Editorial

 

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

Vor 50 Jahren begann in China die Kulturrevolution. Sie brachte unendliches Leid über das Land, denn die chinesische Führung unter Mao Zedong verübte schwerste Menschenrechtsverletzungen – vor allem gegen Mongolen, Uiguren und Tibeter, deren Schicksal nahezu unerwähnt bleibt, wenn über die Kulturrevolution publiziert wird.

Die Täter von damals wurden bis heute nicht bestraft. Doch manche Rotgardisten bereuen heute öffentlich ihre Taten. Überlebende der Gewalt rufen dazu auf, die Aussagen von Zeitzeugen zu dokumentieren, damit dieses dunkle Kapitel der chinesischen Zeitgeschichte nicht in Vergessenheit gerät. Auch tut sich China noch immer schwer, die während der Kulturrevolution begangenen Verbrechen zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Chinesische Historiker bewegen sich häufig auf einem schmalen Grat, wenn sie sich auf die Suche nach dem begangenen Unrecht begeben. Das erste und einzige chinesische Museum zur Kulturrevolution kämpft sogar um sein Überleben. Seine Existenz hat es der Initiative eines mutigen Privatmannes zu verdanken, doch seine Zukunft ist ungewiss.

Als Frankreichs späterer Staatspräsident Francois Mitterand 1970 China besuchte, war er begeistert von Mao. Der Staatsgründer der Volksrepublik sei ein Menschenfreund und kein Diktator, behauptete der französische Sozialist damals. Mitterand stand mit seiner Idealisierung Maos nicht allein, die Mao-Bibel wurde in Europa immer salonfähiger. Doch Maos Verbrechen begannen bereits vor der Kulturrevolution, wie die Kampagne „Großer Sprung nach vorn“ beweist, bei der Millionen Chinesen verhungerten.

40 Jahre nach dem Tod Maos gilt für Chinas Staatsführung noch immer der Leitsatz, Maos Herrschaft sei überwiegend positiv gewesen. Umso wichtiger erscheint es uns deshalb, dass seine Verbrechen nicht verdrängt oder geleugnet werden. Denn immer häufiger werden Methoden der Einschüchterung und Verfolgung aus der Zeit der Kulturrevolution im China des 21. Jahrhunderts erneut angewandt. So berichten wir über verstörende Auftritte von inhaftierten Uiguren, die vor ihren Gerichtsverfahren vor laufender Kamera im Staatsfernsehen erzwungene „Geständnisse“ ablegen müssen. Führende Kirchenvertreter kritisieren Einschränkungen der Religionsausübung und fühlen sich an die Kulturrevolution erinnert. In Schulen und Universitäten wird „westlichen Ideen“ der Kampf angesagt, während die Kommunistische Partei in Medien und Internet ihren absoluten Vorrang bekräftigt.

China steht vor einer historischen Weichenstellung. Wird die Staatsführung mehr Bürgerrechte gewähren oder wird sie weiter in die Mottenkiste der Geschichte greifen, um ihre Macht um jeden Preis zu sichern?

Ihr Ulrich Delius

Asien-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker

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