Editorial

Foto: Hanno Schedler/GfbV

 

 

Liebe Leserin, lieber Leser, 

seit ihrer Gründung hat sich die Gesellschaft für bedrohte Völker stets mit der ungelösten kurdischen Frage befasst– das aktuelle politische Geschehen hat ihr dazu immer wieder Anlässe geliefert, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des kurdischen Volkes ziehen. Als 1694 der Gelehrte und Dichter Ehmedê Xanî mit der tragischen Liebesgeschichte von Mem und Zîn eines der ersten schriftlich überlieferten großen Epen in kurdischer Sprache schrieb, hat er darin bereits dieses Schicksal des kurdischen Volkes beklagt: In den mehr als 300 Jahren, die seither vergangen sind, hat sich daran im Grunde nichts geändert. Auch daran nicht, dass die Kurden zwar in aller Welt als tapfere Kämpfer gesehen werden, nicht aber als ein Volk mit Kunst und Literatur wie ihre Nachbarn auch.

Wenn doch dereinst einmal geneigt uns wär‘ das Glück‘, 

Und einmal wir nur würden aus dem Schlaf erwachen! 

Erhöb‘ auch uns sich ein Beschützer in der Welt, 

Wenn doch einmal ein König auch für uns erschiene! 

Dann würd‘ sich allen zeigen uns’rer Künste Schwert, 

Und uns’rer Feder Wert würd‘ aller Welt sich kundtun.1)

Als Xanî diese Verse schrieb, war Kurdistan gerade zwischen dem Osmanischen und dem Safawidischen Reich in zwei Teile aufgeteilt worden. Während andere Länder nach dem Ersten Weltkrieg vereint wurden und Eigenstaatlichkeit erlangten, wurde die Teilung Kurdistans nur noch mehr vertieft. Nun lag Kurdistan in vier Staaten: in der Türkei, im Iran, im Irak sowie in Syrien. Die Folgen dieser zweiten großen Aufteilung wirken bis heute brutal fort: In diesen vier Regionen wird das Geschehen von unterschiedlichen politischen Parteien bestimmt, die sich an den Auseinandersetzungen in dem jeweiligen Staat ausrichten und nicht an der Entstehung eines eigenen Staates aller Kurden im Nahen Osten. Realpolitisch mag diese Ausrichtung nachvollziehbar sein, da weder die innere Konstellation der Staaten, in denen die Kurden leben, einen einheitlichen kurdischen Nationalstaat tolerieren würde, noch die internationale Staatengemeinschaft bis heute bereit wäre, sich für einen eigenständigen Kurdenstaat einzusetzen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheinen statt eines einheitlichen kurdischen Staates in den Kurdenregionen Lösungen denkbar, die entweder kurdische föderale Teilstaaten oder einzelne eigenständige kurdische Staaten vorsehen könnten, so wie beispielsweise auch Araber in 22 verschiedenen Staaten leben.

Diese Illustration stammt von dem Maler Behroz Hussein und wird in dem Band "Mem u Zin" des Instituts für Kurdische Studien veröffentlicht werden.

Und angesichts der Unfähigkeit des Irak, eine tragfähige innere Struktur zu finden, sowie der feindlichen Haltung der bisherigen irakischen Zentralregierungen gegenüber dem kurdischen Teilstaat im Norden des Landes, ist dessen Proklamation als selbstständiger kurdischer Staat in greifbare Nähe gerückt. Es haben schon Vorbereitungen für ein Referendum über die Unabhängigkeit begonnen, das noch 2016 stattfinden soll. Es gibt keinen Zweifel, dass eine überwältigende Mehrheit für einen unabhängigen kurdischen Staat votieren wird.

In Kurdistan-Syrien, wo der syrische Staat jahrzehntelang die Existenz der Kurden ignoriert hat, haben die Kurden es geschafft, während des Bürgerkrieges autonome Regionen aufzubauen. Wie immer eine Lösung des Konfliktes in Syrien aussehen wird, ohne eine Berücksichtigung der kurdischen Eigenständigkeit wird sie kaum möglich sein.

Auch wenn sich eine Lösung der kurdischen Frage in der türkischen Republik noch nicht so deutlich abzeichnet wie im Irak und letztlich auch in Syrien, ist doch klar, dass die Türkei keinen inneren Frieden erlangen wird, solange sie sich einer politischen Lösung der Kurdenfrage verweigert und noch nicht einmal vor dem Einsatz des Militärs gegen die eigene Bevölkerung zurückschreckt. Mit „ergebnisoffenen“ EU-Beitrittsverhandlungen angesichts dieses Militäreinsatzes im Innern verschließt Europa nicht nur in dieser Sache die Augen vor der Realität.

Auch die iranische Regierung wäre gut beraten, aus dem Geschehen in den Nachbarländern die richtigen Lehren zu ziehen und die bereits Jahrzehnte andauernden Repressalien, Tötungen und Hinrichtungen gegenüber den Kurden zu stoppen und ihre Rechte anzuerkennen.

Nie haben Kurden ein anderes Land mit Krieg überzogen, sondern da, wo sie an Konflikten beteiligt waren, sind sie immer von anderen Mächten hineingezogen und zur Verteidigung gezwungen worden, wie das die Weltgemeinschaft heute auch am Beispiel des sogenannten Islamischen Staates erlebt. Da auch die Kurden den Frieden lieben, verdienen sie es wie andere Völker auch, nicht im Feuer, sondern im Frieden zu leben.

Ihr Feryad Fazil Omar

Bundesvorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Völker

 

1) Übersetzung nach Feryad Omar, Mem u Zin: Ein klassisches kurdisches Epos aus dem 17. Jahrhun¬dert. Institut für Kurdische Studien, ISBN: 978-3-932574-16-0, im Druck befindlich, Verse 195 ff.

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