Standing Up At Standing Rock

Dieses Foto ist nur ein Ausschnitt: Das Camp Oceti Sakowin erstreckt sich weiter zu beiden Seiten; das ursprüngliche Sacred Stone Camp liegt hinter dem Hügelzug. Foto: Claus Biegert

Von Claus Biegert

Der US-Staat North Dakota erlebt den größten – gewaltfreien – Indianeraufstand Nordamerikas der vergangenen 150 Jahre. Es geht um heilige Stätten, Vertragsrechte – vor allem aber um den Missouri River, also Trinkwasser für alle flussabwärts. Standing Rock wird mit jedem Tag mehr zu einem Symbol für den indigenen Widerstand gegen Mega-Industrieprojekte und Naturzerstörung weltweit. Das Nachrichtenmagazin Democracy Now! aus New York sorgt für die einzige, lückenlose Medienberichterstattung – und erlebte die Grenzen der Demokratie.

Am Montag, den 17. Oktober, um 8.00 Uhr sollte die New Yorker Reporterin Amy Goodman im Morton County Court House in der Kreisstadt Mandan im US-Bundesstaat North Dakota erscheinen, um ihr Ur¬teil für „Ungebührliches Benehmen“ entgegen zu nehmen. Amy Goodman, 59, ist Moderatorin und Produzentin der täglichen Radio/TV-News-Hour Democracy Now!, die in New York produziert und von Montag bis Freitag quer durch das Land von den Public Radio Stations übernommen wird. Am 3. September war Goodman das erste Mal mit ihrem Team hier am Missouri gewesen. Hier, am Nordrand der Standing Rock Reservation hatten Aktivisten der Dakota mit Unterstützern aus ganz Nordamerika im April ein Camp errichtet, um der sogenannten Dakota Access Pipeline (DAP) entgegen zu treten. Ihre Argumente: Gräber ihrer Vorfahren würden zerstört auf einem Land, das laut Vertrag von Laramie von 1851 immer noch das ihre war – außerdem ging es um Wasser. Die Pipeline soll unter dem Missouri hindurch geführt werden, und ein Leck würde das Trinkwasser des Reservats und aller Bewohner flussabwärts gefährden. Im August war das Protest- Camp zu einer Zeltstadt mit über 3.000 Menschen angewachsen. Die großen Medien in Nordamerika und Europa, vom US-Wahlkampf okkupiert, hatten den Schauplatz den ganzen Sommer über ignoriert; für Democracy Now! also eine Pflicht, sich vor Ort ein Bild zu machen.

Am Highway 1806 hatte Goodman mit ihren Kameraleuten die Konfrontation zwischen der Privatpolizei der texanischen Ölgesellschaft und den Indianern gefilmt und Aktivisten interviewt. Energy Transfer Partners, mit Hauptsitz in Dallas, hatte Pfefferspray und Kampfhunde einsetzen lassen, um den Protest fern der Zentrale in den Griff zu bekommen. Eine schwangere Frau, ein Kind und ein Pferd waren gebissen worden; in Democracy Now! sah man Hunde mit blutigen Schnauzen. Schließlich war die Bundespolizei auf der Bildfläche erschienen; jedoch nicht, um die Indianer vor den Hunden zu schützen, sondern die Pipeline vor den Protestierenden. Das Erscheinen auf der Bildfläche reichte dem Staatsanwalt, um die Reporterin Amy Goodman vor Gericht zu holen.

Amy Goodman wird nach ihrem Freispruch von einem Lokalreporter aus Mandan interviewt. Foto: Claus Biegert

Die Dakota von Standing Rock treten als Wächter des Wassers auf, das ihnen heilig ist und das, so ihr Argument, „euch Weißen auch heilig sein sollte.“ In ihrer Sprache lautet es so: Mni wiconi – Wasser ist Leben. Die indianischen Aktivisten gaben sich einen neuen Namen; durch Facebook und YouTube-Videos über Standing Rock wurde er schnell Millionen bekannt: „We are not Protesters, we are Protectors! – Wir sind keine Protestierer, wir sind Beschützer!“

Die Polizei griff sich die, von denen sie wusste, dass sie im Camp der Protectors eine Rolle spielten. Viele der damals über 140 Festgenommenen wurden zu Leibesvisitationen gezwungen, mussten sich nackt bücken, der After wurde auf Drogen inspiziert; eine junge Indianerin erzählte, Gefängniswärter hätten ihr bei der Entkleidung zugesehen, anschließend musste sie die Nacht nackt in der Zelle verbringen, bevor sie am Morgen den orangefarbenen, einteiligen Gefängnisanzug bekam. Unter den Festgenommenen, die sich ausziehen mussten: Dave Archambaud II, der Präsident des Stammesrats des Standing Rock Sioux Reservats, zwei Jahre zuvor Gastgeber für Barack Obama; Sarah Jumping Eagle, die Kinderärztin des Stammes; Shailene Woodley, Filmstar, zuletzt auf der Leinwand als Freundin von Whistleblower Edward Snowden. Shailene hatte über Live-Stream ihre Fans an ihrer Verhaftung teilhaben lassen; Amy Goodman hatte sie sofort in ihre Sendung eingeladen.

Bis vor kurzem wusste die Öffentlichkeit nichts über die Dakota Access Pipeline. Die Recherchen des Democracy Now!-Teams und alternativer Nachrichtendienste förderten zu Tage, dass sie zu 99 Prozent durch Privatland führt. 2014 war sie geplant worden; eine bei genauerer Betrachtung nicht gerade angemessene Methode hatte zu ihrer schnellen Umsetzung geführt: Nationwide Permit 12. So funktioniert diese bequeme Permit: Eine Pipeline wird dem U.S. Army Corps of Engineers nicht als Ganzes vorgelegt, sondern die einzelnen Teilstrecken werden unabhängig voneinander zur Genehmigung eingereicht. Zum Schluss wird dann aus vielen Teilen ein Ganzes – und eine staatliche Umweltverträglichkeitsprüfung wird damit umgangen. 

Die Dakota Access Pipeline – ein 3,7- Milliarden-Dollar-Projekt – soll Öl, das durch Fracking in der erdölreichen, sogenannten Bakken-Formation in North Dakota gewonnen wird, aufnehmen und in einer relativ geraden Route über 1.880 Kilometer durch die US-Bundesstaaten North Dakota, South Dakota und Iowa führen und täglich 470.000 Barrel Rohöl (74,73 Millionen Liter) zu dem Pipeline-Knotenpunkt Patoka in Illinois transportieren. Darlehen wurden von 17 Banken gewährt, so recherchierte die alternative Nachrichtenagentur Common Dreams. DNB, Norwegens größte Bank, kündigte bereits an, sich von ihren Anteilen an Firmen zu trennen, die an der Dakota Access Pipeline beteiligt sind; außerdem werde sie ihren gewährten Kredit von 2,8 Milliarden Kronen zum Kauf anbieten. Der Internet-Newsdienst Business Portal Norwegen meldet in diesem Zusammenhang, dass auch die Deutsche Bank und die Bayern LB am Pipeline-Geschäft in North Dakota verdienen.

Lebt im Camp: Tom Goldtooth, Direktor des Indigenous Environmental Network. Foto: Claus Biegert

Beim Transport werden 200 Fluss- und Bachläufe überquert; diese „water-crossings“ wurden vom U.S. Army Corps of Engineers genehmigt. Ursprünglich sollte die Dakota Access Pipeline nördlich von Bismarck, dem Regierungssitz von North Dakota, unter dem Missouri hindurch geführt werden. In der knapp über 67 000 Einwohner zählenden Hauptstadt bildete sich sofort eine Opposition und der Stadtrat ließ wissen, er werde keine Erlaubnis erteilen. Begründung: Im Falle eines Lecks wäre die Trinkwasserversorgung für die gesamte Bevölkerung gefährdet. Also verlegte man die DAP-Route nach Süden, an den Cannonball River, an die nördliche Grenze des Sioux-Reservats Standing Rock. „Environmental Racism“ – Umweltrassismus – sagen sie auf dem Reservat zu solchen Entscheidungen. Seit der Jahrtausendwende sind an Öl- und Gas-Pipelines in den USA 422 schwere Lecks aufgetreten, oft mit Verletzten, immer verbunden mit der Kontaminierung von Boden und Grundwasser; allein von Januar bis November 2016 kam es zu 26 Unfällen. Die Gesamtsumme aller Pipeline-Pannen seit 2010 – so die Auskunft der amtlichen „Pipeline and Hazardous Materials Safety Administration“ – beläuft sich auf über 3.300.

Sonntag, 16. Oktober. Prairie Knights Casino. Larry Long, der Folksinger aus Minneapolis, und ich sind spät angekommen. Sympathisanten hatten uns an einer Tankstelle auf der Straßenkarte gezeigt, wie wir – durch Vermeidung des Highways 1806 – die Blockaden der National Guard umfahren konnten. Das Casino – eine plötzliche, grelle Lichtquelle in der nächtlichen Prärie – liegt auf einer Anhöhe am Nordrand des Standing Rock Reservats, das sich im Süden weiter in den Bundesstaat South Dakota erstreckt. An der Auffahrt reiten Klischee-Krieger auf Pferden; die Bronze-Skulpturen ähneln sich quer durch die Reservate, vielleicht hat eine Firma das Monopol auf die Eingangsgestaltung. Casinos sind seit ihrer Einführung in die indianische Welt – die Seminole in Florida machten 1979 den Anfang – eine kontroverse Angelegenheit: Das Glückspiel bringt Geld und Jobs, aber oft auch Drogen und das Mitwirken mafiöser Institutionen, da auf einem Reservat meistens das Know-how fehlt, um ohne Hilfe von außen ein Casino einzurichten. Casinos verfügen immer über ein Restaurant und einen Hotelbetrieb. Das macht sie im Hinterland, wo es oft an Restaurants und Motels fehlt, auch für Nichtspieler interessant. Die Lobby des Prairie Knights Hotels wimmelt von bunten, meist jugendlichen Gestalten mit schwarzen Haaren, indianische Muster vermischen sich mit Camouflage-Stoffen, eine Aura von Lagerfeuerrauch verrät, woher sie alle kommen. Für die blinkenden Automaten haben sie kein Auge. Ihr Blick wirkt nicht verloren, wie es auf den von Arbeitslosigkeit und Apathie gekennzeichneten Reservaten der Fall sein kann. Diese Augen schauen zielgerichtet, aus ihnen spricht Verantwortung und Überzeugung.

Das Restaurant des Casinos ist leer – bis auf einen Tisch ganz hinten: heftig diskutierend Winona LaDuke und Tom Goldtooth, zwei berühmte Aktivisten aus Minnesota – sie, 59, die Gründerin von Honor the Earth, er, 63, der Gründer des Indigenous Environmental Network. Beide Organisationen engagieren sich im Indianerland quer über den Kontinent. Winona sieht uns näher kommen, winkt ab und deutet auf einen der Nebentische. Sie hat Schatten unter den Augen, später tritt sie zu uns. Eigentlich sei ein Glas Rotwein jetzt die passende Medizin, sagt sie, um gemeinsam auf die Ereignisse zurück zu blicken, doch es gilt, morgen früh fit zu sein für Amy! „Good night, guys! See you in Mandan.“ Ihre Stimme ist auch bei Übermüdung kräftig und antreibend.

Tom Goldtooth ist auch erschöpft, er nimmt sich dennoch die Zeit, uns in die Geschichte des Widerstands einzuführen. Tom ist Gründer und Leiter des Indigenous Environmental Network; ein großer Mann, ein Dine (Navajo) aus Arizona, breitschultrig, schmalhüftig, das Haar nicht im traditionellen Nackenknoten der Dine gebunden, sondern in lange Zöpfe geflochten, in den Augenwinkeln seines freundlichen, gleichzeitig ernsten Gesichts kann man den Schalk erkennen; jenen Schalk, mit dem sein Sohn Dallas als Komödiant mit seiner Truppe „1491“ in der indianischen Szene berühmt wurde. Dallas gehört zu den Wortführern des Widerstands vor Ort.

Das Lager des Indigenous Environmental Network aus Minnesota. Foto: Claus Biegert

„Es fing mit dem Sacred Stone Camp an“, erzählt Tom, dabei dienen Salz und Pfeffer und Zuckertütchen vom Tisch als Hilfsmittel zur Demonstration der Geografie, „die Ältesten der Dakota entschieden sich für den spirituellen Weg, sie wollten durch Gebete und Zeremonien einen Widerstand aufbauen, der gewaltfrei ist und dadurch die Solidarität aus der ganzen Welt erhält. Ihr Camp ist von der Straße aus nicht zu sehen, es liegt ziemlich versteckt am Cannon Ball River. Wenn ihr hinfahrt, seid nicht überrascht, wenn ihr vielleicht durchsucht werdet. Wir müssen sicher sein, dass keine Waffen, keine Drogen und kein Alkohol reingeschmuggelt werden“, sagt Tom. Und er erzählt von einer Prophezeiung der Lakota, die die Runde macht: Zuzeka sape – eine schwarze Schlange werde kommen und das Land bedrohen.

Tom Goldtooth weiß, dass die Medien kaum reagieren, solange keine Gewalt im Spiel ist, doch die sozialen Medien haben die Medien des Mainstream überholt. Er klingt sorgenvoll: „Es reicht ein Provokateur, der eine Waffe dabei hat, und bei der nächsten Konfrontation mit der Polizei kann es zum Eklat kommen. Wir brauchen kein neues Wounded Knee!“ Wounded Knee, die kleine Siedlung auf dem Pine-Ridge-Reservat: 1890 war sie Ort des letzten Massakers der 7. US-Kavallerie, 1973 Ort des neuen indianischen Widerstands gegen das moderne System der Unterdrückung. Beide Wounded Knees sind für Nordamerikas Ureinwohner ständig präsent.



Tom legt zwei Zuckertütchen auf den Tisch und schiebt den Serviettenständer zur Seite: „Hier ist das Red Warrior Camp“, seine Hand macht einen Bogen, „und das hier ist Oceti Sakowin, das Camp der sieben Ratsfeuer. Die Außenwelt hat keine Ahnung, aber das ist eine Sensation: die sieben Ratsfeuer der Dakota Nation erstmals wieder an einem Ort vereint.“ Das Red Warrior Camp – zwei Zuckertütchen – ist ein Camp der Oglala-Lakota, in dem passiver Widerstand geübt wird: das Anketten an Maschinen, das Polizisten-ins-Gesicht-Blicken, das Verhalten bei Verhaftung. Die Tischfläche vor Tom ist „the Camp“, sein rechter Arm zeigt den Highway 1806, sein linker Arm den Cannon Ball River, Larry und ich sitzen im Flußbett des Missouri.

Das Camp wurde von den Dakota gestartet, Lakota und Nakota stießen später dazu. Dakota bedeutet „Verbündete“, Lakota und Nakota ebenso. Die zwölf Stämme der Sioux unterscheiden sich in ihren Sprachen durch D, L und N. Die Farbe Rot ist zum Beispiel – je nach Stamm – duta, luta oder nuta. Gemeinsam sind sie oyate, das Volk. Der Begriff ist aber nicht nur auf Menschen beschränkt: Bisons sind tatanka oyate. Morgen wollen wir ins Camp. „Thank you, Tom!

Montag, 17. Oktober, 5.30 Uhr, kalt. Wir fahren auf dem Highway 1806 nach Norden. Östlich der Straße orangefarbenen Punkte im dunklen Grau. Es sind die ersten Feuer und die ersten Petroleumlampen des Camps. Wir biegen nicht ab, wir müssen nach Mandan. Auf halbem Weg dann die Polizeisperren; wir sind unverdächtig – Larry fährt einen Toyota Hybrid, beide Insassen keine Indianer – und werden durchgewunken. Jack Dalrymple, der Gouverneur von North Dakota, hat die National Guard auf den Plan gerufen, ohne ersichtlichen Grund, allein, so erscheint es vielen hier, um dem Widerstand gegen die Pipeline von vorn¬herein ein Gesicht von Gewalt und Sicherheitsgefährdung zu geben. An den Tagen mit Polizeieinsätzen lässt er die öffentlichen Schulen schließen.

Die fensterlose Wand des Gerichtsgebäudes in Mandan ist bereits angeleuchtet; noch ist der graue Morgenhimmel ein guter Kontrast. Amy übt die Ansage. Sie wird für die Sendung eine dicke graue Wollmütze tragen, Ton in Ton mit ihren grauen Haaren, ihr schmales, blasses Gesicht ist bereits für den Auftritt gepudert, ihren dunklen Augen scharf und aufmerksam. Das Democracy Now!-Team ist klein, kein Dutzend. Die ursprüngliche Anklage gegen Amy, so erfahren wir von ihrem Anwalt, wurde inzwischen fallen gelassen und vom Staatsanwalt durch eine neue ersetzt: statt „Disorderly conduct“ (ungebührliches Verhalten) jetzt „Riot“ (Aufruhr). „Die ungehinderte Berichterstattung mag ein Grundrecht der Vereinigten Staaten sein“, sagt ein Mitarbeiter, „aber hier ist die Frontier!“

Gründerinnen im Erfahrungsaustausch: Winona LaDuke (Honor the Earth, links) und Amy Goodman (Democracy Now!) im Café Ohm in Mandan. Foto: Claus Biegert

Noch zwei Minuten, noch eine. „Good Morning. This is Democracy Now!, the war and peace report. Heute berichten wir live aus Mandan, direkt gegenüber vom Gericht." – Amy liest vom Teleprompter, aber hat gleichzeitig das ganze Ambiente im Auge. Eine bescheidene Autorität: Sie erscheint verletzlich, wie sie da schmal und frierend vor der Kamera sitzt, eine Wolldecke wird ihr gebracht, denn die Herbstkälte kriecht über die Prärie; dennoch erscheint sie unbestechlich, eine Detektivin, der kein Unrecht entgeht. Noch einmal werden die Bilder vom September gezeigt, die ohne Democracy Now! auf die sozialen Medien beschränkt geblieben wären: Kampfhunde, die von ihren Haltern kaum gebändigt werden. Über die Erniedrigung der verhafteten Water-Protectors existieren keine Bilder. Dafür nimmt Dave Archambaud II, der Stammeschef von Standing Rock, auf dem hohen Stuhl neben Amy Platz. Er ist ein freundlicher Mann, keiner, der die Faust hebt. „Wie lautete die Anklage?“, will Amy wissen. „Disorderly Conduct – ungebührliches Benehmen“, sagt Dave. Er musste sich nackt ausziehen, bücken, dann befahl man ihm, seinen Zopf zu öffnen, um zu prüfen, ob er darin womöglich eine Waffe verborgen hatte. „Ich habe es mit Humor genommen“, sagt er, „ich habe ja nur einen ganz kleinen Zopf.“

Winona nimmt auf dem hohen Regiestuhl gegenüber Amy Platz. Sie muss nicht in Fahrt kommen, sie ist ständig in Fahrt. Vier Jahre lang hat sie den Kampf gegen die Sandpiper Pipeline in Minnesota geführt. „Eine Million Liter Öl wollten sie jeden Tag durch unser Territorium schicken. Wir haben sie vertrieben und jetzt kommen sie nach North Dakota. Und North Dakota ist ein Staat, in dem Indianer Bürger dritter Klasse sind. Gouverneur Dalrymple glaubt, er könne seinen Staat wie Mississippi regieren. Wir haben nicht mehr die 50er Jahre, Hunde und Wasserwerfer müssen ein Ende haben. Es reicht den Leuten. Sie lassen sich nicht ihr Wasser nehmen.“ Und: „Die Company bricht das Gesetz. Für diese Pipeline gibt es bis heute keine Umweltverträglichkeitsstudie. Wenn die Regierung auf diese Pipeline nicht verzichten will, warum zieht sie sie nicht nördlich an der Stadt Bismarck vorbei, wie ursprünglich geplant?“ Und: „Dem Ganzen wird militärisch begegnet. Alles gerät hier aus den Fugen. Polizisten in Kampfausrüstung provozieren die Wasserwächter, die der Pipeline mit Gebeten gegenübertreten. Die Rechte von Firmen dürfen nicht vor den Menschenrechten kommen.“

„Wie soll es weitergehen?“, fragt Winona, als wir im Café Ohm an der Mainstreet sitzen; Amy ist auch dabei. Eine Antwort kommt später aus dem Court House der Westernstadt, auf deren Fassaden noch immer der Hauch des 19. Jahrhunderts liegt. Eine Antwort der Vernunft: Der Richter weigert sich, die Anklage des Staatsanwalts zu unterschreiben; die Anklage gegen die Reporterin Amy Goodman wird fallen gelassen. Draußen bricht Trubel aus. Über hundert Demonstranten, hauptsächlich aus dem Reservat, haben sich bereits versammelt, um für die Freiheit der Presse und die Freiheit von Amy zu protestieren. Jetzt wird der Protest zu einem Freudentanz. Sofort zieht vor dem Gericht eine schwarze Front auf: Sechzig behelmte Polizisten, zum Teil aus Nachbarstaaten ausgeliehen, nehmen Stellung, schwarz, beschildert, bewaffnet. Ihre Ausstrahlung: finster, freudlos, tumultbereit. Ein Beamter, nur seine Augen sind zu sehen, über die Nase spannt sich ein schwarzes Halstuch, filmt uns, die Menge; seine Kamera ist aus den 90er Jahren. Die Indianer lassen ihre schrillen Stakkato-Schreie hören, es ist ein Jubeln, der Richter hört es nicht, er ist bei der Arbeit im schallgedämmten Saal.

Nathan Piengkham, Kalispel Nation, ist aus Washington State angereist, um sich den Protesten anzuschließen. Foto: Claus Biegert

Ein Rundtanz wird begonnen. „Die Rückkehr des Ghost Dance“, sage ich, mehr zu mir selbst gesprochen. Ein junger Mann mit einem Schild „Water for Life“ dreht sich abrupt um. „Was sagst du da? Wie kommst du dazu? Ich komme von den Payute, aus dem Dorf von Wovoka!“ Wovoka hatte 1890 einen Tanz eingeführt, der die Toten und die Bisons zurückbringen und die Natur heilen würde. Die Tänzer fertigten sich Gewänder, die sie unverwundbar machen sollten. In Washington hatte man den Tanz als Kriegstanz interpretiert und die 7. Kavallerie gen Westen gesandt. Das Massaker von Wounded Knee war die Antwort und das Ende.

Wieder auf dem Highway 1806. An der Abzweigung zum Camp steht ein junger Dakota an der Straße. „Come over or keep goin‘!“ Er will verhindern, dass Autos parken und der Polizei einen Grund zum Eingreifen geben. Vom Wachtposten am Eingang werden wir auf die Regeln hingewiesen: keine Waffen, keine Drogen, kein Alkohol, Respekt gegenüber ihren Zeremonien. Fotos? Er deutet auf das Medienzelt oben auf dem Hügel „You get a pass there!“ Wir haben Essensspenden dabei. „The new kitchen, follow this road, turn left at the fork, you’ll see it.“ Eine breite Fahrspur führt vom Sattel des Highways sanft nach unten in die Prärie, gesäumt von Flaggen und Bannern, Insignien der indigenen Nationen, dazwischen immer wieder der inzwischen 40 Jahre alte Aufruf „Free Leonard Peltier!“. Bemalte Tipis, bunte Trecking-Zelte und dunkelgrüne Hauszelte füllen das Blickfeld nach allen Seiten aus, der Raum zwischen Straße und Fluss ist dicht bewohnt. Holzfeuergeruch. Es ist, als betreten wir eine parallele Welt, gerade noch das Westernstädtchen mit dem Anstrich der Vergangenheit, nun eine Zeltstadt der Zukunft. Kein Pow-wow, kein Open-Air-Konzert, sondern eine Versammlung mit open end, eine Versammlung von Verantwortungsträgern. Verbündete des Missouri. Larry fängt an, leise vor sich hin zu singen: „Standing up for Standing Rock.“ Es fängt an zu regnen. In einem der Küchenzelte kochen sie Bohnen. Die Köche freuen sich am meisten über den Strauß Koriander im Karton mit unserer bescheidenen Essenspende. „We got Silantro, we got Silantro!“ rufen sie einander zu.

Das Spendenzelt ist gefüllt mit Wolldecken und Winterbekleidung. Ein überdachter Vorplatz ist der pausenlos bevölkerte Empfangsbereich. Durchsagen wechseln sich ab mit Geschichten und Liedern, die Lautsprecher reichen weit. Langsam wandern wir durch Oceti Sakowin, vorbei an Pferden, Kleinlastern, Holzstapeln, Hunden, Kindern; immer wieder Schilder „Water is Sacred“, „Freedom for Leonard Peltier“, „We are not Protestors, we are Protectors“. Wir suchen das Red Warrior Camp, das am Rande liegen soll. Wir fragen zwei Frauen, die ein Zelt errichten. Es sind Krankenschwestern aus Washington State, sie wollen den Winter über hier bleiben. Eine Krankenstation gibt es bereits, auch eine Schule, drei Gemeinschaftsküchen. Täglich finden Ratssitzungen statt. Allein die Hygienefragen stellen eine Herausforderung dar. Wer regelt den Abfall? Wir sehen kaum Weggeworfenes auf unserem Gang. Die Toiletten werden von einer Firma geholt und gebracht; 10.000 Dollar sind das in der Woche. Der Stammesrat von Standing Rock hat beschlossen, diese Summe zu übernehmen. Wer duschen will, muss ins Casino. Irgendwer hat dort immer ein Zimmer.

Demonstration für Amy Goodman vor dem Gerichtsgebäude in Mandan. Foto: Claus Biegert

Wir folgen einem schmalen, oft nassen Weg zum Sacred Stone Camp. Es liegt zwischen Hügeln, Tipi-Stangen waren gestern geliefert worden, Zedern, einer befreit sie gerade mit einem Schälmesser von der Rinde. Ein Wig-wam soll entstehen, das gekrümmte Gerippe, das die Hülle tragen soll, steht bereits. Das Camp steht länger als die große Zeltstadt. Viele Weiße sind hier. Unterstützer, die aus allen Himmelsrichtungen anreisen, werden in die Infrastruktur eingebaut. An der Front stellen sich immer Dakota aus Standing Rock der Pipeline und den Polizeikräften entgegen. Denn es geht um ihr Land und ihre Gräber. Zwei Gesetze sind auf ihrer Seite: Der „American Indian Religious Freedom Act“ (AIRFA) von 1978 und der „Native American Graves and Repatriation Act“ (NAGPRA) von 1990 schützen die kulturellen Stätten. Doch im Mittelwesten scheint man derartige Gesetze nur als Gerüchte aufzufassen. Hier herrscht das Öl. Hier herrscht Genugtuung, wenn Indianer in Handschellen abgeführt werden und ein Stammespräsident gezwungen wird, die Kleider abzulegen. „Legendary North Dakota“ steht über dem Highway. Feuerholz gilt es zu schneiden, die Winter sind hart in den Dakotas. „Standing Rock will become a symbol worldwide!“, sagt eine junge Indianerin, die gewandt mit der Kettensäge umgeht.

Winterbeginn, Blizzards. Larry hat einen neuen Song aufgenommen: „Standing up for Standing Rock.“ Am Cannon Ball River regelmäßig Verhaftungen. Ein paar Sender wachen langsam auf und berichten. Aus Neuseeland kommt die Kunde, dass Maori auf öffentlichen Plätzen für Standing Rock tanzen. „Wie soll das weiter ehen?“ fragt Winona. Democracy Now! hat auf seiner Website www.democracynow.org unter „Topics“ die feste Rubrik „Dakota Acces Pipeline“ eingerichtet. Der U.S. Army Corps of Engineers will die Route prüfen, eventuell eine neue bestimmen; der Konzern Energy Transfer Partners geht vor Gericht. Die Protectors gehen täglich der Pipeline entgegen, bauen Sperren, singen, beten, werden verhaftet. Der erste Frost setzt ein. Die Polizei bedient sich bei Minusgraden der Wasserwerfer. Wie soll das weiter gehen? 17 Aktivisten müssen im Krankenhaus wegen Unterkühlung behandelt werden. Eine Frau verliert durch ein nicht-tödliches Geschoss fast ihren Arm. Die Betroffenen werden zitiert; ein Zitat hält sich fest in meinem Kopf: „Unsere Vorfahren haben sie erschossen. Was sie hier mit uns treiben, können wir gut durchstehen. Wir schulden es unseren Vorfahren, jetzt durchzuhalten.“ Der Governeur ordnet die Räumung des Camps an, behauptet, es ginge ihm um das Wohl der Menschen im harten Winter. Veteranen kommen quer aus den Staaten, um sich als lebende Schilder gegen die National Guard zu stellen. Wer Lebensmittelspenden schickt, soll eine Geldstrafe erhalten. Die britische Zeitung The Guardian kommt zu der Erkenntnis: „The Standing Rock protests are a taste of things to come.“ Das trifft den Kern: Standing Rock gibt uns einen Vorgeschmack, was künftig auf uns alle zukommen wird.

4. Dezember, gegen Abend: Präsident Barack Obama versagt die Genehmigung, die Pipeline durch das Gebiet der Dakota unter dem Missouri hindurch zu führen und ordnet einen Baustopp an. Die Bauarbeiten gehen weiter, sie fühlen sich dem alten Präsidenten nicht mehr verpflichtet. Donald Trump ließ wissen, er werde die Fertigstellung anordnen. A taste of things to come. 


Claus Biegert arbeitet für den Bayerischen Rundfunk, die Süddeutsche Zeitung sowie die Magazine Oya und natur. Er wurde vor allem bekannt durch zahlreiche Publikationen über seine Recherchen bei den Indianern in den USA und in Kanada. 1992 hat er mit anderen die Weltkonferenz „World Uranium Hearing“ in Salzburg organisiert. Indigene Völker berichteten dort von den Folgen der Atomindustrie. Biegert ist Gründer des Nuclear-Free Future Award und Beiratsmitglied der Gesellschaft für bedrohte Völker.



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