Die zunehmende Entfremdung zwischen den jüdischen Gemeinden

Das Gebet an der Klagemauer in Ost-Jerusalem verbindet alle Juden. Foto: Joel Carillet via iStock

Von Uri Avnery

Der Staat Israel war noch jung, als zwei bekannte Komödianten eine kurze Darstellung boten: Zwei Araber stehen am Meeresufer und verfluchen ein Boot, welches neue jüdische Migranten bringt. Als nächstes stehen zwei der neuen Migranten am Ufer und verfluchen ein Boot, welches neue Migranten aus Polen bringt. Als nächstes stehen zwei der Immigranten aus Polen am Ufer und verfluchen ein Boot, welches neue Migranten aus Deutschland bringt. Als nächstes stehen zwei der Migranten aus Deutschland am Ufer und verfluchen ein Boot, welches neue Migranten aus Nordafrika bringt. Und so weiter und so fort.

Beginn der Migration

Das ist vielleicht die Geschichte aller Einwanderungsländer, wie die der USA, oder Australiens und Kanadas. Aber in einem Land mit einer nationalistischen Ideologie, wie Israel es ist, welches alle Juden einschließen will (und alle anderen ausschließt), ist dies etwas sonderbar.

Die neue jüdische Gemeinschaft, welche als „Jischuw“ bezeichnet wird, wurde im damaligen Palästina überwiegend von Migranten aus Russland gegründet. Zuvor gab es eine kleine jüdische Gemeinde, welche aus ultra-orthodoxen osteuropäischen Juden bestand, sowie eine weitere kleine Gemeinde von sephardischen Juden. Diese waren Nachfahren von Juden, welche im frühen 15. Jahrhundert aus Spanien (hebräisch: Sepharad) vertrieben worden waren. Viele von ihnen waren sehr reich, da sie das einzige wertvolle Gut im Land besaßen: Grund und Boden.

Es war die russische Migration vor dem Ersten Weltkrieg, welche die Jischuw für Generationen prägte. Zu dieser Zeit gehörte ein großer Teil von Polen zu Russland, welchen die russische Migrationswelle mit einschloss. Einer von ihnen, ein junger Mann namens David Green, änderte seinen Nachnamen zu Ben-Gurion.

In den 1920er Jahren füllte eine Welle von Juden des unabhängigen und antisemitischen Polens die Reihen der Jischuw. Es war diese russisch-polnische Gemeinschaft, die meine Familie vorfand, als sie 1933 von Deutschland nach Palästina kam. Die „Deutschen“, auch „Jeckes“ genannt – niemand weiß so genau, woher diese Bezeichnung kommt – wurden von den Alteingesessen mit Verachtung gestraft und regelmäßig betrogen.

Das war ein Rollentausch: In Deutschland waren es die ortsansässigen Juden, die den weniger zivilisierten Migranten aus Polen und Russland – die „Ost-Juden“ – mit Verachtung begegneten.

All dies hat uns Kinder dieser Ära nicht berührt. Wir wollten keine Migranten sein und auch keine Deutschen, Polen oder Russen. Wir gehörten einer neuen Nation an, welche gerade dabei war, sich als Land zu formieren. Wir sprachen Hebräisch, eine sehr lebendige Sprache, die von den Toten aufgewacht war. Wir wollten Landwirte sein, Pioniere. Wir kreierten einen neuen idealen Typ: lokal, indigen. Sein Spitzname war „Sabra“, wie die heimische Kaktuspflanze: außen stachelig, innen süß. Die Pflanze sah man überall im Land, wobei sie ursprünglich aus Mexiko stammte.

Unsere Idee war es, die ganzen Attribute der verschiedenen jüdischen Gemeinschaften los zu werden und alle in ein Sammelbecken zu werfen um danach als neugeborener Hebräer herauszukommen; als Teil einer neuen Rasse, die mit diesem Land tief verwurzelt ist.

An unserem 18. Geburtstag rannten wir alle zum britischen Bezirksbeamten, um unsere ausländischen Namen in hebräische zu ändern. Wer wollte schon mit einem deutschen oder russischen Namen sein Leben bestreiten?

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Drusen besuchen Gamla, eine bedeutende antike jüdische Siedlung westlich vom See Genezareth. Die historische Stätte ist Anlaufpunkt für Juden aus aller Welt. Foto: Israeltourism via Flickr

Ende der 1930er Jahre war in der neuen Terminologie, welche unbewusst von allen adaptiert wurde, ein klarer Unterschied zwischen jüdisch und hebräisch zu vernehmen. Wir träumten von einem hebräischen Staat, traten dem hebräischen Untergrund bei und sprachen über hebräische Landwirtschaft, hebräische Industrie sowie die künftige hebräische Armee. Die Juden waren im Ausland: die jüdische Diaspora (im Allgemeinen „jüdisches Exil“ genannt), die jüdische Religion, die jüdische Tradition.

Wir waren damit beschäftigt, etwas komplett Neues aufzubauen. Die Juden in der Diaspora betrachteten wir mit Herablassung. Einige kleine Gruppen propagierten sogar den kompletten Bruch mit den Juden im Ausland und ihrer Geschichte. Aber die Sabras hatten keine Geduld mit all diesem ideologischen Unsinn. Sogar das Wort „Zionismus“ wurde zum Synonym für Unsinn – „Rede kein Zionismus“ bedeutete: „Hör auf, so hochtrabend zu schwafeln“.

Wir kreierten eifrig und sehr bewusst eine neue hebräische Kultur: Poesie, Literatur, Tanz, Malerei, Theater, Journalismus. Um unsere neue Realität in unserer neuen Heimat zu reflektieren.

Dann kam der Holocaust. Als 1944 die ganze Monstrosität unabweisbar wurde, überkam eine Welle der Reue die Jischuw. Allerdings waren wir zu dieser Zeit schon damit beschäftigt den „Staat im Entstehen“ zu gestalten. Wir waren etwa 650.000 Juden im Land, als der Staat Israel mitten im Krieg 1948 offiziell verkündet wurde. Innerhalb weniger Jahre holten wir Hunderttausende, dann Millionen von neuen Migranten.

Von wo? Ein paar Hunderttausend wurden aus den Konzentrationslagern in Europa geholt, wo die erbärmlichen Reste des Holocausts warteten. Aber die große Mehrheit kam aus den islamischen Ländern – von Marokko bis zum Iran.

Für uns waren sie alle gleich: Migranten, die in das Sammelbecken geworfen wurden, um danach wundervolle Menschen, wie wir es waren, zu werden.

Grundlegende Veränderungen

Fast keiner schenkte der riesigen Veränderung in der demografischen Zusammensetzung der Juden, welche durch den Holocaust entstanden war, Beachtung. Zuvor waren orientalische Juden eine kleine Minderheit unter uns. Jetzt war sie bei Weitem gewachsen. Das musste zwangsläufig das Bewusstsein beeinflussen.

Einige wenige Alteingesessene (inklusive mir) warnten davor, dass uns eine neue Realität bevorstand; dass die Ideale, welche wir aus Europa mitgebracht hatten, nicht wirklich zu den orientalischen Migranten passten. Menschen wie Ben-Gurion und seine Kollegen waren unbeirrt. Sie waren sicher, dass sich die Dinge schon von selbst erledigen würden. Hatten sie das denn jemals zuvor getan?

Sie erledigten sich bekanntlich nicht von selbst. Die erste Generation der neuen Migranten aus dem „Osten“ (eigentlich ist Marokko ziemlich weit westlich von uns) war damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zudem verehrten sie Ben-Gurion. Die zweite Generation fing dann an Fragen zu stellen. Die dritte ist nun in voller Rebellion.

Die zionistische Auffassung, dass alle Juden gleich sind, mit kleinen Unterschieden in Sprache und Hautfarbe, ist anachronistisch. Die „orientalischen“ Juden zeigten keinerlei Neigung, in irgendein Sammelbecken geworfen zu werden. Sie sind anders in jeglicher Hinsicht.

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Die Armee gilt als integrierendes Element unter den verschiedenen jüdischen Einwanderern. Foto: Israel Defense Forces via Flickr

Das Sammelbecken ist zerbrochen. Die orientalischen Juden, oft fälschlicherweise als Sepharden bezeichnet, sind stolz auf ihr Erbe. Sie rebellieren gegen die europäische Übermacht. Dieser Kampf dominiert nun das israelische Leben. Kein Bereich ist davon ausgenommen. Er betrifft soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Bereiche – oft versteckt hinter einer anderen Fassade. Aber er ist allgegenwärtig. Dies ist ein soziales Problem. Die meisten Europäer hatten Zeit, sich einen gewissen Lebensstandard aufzubauen bevor die Orientalen kamen, wodurch sie im Regelfall wohlhabender sind. Zudem besetzen sie die meisten wirtschaftlichen Schlüsselpositionen. Die Orientalen fühlen sich ausgebeutet, diskriminiert, der Unterschicht angehörig.

Die Orientalen sind in der Regel stolz darauf, emotionaler zu sein, insbesondere wenn es um nationale Angelegenheiten geht. Sie beschuldigen die Aschkenasen (ein altes, nicht mehr gebräuchliches hebräisches Wort für Deutsche) kaltblütig und weniger patriotisch zu sein.

Diejenigen, die ihre Namen geändert hatten, waren nun bestrebt, zu ihren alten marokkanischen oder irakischen Namen zurückzukehren. Ihre adoptierten hebräischen Namen wurden plötzlich ein Symbol der aschkenasischen Tyrannei.

Des Weiteren haben sie eine sehr unterschiedliche Auffassung von Religion. Die Einwohner islamischer Länder sind in der Regel moderat, weder Atheisten noch Fanatiker. Juden aus islamischen Ländern sind ähnlich. Wenige sind wirklich religiös, aber noch wenigere würden sich selbst als „säkular“ bezeichnen.

Die große Mehrheit der Aschkenasen jedoch ist „säkular“, was eine höfliche Form für Atheist ist. Fast alle Gründer des Zionismus waren radikale Atheisten. Nun ist die national-religiöse Gemeinschaft im Land auf dem Vormarsch.

Fragwürdige Bindungen

Die Tragödie des heutigen Israels ist es nicht, dass es so viele Gruppierungen gibt, sondern dass sie sich alle einem großen Graben nähern.

Der Enkelsohn eines Migranten aus Marokko gehört höchstwahrscheinlich einer niederen sozialen sowie ökonomischen Schicht an, ist moderat religiös und ein radikaler Nationalist. Er ist verbittert gegenüber der „alten Elite“ (größtenteils Aschkenasen), gegen eine säkulare Kultur und gegen die „Linken“ (welche für ihn nur heruntergekommene Aschkenasen sind). Er ist zudem ein Fan von speziellen Araber hassenden Fußballvereinen und ein Liebhaber „orientalischer“ Musik – ein Genre, welches weder ganz arabisch noch ganz griechisch ist, aber so weit von klassischer Musik entfernt ist, wie Teheran von Wien.

In politischer Hinsicht bedeutet es, dass diese Person mit großer Wahrscheinlich für Likud [größtes konservatives Parteienbündnis in Israel] stimmt, unabhängig davon was Likud macht. Aschkenasen können ihn darauf hinweisen, dass Likud eine Politik verfolgt, die genau im Gegensatz zu seinen grundlegenden Interessen steht: eine neo-liberale, anti-soziale Politik, welche die besonders Reichen begünstigt. Er würde nicht zuhören. Er ist an Likud durch überschwängliche Sentimentalität und Tradition gebunden. Das gleiche gilt für die andere Seite. Die Linke (zumindest was davon übrig ist) wird die Partei der Aschkenasen bleiben, genauso Meretz. Ihre Mitglieder setzen sich aus der alten Elite zusammen, selbst wenn sie von der Sozialfürsorge abhängen. Sie schauen von oben auf alle religiösen Schattierungen herab, lauschen Beethoven (oder geben es vor), geben Lippenbekenntnisse bezüglich der „Zwei-Staaten-Lösung“ ab und verfluchen Netanjahu – der so aschkenasisch ist, wie man nur sein kann.

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Die Integration der äthiopischen Juden stellte Israel vor einige Herausforderungen, die auch mit Hilfe aus den USA bewältigt wurden. Rabbi Capers C. Funnye Jr., ein Neffe von Michelle Obama, besuchte 2009 ein Auffanglager für die Falascha. Foto: The Jewish Agency for Israel via Flickr

Der momentane Graben zwischen den Europäern und den Orientalen ist nicht der einzige. Als das Sammelbecken zerbrach, wurde jeder Teil der israelischen Gesellschaft autonom.

Der arabische Teil Israels – mehr als 20 Prozent – ist praktisch eigenständig. Die arabischen Bürger sind zwar in der Knesset vertreten, allerdings hat die Knesset im Juli 2016 ein Gesetz verabschiedet, welches 90 von 120 Mitgliedern der Knesset erlaubt, jedes Mitglied hinauszuwerfen. Dies ist eine direkte Drohung an die Abgeordneten der Vereinigten Arabischen Liste, die zur Zeit 13 Mitglieder zählt.

Die neuen Migranten aus Russland, die seit 1989 ins Land gekommen sind, leben ihr eigenes Leben. Sie sind stolz auf ihre russische Kultur, schauen auf uns Primitivlinge herab, religionsverachtend, hassen Sozialisten aller Schattierungen und – mehr als alle anderen – hassen sie die Araber aus vollem Herzen. Sie haben ihre eigene nationalistische Partei, mit dem ehemaligen Außenminister Avigdor Lieberman an der Spitze.

Und dann gibt es noch die Ultra-Orthodoxen, die nicht dazugehören, den Zionismus hassen und in ihrer eigenen Welt, fast komplett abgeschottet, leben. Für sie sind die religiösen Zionisten Nicht-Gläubige, die dazu verdammt sind, in der Hölle zu schmoren.

Das ist mehr oder weniger die Schlachtordnung. Alle Gruppierungen, außer der Araber und der Orthodoxen, waren einmal durch die Armee, die eine heilige Institution war, vereint. Bis ein orientalischer Soldat namens Elor Azarya einen verwundeten arabischen Angreifer auf dem Boden liegen sah und ihn geradewegs in den Kopf schoss.

Für die meisten der Orientalen ist er ein Nationalheld. Für die Heeresführung und die vielen Europäer ist er eine Abscheulichkeit. Der Riss ist ein Abgrund geworden. Was Israel jetzt noch vereinen kann? Na ja, zum Beispiel ein guter Krieg.

Übersetzung: Lena Weber

[Zum Autor]

Avnery, Uri, geboren als Helmut Ostermann 1923 in Beckum, Westfalen, ist ein israelischer Schriftsteller, Journalist, und Friedensaktivist. Als Zehnjähriger floh er 1933 mit seiner Familie nach Palästina. Über drei Legislaturperioden in den 1960er und 1970er Jahren gehörte er der Knesset (Parlament) an. Träger zahlreicher Friedenspreise, darunter der Right Livelihood Award, der sogenannte Alternative Nobelpreis.


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