft in Göttingen. In den vergangenen Jahren hat sie bereits für einige lokale Tageszeitungen geschrieben. 2016/17 hat sie für drei Monate die Redaktion von bedrohte Völker - pogrom unterstützt. Derzeit gibt sie ehrenamtlich Deutschkurse für geflüchtete Menschen.



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