Der lange gewaltsame Abschied von Schlesien

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Brücke über die Neiße in Glatz: Die schlesische Stadt im heutigen Polen war eine der ersten Stationen von Giselas Familie auf der Flucht in den Westen. Foto: © Stefan Schlautmann via Flickr

1. Februar 1945 bis 28. März 1946

Gisela Geismar, die Mutter unserer Redakteurin Inse Geismar, ist in Ratibor aufgewachsen. Als sich die russischen Truppen der Stadt an der Oder 1945 bedrohlich nähern, ist Gisela als älteste von drei Schwestern 15 Jahre alt. Ihr Bruder Berthold wurde eingezogen. Die Familie flieht aufs Land und bald weiter nach Glatz. Dort wird sie von den Russen überrollt. Später lösen polnische Truppen die russischen ab. Die Jugendlichen schweben ständig in Gefahr, von Soldaten „geschnappt“, zu schwerer Arbeit oder Schlimmerem gezwungen zu werden. Krieg und Flucht haben ihrer unbeschwerten Kindheit ein jähes Ende gesetzt. Wir veröffentlichen hier zum Teil gekürzte Auszüge aus der Fluchtgeschichte von Gisela Geismar. Sie hat ihre schmerzhaften Erinnerungen nach einem ersten Besuch ihrer früheren Heimat 1986 für ihre Kinder aufgeschrieben und ihnen kurz darauf in Oberschlesien die Stationen ihrer Vertreibung gezeigt, die im niedersächsischen Braunschweig ein glückliches Ende fand.

Vatel besteht am 1. Februar 1945 auf Abreise von Muttel mit uns drei Mädchen. Er ist nach plötzlich einsetzendem Beschuss der Stadt nicht bereit, die Aktion auch nur um einen Tag zu verschieben. Er selbst muss „bis zuletzt“ bleiben, um das in der Mühle gespeicherte Korn zu vermahlen. 30.000 Zentner dürfen den Russen nicht in die Hände fallen. Rucksack packen. Was muss hinein? Wäsche zum Wechseln, Nachthemd und Zahnbürste, ein Pullover, ein Rock, ein Topf und ein Löffel …ist ja schon voll, dass er nicht mehr zugeht! Das hineingemogelte Buch muss raus, dafür ein Handtuch rein….In 14 Tagen spätestens sind wir wieder zurück. Blumen gießen, aufräumen, Abendbrot, letztes gemeinsames, herunterwürgen, Licht aus.

Vatel trägt einen Bettsack, Muttel einen Rucksack wie wir und Taschen mit Lebensmitteln. Ich ziehe Hannele samt Puppe hinter mir her. Wir haben viel Kleidung übereinander angezogen, fühlen uns unbeholfen wie Maikäfer. Die Zähne klappern, aber man kann die Kälte vorschieben: Es sind minus 15 Grad Celsius. Der Bahnhof gleicht einem Heerlager. Wir kommen nur weg, weil wir mit einem Nahverkehrszug einige Dörfer weiter fahren. (…) Ankunft in Leobschütz nach einer guten Stunde. In der kleinen kalten Bahnhofshalle verbringen wir die Nacht: halb sitzend auf unseren Rucksäcken, halb liegend auf Muttels Schoß. Schlaflose Augen über uns. Zwölf Stunden nach unserer Abreise, am frühen Morgen von Vatels 45. Geburtstag, wird unser Haus von einer russischen Bombe getroffen.

Erinnerungsbilder aus Ratibor: Dominikaner-Kirche, Liebfrauenkirche und Schlosskapelle im Hintergrund, davor auf der Oderbrücke der Ruderklub, St. Nepomuk, Jungfrau Maria auf der Pestsäule, Joseph von Eichendorff und ein Kruzifix. Zeichnung: © Alfred Geismar

- Von Leobschütz geht die Familie zwölf Kilometer zu Fuß nach Bratsch. Dort findet sie Unterschlupf. Die beiden größeren Schwestern Gisela und Ruth fahren drei Mal zurück nach Ratibor.

Zwei Leben für Sauerkraut und Hühner! Wir füllen das Sauerkraut in eine große Wasserkanne und unsere letzten drei Hühner lebendig in einen Sack. Am Griff des Küchenschranks hängt Bertholds Taschenuhr. Ich lasse sie pendeln, denke aber nicht daran, sie mitzunehmen. Auch ein goldenes Herzchen, Schmuckstück meiner verstorbenen Schwester, bleibt liegen. Dafür stecke ich einen Baumwollkniestrumpf in die Tasche. Er ließe sich aufribbeln und neu verstricken. (…) Am Stadtrand wird es noch einmal gefährlich. Tiefflieger hört man erst, wenn es fast zu spät ist. Vatel wirft das Fahrrad hin und sucht Schutz hinter einer dicken Kastanie, Ruth und ich setzen über die Straße in eine überdachte Toreinfahrt. Wieder einmal Glück gehabt! Mit zitternden Knien gehen wir zurück zu Vatel. Er umkreist gebückt, leise fluchend, die Kastanie und sammelt Geschosse zum Andenken. Diese Salve galt ihm persönlich. (….) Bergauf und bergab schleppen Ruth und ich das Sauerkraut und die Hühner, immer kurze Strecken mit Pausen dazwischen – etliche Kilometer weit. Konnte Muttel nicht abschätzen, wie hundeelend und todmüde man von Sauerkraut wird? Sie wird alles bedacht und vieles gefürchtet haben. Wahrscheinlich war ihr jeder Grund recht, nach Vatel Ausschau zu halten.

Muttel lässt sich nicht erweichen, auch nur einen Ruhetag für uns zwei einzuschieben. Die Lage für das kleine Dorf hat sich während unserer Abwesenheit zugespitzt. Die Erdfontänen der einschlagenden Geschosse kann man mühelos ohne Fernrohr aufspritzen sehen, der Geschützdonner ist laut. Wir tragen Teile unseres Gepäcks streckenweise vor, setzen ab, rennen zurück und holen den Rest. So kommen wir nur mühsam vorwärts über den Berg zum Bahnhof Mocker. (…) Zwei Tage später legt Muttel uns wortlos eine frische Zeitung mit einer Abbildung auf den Frühstückstisch: Der Bahnhof von Mocker – 24 Stunden nach unserer Abfahrt samt dem Achtuhrzug von Bomben völlig zertrümmert.

- Auf heimlichen Wegen ist der Vater seiner Familie nach Glatz gefolgt. Dort rollen am 8. Mai 1945 russische Panzer ein. Da er polnisch sprechen kann, gelingt es ihm, seine beiden größeren Mädchen zu beschützen. Die Familie und noch andere Flüchtlinge werden von Frau Loske in der Frankensteinerstraße 19 aufgenommen. Diese Schicksalsgemeinschaft hält später jahrzehntelang Verbindung.

Gisela Geismar (links) mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern Ruth und Berthold. Foto: © privat

Ein öffentlicher Aufruf zwingt alle Jugendlichen, sich zur Arbeit zu melden. Unter Bewachung ziehen Aki, Annerose, Cuca, Ruth und ich in einer Gruppe zum Gut Rengersdorf. Der Arbeitstag dauert von morgens 6 bis abends 6, einschließlich der langen Fußmärsche. 16 Kilometer pro Tag. Die geretteten Sommersandalen sind in kurzer Zeit durchgetreten, ich muss barfuß laufen. Da schenkt mir eine Nachbarin ein Paar Schuhe – aus ihrem Beutezug – außen von feinem Samt, innen von Pappe: Sargschuhe! Sie halten bis zum nächsten Regen. Endlos ziehen sich die Stunden auf dem steinigen Acker in den Rübenzeilen, die vor Unkraut kaum auszumachen sind. Der deutsche Gutsverwalter treibt uns an, ein polnischer Soldat lässt über uns die Peitsche kreisen. Obwohl er nie zuschlägt, ist es demütigend genug. Auf einem dieser Äcker ist in dem hügeligen Gelände nach fünf Stunden Hackarbeit unter sengender Sonne das Ende der Reihe noch nicht einmal zu sehen. (…) Pro Nase und Tag gibt es einen Liter Milch und pro Woche ein Pfund Mehl.

In der Dunkelheit eines Herbstabends schleichen wir durch Hintergässchen mit einem großen Waschkorb zum Villenviertel. (…) Es stinkt. Aki zündet vorsichtig mit kostbaren Streichhölzern die kostbare Kerze an und pirscht uns drei Mädchen voran die Treppe hoch. Berge von zerstörten Möbeln und Hausrat. Unvorstellbare Verwüstung überall. In den Schlafzimmern zerschlitzte und besudelte Betten, Fuselgestank. In der Küche zertrümmerte Möbel, Einmachgläser mutwillig zerschlagen, deren Inhalt von einer dicken Schimmelschicht überzogen, überlaufendes Wasser aus defekten Hähnen. Ich wage es, die Badezimmertür aufzustoßen: Ein geradezu bestialischer Gestank schlägt uns entgegen, ausströmend von überquellenden Fäkalien des verstopften WC’s und der zusätzlich als Klosett benutzten Badewanne. (…) Wir erstarren vor Schreck, als auf dem Balkon eine Zigarette aufglüht…vor der Silhouette einer männlichen Gestalt mit eckiger polnischer Soldatenmütze! In Bruchteilen einer Sekunde wird ein Pistolenschuss in die Luft gefeuert. Kerze aus, kehrt, Waschkorb fassen und die Treppe runter, raus aus dem Haus, über und unter dem Schlagbaum durch und rennen, rennen, rennen mit dem Korb voller Bücher (….)

Die Frankensteinerstraße 19 hat keinen Ausgang zu den Gärten, ist aber vielleicht deshalb hervorragend geeignet für das Verstecken vor russischen Soldaten, die auf der Suche nach Mädchen sind. Wird unten an die verschlossene Haustür getrommelt, reicht die Zeit zum Öffnen des Schlafzimmerfensters und zum Anlegen eines kräftigen Brettes, auf dem wir jungen Leute hinüber auf den Felsen balancieren und wie Gemsen aufwärts springend verschwinden. Die beiden Hanneles klammern sich um die Knie ihrer Mütter, wenn die Soldaten suchend durch die Räume streifen. Kleine Kinder sind ein gewisser Schutz, ebenso ergrauende Haare wie bei Frau Loske. (…) Wird die Zeit lang, sagen wir alle auswendig gelernten Gedichte auf oder lernen von Aki unendlich lange Namensketten chemischer Verbindungen. Wir achten sehr darauf, dass wir uns nicht zu hoch am Steilhang einnisten. Dort hatten wir aus den Luftschlitzen der Kasematten dumpfes Stöhnen und einzelne Schreie dringen hören: von gefangenen deutschen Soldaten? (….)

- Die Familie entkam oft nur um Haaresbreite Bombenangriffen, Schusswechseln, erschöpfenden Arbeitseinsätzen, Vergewaltigungen. Wochenlang mussten die Flüchtlinge Hunger leiden. Die Kinder und Jugendlichen waren mit Tod, schwerer Krankheit, grässlichen Kriegsverletzungen oder quälenden Läuseplagen konfrontiert, sahen hilflos ihre Eltern leiden. Zweimal wurde Gisela aus höchster Gefahr gerettet.

Gisela Geismar als 15-jähriges Mädchen. Foto: © Privat

Am Abend wird eine alte Frau hereingetragen, die auf dem Bahnsteig zusammengebrochen ist. Das Krankenhaus von Scheibe ist nicht weit, vielleicht ein oder zwei Kilometer. Ein alter Stuhl findet sich, auf dem die Greisin halb liegend, halb sitzend dorthin befördert werden kann. Es wird ein beschwerlicher Weg für uns. Zuerst muss die hohe Fußgängerbrücke über die Gleise bewältigt werden. Wir fürchten, dass die alte Frau sterben könnte, ihr Kopf pendelt hin und her; sie ist nicht bei Bewusstsein. (Auf dem Rückweg müssen die jungen Leute die Nacht auf dem Bahnhof verbringen). Lautes Gröhlen ist zu hören und ab und zu fällt ein Schuss. Eine Flüchtlingsfrau reicht mir ein Kopftuch, damit ich meine langen hellblonden Haare verbergen kann. Plötzlich torkeln zwei angetrunkene Russen herein. Die unverhüllte Cuca fällt als erste auf. Geistesgegenwärtig fängt sie an, polnisch zu reden. Sofort ist sie tabu. Aki soll mitgehen, weil geglaubt wird, dass er Soldat gewesen ist. Cuca macht Aki kurzerhand zu ihrem Liebhaber und redet und redet. Eine meiner Locken stiehlt sich unter dem Tuch hervor. Ein Soldat zieht daran, reißt dann mit einem Ruck das Tuch vom Kopf und zieht mich an den Haaren in die Dunkelheit hinaus. Ich will schreien – die Kehle ist trocken. Ich will hacken und stoßen –die Glieder gehorchen nicht. Von einer Soldatengruppe ein paar Meter weiter löst sich eine Gestalt, kommt uns entgegen und redet hart mit dem Russen. Der lässt los, verschwindet. Vor mir steht ein junger russischer Offizier. Er bringt mich zurück und erklärt in akzentfreiem Deutsch, dass er deutscher Jude sei, der einzige seiner Familie, der überlebt hat, alle anderen seien von den Deutschen umgebracht worden. Und, dass die Deutschen es nicht wert seien, gerettet zu werden. Aber er brauche nicht lange zu überlegen, er könne nicht anders. (…)

Es soll ein ganzer Güterzug Korn angekommen sein, und es würde „geschnappt“ zum Ausladen. O Schreck, da stehen auch schon zwei Schnapper – polnische Soldaten. Einer winkt. Augenblicklich steigt in mir eine Welle von Enttäuschung, Wut und Empörung auf. (….) Ich renne los. An den Rufen „Stoi, stoi!“ merke ich, dass ich verfolgt werde. Während meine Beine rennen, betrachte ich mit geschärften Sinnen einen Papierfetzen, der als Schiffchen auf dem Neiße-Graben schaukelt. In der Gasse um die Ecke registriere ich offenstehende Fensterflügel. Da pfeift mir das erste Geschoss um die Ohren. Dumpf klingen die kräftigen Schritte meines Verfolgers hinter mir. Noch zwei, drei Schüsse werden mir nachgejagt, dann habe ich die Kurve erreicht, die zur Frankensteinerstraße führt. Mein Schutzengel muss mir ein wenig vorangeflogen sein, die sonst immer verschlossene Haustür ist diesmal offen.

- Am Frühlingsanfang, den 21. März 1946, setzt sich ein langer Güterzug aus Glatz in Bewegung. In den Viehwaggons befinden sich je 30 Deutsche mit wenig Gepäck, ein paar Strohgarben, einem Sack Grütze als Verpflegung. Auf seinem Weg steht der Zug oft tagelang auf Nebengleisen. Die Zugführer müssen mit einem „Trinkgeld“ bestochen werden, um weiterzufahren.

Wir sind nicht irgendwo abgesetzt worden, sondern in den behütenden Mauern eines viele hundert Jahre alten Klosters angekommen: in Marienthal bei Helmstedt. Keine Bombe fällt, kein Pole schießt, keine Angst mehr haben vor russischen Soldaten. Wie lang war der Weg von Ratibor nach Marienthal? Ein Jahr und zwei Monate. Zeit, die sich dehnte durch Angst und Warten, lang auch durch hundertfältige Eindrücke und Erlebnisse. Nun, da sie glückhaft endet, wird sie plötzlich reich.

Familienfoto im Herbst 1943: Die Eltern mit Gisela (rechts), Hannelore (Mitte) und Ruth (links). Ihr Bruder Berthold ist an der Front. Foto: © privat

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