Editorial

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Liebe Leserin, lieber Leser,

wenn von Minderheiten in Israel die Rede ist, geht es zumeist um die Araber, die Palästinenser. Bis zur Staatsgründung mit Flucht und Vertreibung 1948 stellten sie die Mehrheit. Heute machen sie mit 1,7 Millionen Menschen 20 Prozent der Bevölkerung aus. Die jüdische Mehrheit stellt 6,1 Millionen von 8,2 Millionen der Gesamtbevölkerung.

Und wenn von Palästinensern die Rede ist, steht zwangsläufig ausgesprochen oder unausgesprochen die Frage im Raum: „Darf man Israel kritisieren? Zumal als Deutscher?“

Selbstverständlich darf man Israel kritisieren; allerdings ebenso selbstverständlich in einem historischen Zusammenhang, der die Geschichte des Antisemitismus, die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung – die in der Shoa ihren tragischen Höhepunkt fand, aber keine Erfindung der Nazis war – ebenso berücksichtigt wie das daraus resultierende besondere Sicherheitsbedürfnis des Staates.

In diesem Heft kommt der Alltag der Palästinenser zur Sprache. Eine Studentin äußert sich in einem Interview zu der institutionalisierten Diskriminierung. Die Turkologin Irina Wießner fasst die Erfahrungen von Deutschen zu¬sammen, die in den Palästinensergebieten arbeiten, und ihre Ausführungen sind kein Ruhmesblatt für einen demokratischen Staat.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite wird nachgezeichnet, dass der Staat Israel nicht nur seinen jüdischen, sondern auch seinen arabischen Bürgern Freiheiten und Rechte garantiert, die kein arabischer Staat ermöglicht. Insofern ist Israel auch für Araber nicht unbedingt nur ein „Apartheidsstaat“, wie manche Fundamentalkritiker behaupten.

Der Schwerpunkt dieses Heftes liegt jedoch auf den Minderheiten, über die sonst wenig zu hören und lesen ist. Das allein spricht schon für eine großzügige Nationalitätenpolitik, denn nur Verfolgung, Vertreibung oder gar Vernichtung finden mediale Aufmerksamkeit.

Auch die jüdische Mehrheitsbevölkerung ist keinesfalls eine homogene Gemeinschaft. Der größte Teil von ihnen waren Flüchtlinge, Vertriebene und Einwanderer. Da sie aus allen Kontinenten stammten, brachten sie unterschiedliche Lebensvorstellungen, historische Erfahrungen und Traditionen mit. So einte verschiedene Volksgruppen wie die schwarzen Juden Äthiopiens, die zumeist unter ärmlichsten Bedingungen auf dem Lande gelebt haben, zunächst mit den mehrheitlich gebildeten, urbanen Juden aus Russland kaum mehr als das Bewusstsein der jüdischen Identität.

Der Minderheitenexperte Mordachai Zaken gibt einen Überblick über die Vielfalt der Minderheiten. Der aus Westfalen stammende Friedensaktivist Uri Avneri stellt die Probleme der verschiedenen Einwanderergruppen dar. Und der ARD-Korrespondent Richard C. Schneider analysiert den stagnierenden Friedensprozess, dessen negative Auswirkungen alle Bürger Israels treffen.

Und da sind schließlich noch die fünf Prozent „Anderen“: 350.000 Menschen, die weder zur jüdischen noch zur palästinensischen Gemeinschaft gehören. Um sie soll es vor allem in diesem Heft gehen: Drusen, Beduinen, Bahá‘í, Ahmadiyya, Alawiten, Kurden, Samariter, Tscherkessen, Karäer und Roma stellen zum Teil nur wenige tausend Angehörige, blicken aber auf eine lange Tradition zurück. Dazu kommen zahlreiche christliche Konfessionen. Die große Mehrheit der arabischen Christen gehört zur melkitischen griechisch-Orthodoxen Kirche. Ihr Oberhaupt ist der Patriarch von Antiochia in Damaskus. Aber auch die Niederlassungen der großen lateinischen Kirchen sowie kleinere Gemeinden der Armenier, Aramäer/Assyrer, Maroniten und Kopten behaupten ihren Platz im „Heiligen Land“, an den Stätten ihres gemeinsamen Religionsstifters Jesus Christus. So gibt Uwe Gräbe vom Evangelischen Missionswerk einen Überblick über die verschiedenen christlichen Gemeinschaften.

https://www.flickr.com/photos/paulrichn/12460101714
Die palästinensische Friedensinitiative Tent of Nations setzt sich für Völkerverständigung ein. Foto: Paul Rich via Flickr

Manche Definitionen sind Auslöser heftiger Kontroversen. So betrachten viele arabische Christen die Aramäer/Assyrer nicht als eigene Konfession, sondern als Teil der griechisch-orthodoxen Kirche, die durch die Anerkennung kleiner eigenständiger Gemeinden geschwächt werden soll. Selbst in religiösen Fragen ist Minderheitenpolitik immer auch Machtpolitik.

Schließlich werden in dem Heft die wichtigsten jüdischen Einwanderergemeinschaften sowie ausgewählte ethnische Gruppen wie die Beduinen, die Drusen, die Bahá‘í und die Kurden vorgestellt.

Damit soll der religiösen, ethnischen und kulturellen Vielfalt Israels Raum gegeben werden, dem einzigen Staat im Nahen Osten, der sich zu Demokratie, Pluralismus und Meinungsfreiheit bekennt; auch wenn diese Werte gegenüber den Palästinensern in den besetzten Gebieten nicht umgesetzt werden. Insgesamt jedoch zeichnet sich das vielfach bedrohte Israel durch diese Werte aus, und es ermöglicht damit vielen kleineren ethnischen und religiösen Gemeinschaften, ihre Identität zu bewahren.

Ihr

Klemens Ludwig

Autor und Journalist 

und

Tilman Zülch

Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker


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