Wolfskinder: Die letzten Zeitzeugen sprechen

2011 empfing die Gesellschaft für bedrohte Völker Wolfskinder aus Litauen in Göttingen. Foto: Katja Wolff/GfbV

In Litauen leben noch etwa 55 „Wolfskinder“ – bitterarme alte Menschen, die ein schweres Schicksal vereint: Sie waren noch klein, als die Rote Armee 1945 im nördlichen Ostpreußen Königsberg eroberte, und sie mussten die Schrecken der russischen Besatzung miterleben. Damals verloren viele Kinder ihre Eltern durch Mord, Vergewaltigung und Verschleppung, Zehntausende starben an Krankheiten oder verhungerten. Kinder, die überlebten, waren auf einmal ganz allein. Viele dieser Waisen flohen auf eigene Faust nach Litauen, irrten durch die Wälder und wurden schließlich von litauischen Familien aufgenommen.

Die Kinder bekamen neue Namen und vergaßen oft für lange Zeit ihre Herkunft, bis auf einmal die Erinnerung aufblitzte. Viele Wolfskinder quälen seitdem die alten Bilder. Trotz der großen Dankbarkeit, die sie mit ihren warmherzigen litauischen Rettern verbindet, suchen sie nach Angehörigen oder hadern resigniert mit ihrem Schicksal. Erst in den 1990er Jahren nahm die Öffentlichkeit Notiz von ihrem Schicksal. Es begann ein neuer Kampf um die ideelle und politische Anerkennung ihres unerhörten Leids. Der Historiker Dr. Christopher Spatz hat mit den letzten Wolfskindern gesprochen und ihre Geschichten in „Nur der Himmel blieb derselbe. Ostpreußens Hungerkinder erzählen vom Überleben“ zusammengetragen.

Sie haben mehr als 50 Interviews mit Betroffenen geführt, die in den ersten Jahren nach dem Krieg Schreckliches erlebten: Sterbende Geschwister, die im Straßengraben zurückgelassen werden mussten, dauerhafte Hungersnot, Vergewaltigungen, Grausamkeiten aller Art, Verschleppungen und Vertreibungen. Haben Sie mitgelitten oder die berühmte Objektivität des Historikers bewahrt?

Rückblickend bin ich da ziemlich naiv herangegangen, ich hatte ja auch keine professionelle Vorbildung in Gesprächsführung oder Psychologie. Es war Schwerstarbeit, und vieles, was ich gehört habe, wäre eher etwas für den Hausarzt, Pfarrer, Psychologen gewesen. Aber ich musste mich hineinfinden, und ich habe von Interview zu Interview dazugelernt.

Was haben Sie denn zum Beispiel gelernt?

Ich habe gelernt, mich zurückzunehmen, auch mal Stille und eine Pause im Gespräch zuzulassen. Die Betroffenen, alle jenseits der 75, haben sich dann von sich aus geöffnet und erzählt, vor allem von Leid und Schmerz. Danach war ich oft emotional geplättet, musste erst mal durchatmen. Später habe ich einen Psychiater vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf kennengelernt, der auf dem Gebiet der Traumabewältigung forscht. Der fachliche Austausch mit ihm war sehr nützlich für meine Arbeit.

Dr. Christopher Spatz. Foto: Privat

Warum haben die Betroffenen überhaupt mit Ihnen gesprochen?

Im Nachhinein glaube ich, dass ich mit sehr lebenstüchtigen Personen aus jener Generation gesprochen habe, mit solchen, die als Kinder besonders scharfsinnig und anpassungsfähig gewesen waren, aber sicher auch den Zufall auf ihrer Seite hatten. Diese Frauen und Männer waren bereit, mir zu vertrauen und konnten sich öffnen. Nach langem Schweigen und Verdrängen wollten sie nun im hohen Lebensalter ihrer Vergangenheit endlich unerschrocken entgegentreten. Sie wollten ihre Nachkriegserlebnisse vor dem Vergessen bewahren. Manche deuteten an, dies als Verpflichtung gegenüber früheren Weggefährten zu empfinden, die die Jahre nach 1945 nicht überlebt hatten. Einige schienen auch ein Ventil für ihren angestauten Erinnerungsdruck zu suchen.

Warum wird das erst heute so intensiv aufgearbeitet, was nach 1945 in Ostpreußen geschah?

Nach dem Krieg haben alle nach vorne geschaut. Die Schrecken waren noch zu nahe und die Zerstörungen zu offensichtlich. Anders wäre der rasche Wiederaufbau im Westen wohl auch kaum zu bewältigen gewesen. Und später, als die Betroffenen in den 70er, 80er Jahren erste vorsichtige Anläufe unternahmen, um das eine oder andere zu erzählen, da wollte ihnen niemand zuhören.

Von den Nachkriegsschicksalen der Kinder aus Ostpreußen weiß man aber im Prinzip doch erst seit den 1990er Jahren. Wie lässt sich verstehen, weshalb die Wolfskinder seitdem immer wieder „neu“ entdeckt werden?

Weil ihre Geschichte noch nicht vollständig erzählt worden ist. Schauen Sie, viele Beiträge zum Thema meinen, im chaotischen Fluchtgeschehen 1945 den eigentlichen Auslöser für die Wolfskinder-Schicksale zu erkennen. Mit dieser Sichtweise geht vollkommen unter, dass die meisten Mädchen und Jungen bei Kriegsende mit Müttern und Geschwistern noch ganz normal vereint waren und erst im Folgenden durch den Hunger, der eine der größten humanitären Nachkriegskatastrophen Europas auslöste, ihre Angehörigen verloren haben.

Sie haben erst im März 2016 ein Buch zur Identität der Wolfskinder veröffentlicht, es war Ihre Doktorarbeit, die Sie an der Berliner Humboldt-Universität geschrieben haben. Nur sieben Monate später ist jetzt ein weiteres Buch von Ihnen erschienen. Es trägt den Titel „Nur der Himmel blieb derselbe. Ostpreußens Hungerkinder erzählen vom Überleben“. Worin unterscheiden sich diese beiden Werke?

In meiner Doktorarbeit stehen Identitätsfragen im Vordergrund. Dort untersuche ich zum Beispiel, von welchen Erfahrungen die Mädchen und Jungen nach 1945 am stärksten geprägt wurden und ob es aufgrund bestimmter Erlebnisse heute ein Wir-Bewusstsein unter den Betroffenen gibt. Mein neues Buch ist populärwissenschaftlich ausgerichtet. Eingerahmt in viele bislang unveröffentlichte Archivquellen, kommen die Zeitzeugen hier ausführlich selbst zu Wort. Und das ist hochinteressant. Denn es sprechen Menschen, die in den vergangenen 70 Jahren geschwiegen haben.

http://www.ellert-richter.de/detail.php?ISBN=978-3-8319-0664-2
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Wird denn nun mit Ihrem neuen Buch alles Wichtige über die Wolfskinder gesagt sein?

Unsere Gesellschaft wird immer sensibilisierter für Kriegskinder und ihre Schicksale. Flucht, Vertreibung und das Hungersterben der eigenen Familie verursachen in Kinderseelen tiefe und teilweise unheilbare Verletzungen, die sich gerade im hohen Lebensalter noch einmal in aller Deutlichkeit bemerkbar machen. Es gäbe also enorm viele Möglichkeiten für weitere vielversprechende Forschungsvorhaben. Aber die Zeit drängt, da der Kreis der noch lebenden Zeitzeugen kleiner wird.

Beschäftigen Sie sich weiterhin mit diesem Thema?

Ich selbst bleibe dem Thema sicherlich verbunden. In welcher Form, ist momentan noch nicht genau abzusehen. Sollte es in nächster Zeit einen Versuch geben, der eine finanzielle Entschädigung der Wolfskinder und Waisenhausinsassen durch die Bundesrepublik zum Ziel hätte, würde ich das auf jeden Fall begrüßen. Dass diese Gruppe beim jüngsten Beschluss des Bundestages zur Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter abermals nicht berücksichtigt worden ist, hat mich persönlich sehr traurig gemacht.

Wie ist diese Nichtberücksichtigung zu erklären?

Die Wolfskinder mussten jahrzehntelang für Dinge büßen, die sie selbst nicht zu verantworten hatten. Sie leiden bis heute unter ihren Nachkriegserfahrungen und sind in ihrer Lebensqualität zum Teil noch immer massiv eingeschränkt. Für nahezu alle anderen anerkannten Opfergruppen des Zweiten Weltkriegs sind Entschädigungszahlungen geleistet worden. Auch die Schicksale der Wolfskinder sind inzwischen gut und interdisziplinär erforscht. Inhaltlich wäre die Sache klar. Es bedürfte jetzt allein eines klaren politischen Willens.

Hält Ihr neues Buch nur betrübliche Geschichten bereit oder stimmt es auch optimistisch?

Über das Leben und Sterben der Wolfskinder hat oft der Zufall entschieden. Am Ende hat den Hunger aber niemand überlebt, der nicht auch mutig, tapfer und anpassungsfähig war. Obwohl alle ostpreußischen Mädchen und Jungen damals zu Opfern der Nachkriegsereignisse wurden, erzählen sie heute nicht nur Opfergeschichten. Sie lassen erkennen, dass traumatisiert zu sein nicht automatisch bedeuten muss, dass man schwach ist. Und sie offenbaren, dass man sich trotz unheilbarer seelischer Wunden sein Ausdauervermögen und seine Zuversicht bewahren kann. Bei aller Schwere strahlt dieses Buch also etwas sehr Lebensbejahendes aus.



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