„Weil du ein Zigeuner bist, sonst nichts“

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Symbolbild: Roma werden in Serbien diskriminiert und wie Menschen dritter Klasse behandelt. Das bekam auch Zvesdan zu spüren. Deshalb ist er nach Deutschland geflohen. Foto: © sara v via Flickr

Von Andrzej Wisniewski

Ich bin ein Rom aus Polen und lebe schon lange in Deutschland. Hauptberuflich arbeite ich als Sozialarbeiter in einer Wohneinrichtung für Asylbewerber und obdachlose Menschen in Hamburg, aber auch als Dolmetscher für Romanes. Ich hatte mich früher nie schriftstellerisch betätigt, aber das Leben zwingt mich zu schreiben. Wenn mich jemand nach den Motiven fragt, warum ich jetzt schreibe, kann ich nur eine Antwort geben. Es hat mich einfach aus persönlichen Gründen interessiert, wie es dazu kommt, dass Roma und Sinti diskriminiert werden, und was man dagegen tun kann. Es war auch eine Beschäftigung mit meiner Identität, daher habe ich auch ein Buch mit dem Titel „Ihr nanntet uns Zigeuner“ geschrieben.

Als Dolmetscher habe ich viele Geschichten gehört. Es kam sehr oft vor, dass sich bei solchen Geschichten (Anhörungen) meine Augen mit Tränen füllten und mein Herz weinte. Ich weiß, das klingt überhaupt nicht professionell, und ich sollte bei solchen Geschichten über den Dingen stehen, aber für mich war und ist es immer noch schwierig zu vergessen, dass ich auch ein Mensch, ein Rom bin. Ich weiß, dass ich meine Erfahrungen nicht konkret weitergeben darf, aber ich habe gewagt, ein paar Geschichten aufzuschreiben, damit die Gadzie (Nicht-Roma) einen kleinen Blick auf unser wahres Leben werfen können.

Lesen Sie nun eine der Geschichten, die Andrzej Wisniewski aus seinem Berufsalltag aufgeschrieben hat. Er dolmetschte bei einer Anhörung für eine Roma-Familie aus Serbien, die nach Deutschland eingereist war. Dabei erzählte der Rom Zvesdan von seinem Leben.

Zvesdan der Briefträger

Ich bin Zvesdan, der Briefträger. Mein ganzes Leben habe ich in einem Ort gelebt. Ich bin dort geboren. Ich bin dort zur Schule gegangen, ich habe mich dort verliebt und habe dort geheiratet. Ich kannte keinen anderen Ort. Außerhalb meiner kleinen Stadt war ich noch nie gewesen. Ich liebte den Ort, ich liebte das Haus, welches mein Vater für uns gebaut hatte. Ich liebte den kleinen Fluss, in dem ich oft gebadet habe, ich vermisse die grüne, saftige Wiese, auf welcher ich mit den anderen Kindern, als ich noch klein war, gespielt habe. Als ich noch ein Kind war, haben wir mit den anderen Kindern aus unserer Stadt Fußball gespielt. Was für eine Freude das war! Belo Polje ist ein Ort in der Nähe von Surdulica (Serbien) mit etwa 3.000 Einwohnern. In der Mitte des Dorfes steht immer noch eine alte Kirche. Am Ende des Dorfes befand sich eine kleine Moschee mit einem schmalen hohen Minarett. Kirchenglocken und Muezzin-Gesang luden die Dorfbewohner gemeinsam zum Gebet ein. Was für eine Welt! Eine Welt voll Frieden und Harmonie: Christen, Muslime, Roma, Gadzie, alle lebten in einer perfekten Welt - dachte ich damals. Wie könnte ich das alles vergessen! Ich habe viele Freunde gehabt. Nach der Schule haben wir uns immer getroffen und zusammen gespielt. Mein Vater hatte nichts dagegen, dass ich viele Gadzie-Freunde hatte und freute sich mit mir. Die Nachbarn kannten meine Familie sehr gut, und ich dachte, sie mochten uns. Wenn bei den Nachbarn etwas kaputt ging, zum Beispiel wenn das Dach repariert oder neue Fenster eingesetzt werden sollten, war mein Vater immer der erste, der seine Hilfe anbot.

Mein Vater arbeitete schwer, um die Familie ernähren zu können. Er baute Häuser. Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben. Ich kannte sie nicht. Mein geliebter Vater hat nie wieder geheiratet, und sein ganzes Leben hat er für mich und für meine kleine Familie geopfert. Er war derjenige, der immer zu mir sagte, dass die Schule sehr wichtig ist, dass ich lernen soll. „Ohne richtige Ausbildung, ohne Beruf kannst du nichts machen. Wie wirst du später für deine Familie sorgen?“ Mein Vater war derjenige, der immer dafür sorgte, dass ich pünktlich zur Schule ging, dass ich lernte. Mir fehlte nichts. Mein Väterchen sorgte dafür, dass ich Frühstück für die Schule hatte, und er kochte für mich, wenn ich von der Schule zurückkam. Ich bemühte mich, das zu machen, was mein Vater mich lehrte. „Du musst immer nett zu den anderen sein, dann sind die auch nett zu dir!“ Er war so stolz, als ich ihm mein Abschlusszeugnis brachte. Nach der Hauptschule machte ich ein Praktikum bei der Post in unserer Nähe. Es war eine wunderbare Zeit. Ich lernte damals viel, und was für mich auch wichtig war, ich hatte große Freude an dem, was ich tat. Es hatte sich gelohnt. Von dieser Zeit bedaure ich nichts. Der Postfilialleiter war mit mir sehr zufrieden und bot mir nach dem Praktikum eine richtige Stelle als Briefträger bei der Post an. Mein Vater weinte vor Freude, und ich war auch sehr stolz und zufrieden. „Jetzt bist du ein richtiger Mann geworden“, sagte mein Vater mit Stolz in der Stimme. „Alles, was wichtig ist, hast du erreicht. Jetzt kannst du eine eigene Familie gründen“, sagte er und drückte mich zärtlich an sich. Aber ich war damals 19 Jahre alt und noch nicht bereit zu heiraten. Ich wollte noch das Leben erforschen und von allen Seiten kennenlernen, ausprobieren, die unterschiedlichen Seiten des Lebens einfach auskosten, um zu erfahren, wie es schmeckt.

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Briefkästen in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Zvesdan arbeitete in seiner Heimat als Postbote. Foto: © benkamorvan via Flickr

Ich arbeitete beim Postamt als Briefträger. Es war ein Traum: Jeden Tag fuhr ich mit dem Fahrrad eine mir bekannte Route, um die Briefe, Telegramme, kleinen Pakete den Menschen zuzustellen. Jeden Tag klopfte ich an die Türen oder klingelte, grüßte höflich die vertrauten Kunden, scherzte mit ihnen und fuhr dann weiter. Ich liebe es, mit den Menschen zu sprechen, mich zu unterhalten. Langsam bekam ich das Gefühl, dass mich die Menschen in unserem Ort mochten, akzeptierten und auf mich warteten. Ab und zu baten sie mich auf eine Tasse Kaffee oder Tee herein. Im Laufe der Zeit kannte ich alle. Ich kannte jeden und jeder kannte mich.

Alles schien perfekt zu sein. Aber die Politik zerstörte die perfekte Harmonie, stellte sie in Frage. Die Politiker, die an der Macht waren, gaben einander die Schuld. Muslime gaben den Christen die Schuld, Christen den Muslimen und alle zusammen den „Zigeunern“. Die Roma wurden in den Konflikt mit Gewalt hineingezogen und wussten nicht, was los war. Nach der Wende änderte sich die Situation im Land so, dass ich manchmal Angst bekam, auf die Straße zu gehen. Die politische und wirtschaftliche Situation wurde immer schwieriger. Die Gesellschaft spaltete sich in „Gute“ und „Böse“, Reiche und Arme, Muslime und Christen – und zwischen allen wir, die Roma.

Eines Tages musste ich einen Brief an den Nachbarn überbringen. Der Sohn meines Nachbarn sollte zum Militär, und ich sollte ihm den Einberufungsbescheid zustellen. „Ich habe einen Brief für Nebojscha! Er soll in die Armee!“, sagte ich und übergab den Brief seinem Vater. Zwei Monate später erfuhren wir, dass Nebojscha, mein Schulkamerad, bei einem Militärangriff ums Leben gekommen war. Es war für mich nicht leicht, als ich das erfuhr. Ich kannte Nebojscha noch sehr gut aus der Zeit, als wir kleine Kinder waren. Der Vater konnte den Tod seines Sohnes nicht verkraften und fing an zu trinken. Seine Frau verließ ihn und zog in den Nachbarort zu ihren Eltern. Nebojschas Vater blieb allein. Ich sah ihn sehr oft auf der Straße, wenn er mit seinen Trinkkumpanen randalierte.

Eines Tages, als ich von der Arbeit nach Hause kam, berichtete mir mein Vater, dass in unser Dorf eine andere Roma-Familie gekommen sei und sich hier sesshaft machen wolle. „Sie haben dem alten Vlado das Haus abgekauft. Vielleicht sollten wir die Familie besuchen? Ich habe gehört, sie haben eine schöne Tochter.“

Das Schicksal ließ nicht lange auf sich warten. Als Briefträger sollte ich einen Brief an die Familie zustellen, und ich machte mich auf den Weg. Der alte Gojko Aliev und seine Frau Selma waren einfache Roma. Sie konnten nicht lesen und schreiben. Das einzige, was sie gut kannten, war Ziegenzucht. Auf einem Bazar verkauften sie Ziegenmilch, Käse und Kartoffeln. So habe ich meine zukünftige Frau kennengelernt. Vesna, so heißt meine Frau, war damals 18 Jahre alt und das einzige Kind der Familie Aliev. Ich heiratete sie, und sie zog in das Haus meines Vaters. Mein Sohn kam auf die Welt, als ich 25 Jahre alt war. Ich war so glücklich. Für meinen Vater war mein kleiner Sohn Zlatan alles im Leben. Mein Väterchen verbrachte mit ihm die ganze Zeit und half meiner Frau so sehr er konnte. Zlatan wuchs ganz schnell wie Kuchen im Backofen und fing bald an zu sprechen.

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Zvesdan wuchs nahe der Stadt Surdulica in Südostserbien auf. Foto: © Marko Anastasov via Flickr

Wie könnte ich den Tag vergessen! Vesna hatte an dem Tag Geburtstag. Geburtstage vergisst man nicht. An diesem Tag wollte ich meine Frau überraschen und sie zum Essen einladen. Ich wollte ihr eine Freude machen und mich bei ihr ganz herzlich dafür bedanken, dass sie immer für mich da war, dass sie meine Frau ist, dass sie so fleißig ist und dass sie für meinen Vater eine Tochter geworden ist. Am Abend zog meine Frau ihr bestes Kleid an, machte sich sehr schick, nahm mich an die Hand und sagte: „Ich bin schon fertig, wir können gehen.“ Als wir im Restaurant am Tisch saßen, kamen unsere Nachbarn – Nebojschas Vater mit ein paar Freunden – herein. Alle waren schon betrunken und sehr laut. Als sie uns bemerkt hatten, wurden sie noch lauter und aggressiv. „Der dreckige Zigeuner, der da sitzt, hat meinen Sohn in den Tod geschickt. Der Mörder! Alle Zigeuner sind so, krimineller Abschaum der Gesellschaft! Wie lange wollen wir noch warten und leiden! Die töten unsere Söhne, und wir können nichts sagen! Wir müssen der Zigeunerbande eine Lektion erteilen, so wie wir es mit den Moslems gemacht haben!“

Ich und Vesna saßen da wie versteinert und konnten kein Wort sagen. Ich stand auf, nahm meine Frau und wollte gerade weggehen, als einer der Betrunkenen mich anzuhalten versuchte. „Wo wollt ihr hin, dreckige Zigeuner – unsere bescheidene Gesellschaft pass euch nicht?“ Ich bin ein sehr ruhiger Mensch und ich wusste, dass ich gegen die keine Chance hatte, deshalb blieb ich ruhig. Nach außen war ich ruhig, aber in meinem Inneren tobte ich vor Wut. Außerdem war Vesna bei mir und ich konnte sie nicht in Gefahr bringen. Vor Ratlosigkeit und Wut biss ich in meine Zunge, bis das Blut kam. Als ich aus dem Restaurant raus wollte, spuckte mir der Betrunkene ins Gesicht und schubste mich. Ich fiel zu Boden. Die Gadzie traten mich mit den Füßen. Meine Frau schrie sehr laut und warf sich über mich, um mich zu beschützen. Sie rief um Hilfe, aber keiner von den Restaurantgästen half uns. Ich wurde ohnmächtig.

Als ich meine Augen wieder aufmachte, sah ich ein starkes Licht, und alles um mich herum war weiß. Ich lag auf einem weißen Bett, zugedeckt mit einem weißen Bettlaken. „Bin ich schon tot?“, fragte ich mich laut. „Nein, du bist im Krankenhaus, mein Sohn!“, antwortete mir eine warme, wohlbekannte Stimme. Mein Vater saß am Rande meines Betts und hielt meine Hand. „Du lebst immer noch, mein Sohn. Deine Rippen sind gebrochen, und eine davon hat deine Leber kaputt gemacht. Deine Nase ist auch gebrochen, deshalb musst Du eine Weile hier bleiben.“ „Sag mir, Vater, was ist mit Vesna, meiner Frau, und wo ist Zlatan?“, fragte ich und fing an zu weinen. Ich weiß, es klingt kindlich, aber es war so. Ich wollte nicht weinen. „Mit Vesna ist alles in Ordnung. Sie ist gesund. Außer ein paar blauen Flecken hat sie nichts. Gott sei Dank! Sie ist zu Hause bei Zlatan. Er vermisst dich sehr und kann es nicht abwarten, dass du nach Hause zurückkommst. Aber wie ich schon sehe, musst du dich ein wenig gedulden!“

Im Krankenhaus lag ich fast einen Monat lang. Was für eine Freude es war, als ich nach Hause zurückkam! Eines Tages saßen wir alle zusammen am Tisch. „Was willst du jetzt machen, mein Sohn? Am klügsten wäre, wenn du diese Geschichte einfach vergisst. Wir sind Roma, wie haben in diesem Land keine Rechte. Den Gadzie gehört alles: Behörden, Polizei, Gerichte, Armee“, sagte mein Vater leise und guckte mich mit Tränen in den Augen an. In dem Moment wollte ich laut schreien und meinem Vater sagen, dass er im Unrecht ist. Wir leben doch im 21. Jahrhundert in Europa! Wir leben in einem Land, in dem Demokratie eine wichtige Rolle spielt! Deshalb beschloss ich, eine Anzeige bei der Polizei zu machen. Nach der Arbeit, ein paar Tage nach dem Gespräch mit meinem Vater, ging ich mit meiner Frau zur Polizeiwache und erstattete dort Anzeige gegen meinen Nachbarn. Ich konnte nicht anders. Ich erhoffte mir, dass die Gadzie mich dann endlich in Ruhe ließen. Aber nachdem ich die Gadzie angezeigt hatte, verschärfte sich die Situation noch mehr. Das Verhältnis zu den Nachbarn wurde viel, viel kälter. Nur wenige grüßten mich auf der Straße, und auch als Briefträger konnte ich meine Arbeit nicht mehr richtig ausüben. Die Menschen, die ich einst sehr gut gekannt hatte, mit denen ich aufgewachsen war, änderten sich so sehr, dass ich sie nicht wiedererkannte. „Der Zigeuner will uns belehren, was Recht bedeutet? Uns? Wir sind die wahren Bürger dieses Landes. Er ist nur ein Zigeuner!“ Oft habe ich solche Worte gehört, und ich sage euch, es tat mir wirklich weh.

GfbV-Aktion anlässlich des Welt-Roma-Tags im Jahr 2013: Hier geborene und aufgewachsene Kinder langjährig geduldeter Roma-Familien setzen mit Luftballons ein Zeichen. Sie wollen hier bleiben, weil Deutschland ihre Heimat ist. Foto: © Patrick Strehl für GfbV

Eines Tages rief mich mein Vorgesetzter zu sich und sagte mir, dass er mir kündigen müsse. In der letzten Zeit habe es angeblich viele Beschwerden über meine Person gegeben. Es wurde behauptet, dass ich sehr unhöflich und arrogant gegen die Einwohner geworden sei. Ich verließ das Büro meines Vorgesetzten mit einer Kündigung in der Hand. Mein Herz weinte, aber ich konnte nichts machen. „Wenn du willst, kannst du gegen die Kündigung innerhalb einer Woche Widerspruch einlegen“, sagte er lachend und schloss die Tür zu seinem Büro.

Ohne Arbeit war das Leben ohne Sinn und ohne Perspektive. Ich saß zu Hause ohne Arbeit fast einen Monat lang und dachte nach. „Was habe ich falsch gemacht?“, fragte ich mich immer wieder, und in der Wirklichkeit konnte ich keine Antwort finden. Wie geht es weiter mit uns? Wie konnte ich jetzt meine Familie ernähren? Meine Frau Vesna half mir, so sehr sie nur konnte. Zusammen sammelten wir Altmetall und Altpapier und verkauften es weiter bei einem Schrotthändler am Ende des Dorfes. Ich bewarb mich ständig um eine neue Stelle, aber jedes Mal bekam ich nur Absagen. „Wir haben keine Arbeit für dich, außerdem stellen wir keine Zigeuner ein“, sagten die Gadzie zu mir.

Eines Tages als Vesna und ich beim Schrotthändler altes Metall verkaufen wollten, kam der Vater von Nebojscha mit zwei angetrunkenen Männern und kippte unseren Wagen mit dem gesammelten Schrott um. Er behauptete, dass ich das Altmetall von seinem Hof geklaut hätte. Als ich mich verteidigen wollte, schlug er mir mit der Faust ins Gesicht. Meine Frau wurde geschlagen und erlitt viele Prellungen. Du fragst mich, mein Bruder, ob ich das bei der Polizei gemeldet habe? Ja, mein Bruder. Nicht nur einmal. Hundertmal habe ich mich beschwert und meine Peiniger angezeigt, aber umsonst. Jedes Mal wurde ich von den Polizisten ausgelacht. „Es gibt keinen Grund für Sie, sich zu beschweren“, sagten die Polizisten. „Und außerdem haben Sie keinen Zeugen. Selbst der Schrottplatzbesitzer hat nichts gesehen und gehört!“ Mit einem Gefühl von Ratlosigkeit im Bauch verließ ich jedes Mal die Polizeiwache und ging mit tief hängendem Kopf nach Hause. Was ist aus den Menschen geworden? Warum, warum? Eine Stimme im Kopf sagte mir: „Weil du ein Zigeuner bist, sonst nichts, und du bleibst immer ein Fremder in diesem Land. Die Gadzie mögen solche wie dich nicht. Du hast keine Chance, gegen die zu kämpfen. Die ,Gerechtigkeit‘ wird immer auf der Seite der Gadzie bleiben.“

Die Situation im Land wurde immer schwerer. Es gab nichts. Kein Geld, keine Arbeit, nur kleine finanzielle Hilfen vom Staat. „Sozialhilfe“ nennt man das. Aber es reichte von vorn bis hinten nicht. Für das Geld, welches ich vom Staat bekam, konnte ich nur zwei Schachteln Zigaretten kaufen, sonst nichts. Mein Vater half mir, so sehr er konnte. Er arbeitete auf einer Baustelle in der Stadt. Er beherrschte seinen Beruf sehr gut und war bekannt als guter Maurer. Er erzählte mir, dass er nach dem Krieg, als alles kaputt war, viele Häuser gebaut hatte. Aber nun war er schon alt, und nur wenige wollten ihn auf einer Baustelle einstellen. So lebten wir in der Hoffnung, dass ich bald eine Arbeit fände.

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Symbolbild: Bei einem Brandanschlag auf sein Haus verlor Zvesdan seinen Vater und seinen fünf Jahre alten Sohn Zlatan. Foto: © Mike Gabelmann via Flickr

Wie könnte ich diese Nacht vergessen! Es war Sommer, schwülwarm, und die Fenster in unserem Schlafzimmer waren offen. Ich konnte nicht schlafen und wälzte mich ständig von der einen Seite auf die andere. Auf einmal hörte ich Gadzie-Stimmen vor unserem Fenster. Die eine war die charakteristische, raue, mir bekannte Stimme meines Nachbarn. Die anderen Stimmen erkannte ich nicht. Im ersten Moment dachte ich mir nichts dabei, aber kurz danach hörte ich ein Geräusch von zerbrechenden Glasscheiben und ich sah das Feuer, das sich ganz schnell im ganzen Zimmer ausbreitete. Überall roch es nach Benzin. Die Feuerflammen waren so stark. Ich versuchte, meinen Sohn Zlatan zu finden, aber er war nicht da. Vor Angst hatte er sich versteckt, und wir konnten ihn nicht finden. „Vielleicht ist er aus Angst schon nach draußen gelaufen“, rief mein Vater und lief nach draußen, ihn zu suchen. „Zlatan, Zlatan!“, rief er, „wo bist du, wo bist du, mein geliebter Enkel? Antworte mir!“ Aber Zlatan antwortete nicht. Vesna und ich flohen auch aus dem Haus, wir waren ohne Kraft. Wir suchten alles ab, aber Zlatan war nicht zu finden. Plötzlich hörten wir eine weinende Stimme, die Stimme von Zlatan, die um Hilfe rief. Die Stimme kam aus unserem Haus, und wir konnten sie deutlich hören. Das Haus brannte schon lichterloh, und das Dach fiel langsam herunter. Mein Vater lief in das Haus hinein, Zlatan zu retten. Ich konnte ihn nicht zurückhalten. Er schubste mich voller Kraft von sich und rannte in das brennende Haus.

Mein Vater hat sein Leben geopfert, um Zlatan zu retten. In dieser Nacht verlor ich alles, was für mich wichtig war. Meinen Vater und meinen Sohn Zlatan. Er war erst fünf Jahre alt. Du fragst mich, ob ich zur Polizei gegangen bin und die Gadzie angezeigt habe? Ja, mein Bruder, ich war bei der Polizei, aber das Verfahren wurde eingestellt. Niemand hatte etwas gesehen und gehört. Ich beschloss, das Land zu verlassen, weil ich den Hass gegen uns Roma nicht mehr ertragen konnte. Ein Land, in dem keine Demokratie herrscht, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, ist kein Land für uns Roma. Ich weigerte mich, in einem solchen Land zu leben. Ich verkaufte alles, was ich noch besaß, und für das Geld kaufte ich mir eine Fahrkarte nach Hamburg. Ich hatte viel Gutes von Hamburg gehört. Ich hatte gelesen, dass das eine große Stadt in Norddeutschland ist, ein Tor zur Welt. Ich kam nach Deutschland in der Hoffnung, Altes vergessen zu können und neu anzufangen.


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