Mao-Bibel: Ein rotes Buch "erobert" Deutschland und die Welt

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Skulptur eines Rotgardisten in China. Heute bereuen einige ehemalige
Angehörige der Roten Garden ihre Taten. Foto: Joe Wong via Flickr
Vor 50 Jahren eroberte ein taschenbuchgroßes, in billiges rotes Plastik eingeschlagenes Buch, mit dem Versprechen eine „geistige Atombombe“ in der Welt zu zünden, den halben Globus. Mit einer Auflage von mehr als einer Milliarde, ist die uns vor allem als „Kleines Rotes Buch“ oder „Mao-Bibel“ bekannte Spruchsammlung Mao Zedongs bis heute eines der auflagenstärksten Schriftstücke der Weltliteratur. Allein Engels‘ und Marx‘ „Kommunistisches Manifest“ sowie die Bibel und der Koran können da mithalten. Bis zu Maos Tod fungierte das Büchlein als rhetorisches Mittel, politisches Symbol, ikonisches Accessoire und ideologische Waffe – in China, der Welt und in Deutschland.

von Matthias Schmidt

Begonnen hatte alles kurz vor der Kulturrevolution, die Mao Mitte der Sechziger in China ausgerufen hatte. 1961 hatte Lin Biao, Maos treuer Verteidigungsminister, zur ideologischen Erziehung der Volksbefreiungsarmee verfügt, dass der Alltag der Soldaten mit einem Mao-Zitat beginnen solle. Für diesen Zweck wurden Spruchsammlungen an die Armee ausgegeben, die in ihrer Form zunächst variierten. Als Geschenk für Mao und zur „geistigen Untermauerung“ der Kulturrevolution, ließ Lin das Kleine Rote Buch schließlich ab 1965 überall in China in der Form herausgeben, in der wir es heute kennen.

„Worte des Vorsitzenden“, das sind 427 Zitate Maos, eingeteilt in 31 Kapitel. Die Sprüche sind mehr oder weniger zusammenhangslos aneinandergereiht. Sie sollten auswendig gelernt, nicht analysiert werden. Hier spiegelt sich ihr ursprünglich angedachter Zweck wieder: militärischer Drill. „Eine Revolution ist kein Gastmahl, kein Bildermalen oder Deckchensticken“, heißt es im 2. Kapitel, oder „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen“ in Kapitel 5. Unter den Sprüchen finden sich aber auch solche, die vorgeben einen ideologischen Leitfaden zu formulieren. So fordert Kapitel 17 alle „Kommunisten“ dazu auf, mit „Leib und Seele dem Volk [zu] dienen“. Schließlich kommen Maos Zitate ebenfalls im Gewand einfacher Sinnsprüche daher, wie wir sie aus traditionellen chinesischen Spruchsammlungen, etwa derjenigen Konfuzius‘, kennen: „Die Dinge in der Welt sind kompliziert, sie werden von allen möglichen Faktoren bestimmt“ (Kapitel 22) oder „In der Untersuchung einer Frage liegt ihre Lösung“ (Kapitel 23). Gerade der scheinbaren Allgemeingültigkeit mag zu verdanken sein, dass sich die Mao-Bibel zum prominentesten Symbol der Kulturrevolution entwickelte und sich von China aus in die durch den Kalten Krieg geprägte, sinnsuchende Welt hinaustragen ließ.

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Chinesische Minenarbeiter bei der Lektüre der Mao-Bibel. Foto: timquijano via Flickr

Im Europa der 68er waren Mao und sein Buch jedenfalls rasch angekommen, wurden von anti-autoritären Studenten, Linksradikalen und Intellektuellen gleichermaßen gefeiert. In Frankreich befand der Philosoph und Dramatiker Jean-Paul Sartre Maos blutig-revolutionäres Handeln als „tief moralisch“. Der französische Philosoph Michel Foucault zeigte sich nicht minder begeistert von der chinesischen Kulturrevolution. Jean-Luc Godard inszenierte den Maoismus öffentlichkeitswirksam in seinem Film „La Chinoise“ und Prominente wie Brigitte Bardot kokettierten in Mänteln, wie sie Mao trug. So wurde Mao zu einer Ikone der europäischen Popkultur der sechziger und siebziger Jahre. Auch in Deutschland war der „Große Vorsitzende“ populär. Mao-Poster waren bei Karstadt zu haben. Prominente, wie Paul Breitner vom FC Bayern, posierten vor solchen Plakaten und schwammen so auf der Welle jugendlichen Eifers der 68er mit. Der Filmemacher Harun Farocki produzierte mit „Die Worte des Vorsitzenden“ einen deutschsprachigen Kurzfilm, der den Maoismus verherrlichte. Und der Künstler Jörg Immendorff lieferte die grafischen Vorlagen für die Flugblätter der maoistischen Kommunistischen Partei Deutschland/Aufbauorganisation (KPD/AO).

Mao war schick. Mao war aber ebenso eine politische Waffe. Seine Parolen dienten nicht nur radikalen Linken, wie Teilen der RAF um Holger Meins, als handlungsleitende Autorität. Auch zahlreiche uns wohlbekannte Politiker engagierten sich während der Sechziger und Siebziger fleißig in maoistisch-kommunistischen Organisationen. Winfried Kretschmann, Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident; Ralf Füchs, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung; Reinhard Bütikofer, ehemaliger Bundesvorsitzender der Grünen und heutiger Europaparlamentarier; Ulla Schmidt von der SPD, bis 2009 Bundesgesundheitsministerin und heute Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages; Joscha Schmierer, bis 2007 im Planungsstab des Auswärtigen Amtes. Sie alle waren in teils leitender Funktion im maoistischen Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) aktiv – dessen Ziel, laut eines Verfassungsschutz-Berichts aus dem Jahr 1976 darin bestand, den liberal-demokratischen Staat zu zerschlagen und über die „proletarische Revolution“ gewaltsam die „Diktatur des Proletariats“ zu errichten. In einer anderen dem Maoismus nahestehenden Vereinigung, dem Kommunistischen Bund (KB), war Jürgen Trittin, ehemaliger Bundesumweltminister und bis 2009 stellvertretender Vorsitzender der Bundesgrünen, aktives Mitglied.

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Mao war bei Teilen der 68er-Bewegung sehr beliebt. Er fand auch rasch Eingang in die Populärkultur. Hier zu sehen ist eine Szene aus „La chinoise“ (1967), in der die Protagonisten mit der Mao-Bibel posieren. Der Film von Jean-Luc Godard schuf eine medienwirksame Plattform für den Maoismus und gilt unter Kritikern als eine Vorausschau der sich anbahnenden neuen linken Protestbewegungen in Europa. Foto: Ian W. Hill via Flickr

Heute will keiner mehr Maoist gewesen sein. In den Lebensläufen fast aller hier genannten Politiker klafft in den Jahren ihres linksradikalen Engagements eine Lücke. Gern möchten unsere Volksrepräsentanten den Anschein erwecken, ihre politische Karriere hätte mit dem Eintritt in die SPD oder mit der Gründung der Grünen Anfang der Achtziger begonnen. Einzig Kretschmann berichtet auf der Internetseite der baden-württembergischen Grünen von einer Zeit „links¬radikaler Verwirrung“ und spricht von einem „Irrtum“. Konkreter benennt er sein linksradikales Engagement im KBW jedoch nicht. Insgesamt scheint unter den Politikern eine Tendenz zur Verklärung vorzuherrschen. Im Gespräch mit dem Magazin Cicero spricht Ulla Schmidt von „bewegte[n] Zeiten damals“ und davon, dass sie für „Freiheit und Gerechtigkeit (...) ins Gefängnis gegangen“ wäre. Freiheit – unter einem Dogma, das seinen Anhängern klar macht, dass sich der „Teil dem Ganzen [zu] fügen«“ hat (Kapitel 23). Auch Schmierer, der 1978 als KBW-Vorsitzender zu Pol Pot gereist war, um sich mit dem Regime des kambodschanischen Diktators und Massenmörders solidarisch zu zeigen, lässt im Tagesspiegel vom 15. Januar 2001 durchblicken, dass es ja eigentlich immer nur um Demokratie gegangen sei und Demokratie eben „kein Deckchensticken“ sei. Distanzierung oder Scham gar klingt freilich anders. Zur Erklärung für die Faszination für den vermeintlich humanen Sozialismus Maos, der in China Millionen Menschen das Leben gekostet und noch mehr traumatisiert hat, reicht es nicht, wie Ulla Schmidt über jugendlichen Idealismus zu sprechen. Klar hatte man damals noch nicht das aufgearbeitete Wissen von heute, doch wohl genug Ahnung, um ein gesundes Maß an Misstrauen zu verspüren. Zumindest hätte einem aber die „ideologische ‚Leere‘“ auffallen müssen, die Daniel Leese der Mao-Bibel in „Mao’s Little Red Book. A Global History“ zu Recht bescheinigt.

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Mao-Gemälde von Andy Warhol (1973) in der Marx-Sammlung des Berliner Museums für Gegenwartskultur „Hamburger Bahnhof“. Foto: dalbera via Wikimedia

Bleibt die Frage, weshalb so viele junge Menschen damals glaubten, dass Maos Parolen funktionieren könnten. War es die Entzauberung der liberalen Demokratie, den die USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch als Heilsbringer in der BRD gegolten hatten, mit dem Vietnamkrieg und ihrem aggressiven Turbokapitalismus betrieben? War es der sozialistische Imperialismus, den die Sowjetunion forcierte? Klar, überall auf der Welt kam es in diesen Tagen zu Reaktionen auf die rücksichtslose Festigung der Vormacht und die permanente Gefahr einer Eskalation der atomaren Konfrontation der Weltmächte. Che Guevara in Mittel- und Südamerika und Frantz Fanon* in Nordafrika taugten für die Generation von Wirtschaftswunderkindern dabei ebenso gut als „heroische Vorkämpfer“ für einen möglichen „dritten Weg“ wie Mao. Vielleicht war es also gerade die Inhaltsleere und der die Mao-Bibel „durchziehende Geist“ revolutionärer Askese, Disziplin und Konsequenz, der die 68er-Generation begeisterte. Dass auf extreme Weise sinnstiftende Einstellungen Menschen zumindest für eine gewisse Zeit Stabilität vermitteln können, zeigt uns der aktuelle Einfluss radikal-religiöser Gruppierungen in der Welt. Gründe zur Erinnerung und gründlichen Aufarbeitung des Phänomens Mao gibt es jedenfalls genügend. Erst Recht im Jahr des 40. Todestags des „Großen Vorsitzenden“.

 

* Frantz Fanon war ein aus Martinique stammender, französischer Vordenker der anti-kolonialistischen Freiheitsbewegung. Besonders wirkungsvoll war sein Werk „Die Verdammten dieser Erde“, das 1961 erschien, und das marxistisch-revolutionäres Gedankengut auch für die muslimisch geprägten nordafrikanischen Gesellschaften in deren Unabhängigkeitsbestrebungen attraktiv machte.

 

[Zum Autor]

Matthias Schmidt hat Religions- und Islamwissenschaft in Heidelberg und Göttingen studiert. In seiner wissenschaftlichen Tätigkeit interessieren ihn besonders die Beziehung von Religion, Individuum und Gemeinschaft in den sozialen und politischen Diskursen der modernen iranischen Geschichte. Als Mitbegründer der Internetseite www.vitairanica.net verbindet Schmidt sein Fachwissen mit seiner Leidenschaft für die Fotografie. Ziel des Projekts ist dabei, einen alternativen und differenzierteren medialen Blickwinkel auf die iranische Gesellschaft und Kultur zu schaffen. Derzeit absolviert Schmidt ein Praktikum in der Redaktion von bedrohte Völker – pogrom, um weitere Erfahrungen im Journalismus zu sammeln.

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