"Der IS muss aus dem Land geschafft werden"

Situation der Flüchtlinge in Kurdistan

Ein kurdisches Paar in einem Flüchtlingslager im Nordirak. [Symbolfoto] Foto: Claudidad via iStock

Mehr als 4,5 Millionen Syrer sind laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg. Viele von ihnen finden im eigenen Land oder in den Nachbarländern wie dem Irak Zuflucht. Die Yezidin Adoula Dado war bereits mehrfach vor Ort, um humanitäre Hilfe in den Flüchtlingslagern zu leisten.

bedrohte Völker: Sie waren die Vorsitzende des Vereins Rote Sonne – der Ezidischen Initiative. Mithilfe von Spendengeldern haben Sie und der Verein Flüchtlinge im Irak und in Syrien unterstützt. Wie genau sah diese Unterstützung aus?

Adoula Dado: Es sollte besser heißen, wie sieht die Unterstützung denn aus. Denn obwohl ich zurückgetreten bin, besteht der Verein weiterhin. Die Unterstützung richtet sich nach den Bedürfnissen der notleidenden Menschen. Mal haben wir Kleidung und Decken gekauft, ein anderes Mal waren es Reis und Mehl. Im Dezember 2015 haben wir Öfen in einem Camp verteilt. Aber auch direkte Geldspenden geben wir weiter, vor allem an assyrische und christliche Gemeinden oder an Waisenkinder und Flüchtlinge aus Syrien, die in der Autonomen Region Kurdistan/Irak leben. Im November 2015 haben wir auch Geldspenden in Afrin/Syrien verteilt, damit sich die Menschen dort Heizöl kaufen können.

bedrohte Völker: Auch heute noch sind Sie im Irak und in Syrien unterwegs und engagieren sich dort in den Flüchtlingslagern.

Adoula Dado. Foto: privat

Adoula Dado: Ich bin bisher nur im Irak gewesen, in Syrien war ich seit Ausbruch des Krieges leider nicht mehr. Mein Engagement hat sich zurzeit etwas verändert: Anfang des Jahres 2014 war ich für den Verein ehrenamtlich im Irak unterwegs. Aber seit Anfang April 2014 bin ich zum Staatsministerium nach Baden-Württemberg abgeordnet. Hauptberuflich bin ich Regierungsbeamtin des Saarlandes. Die Landesregierung von Baden-Württemberg hat beschlossen, ein Sonderkontingent von tausend schwer traumatisierten Kindern und Frauen, die sich aus den Händen der IS befreien konnten, aufzunehmen. Dabei handelt es sich zum größten Teil um yezidische Kinder und Frauen. Wir sind im Projekt „Sonderkontingent Nordirak“ 15 Teammitglieder gewesen. Projektleiter ist Dr. Michael Blume. Ich bin sehr froh und stolz, ein Teammitglied sein zu dürfen. Da ich bei jedem Auslandeinsatz im Nordirak dabei bin, bekommt man natürlich eine Menge Eindrücke. Die Menschen erzählen sehr viel über ihr Leid und über das, was sie erlebt haben. In den Flüchtlingscamps war ich mehrmals, aber unsere Arbeit findet nicht direkt dort statt. Wir hatten vor Ort in Duhok/Kurdistan-Irak ein Büro, in dem wir nach den vorgeschriebenen Kriterien die Menschen ausgesucht haben und danach die Visaerfassung durchführen konnten.

bedrohte Völker: Was wird besonders in diesen Flüchtlingslagern benötigt?

Adoula Dado: Es werden mehr Wohncontainer benötigt, damit die Menschen nicht mehr in so beengten Verhältnissen leben müssen. In jedem Wohncontainer kommen etwa sechs bis neun Personen unter. Eine Familie, die größer als neun Personen ist, bekommt zwei Wohncontainer. Was noch wichtig ist, dass Zelte von besserer Qualität besorgt werden. Es gibt viele Zelte, die nicht wasserdicht sind. In einigen Camps ist die Müll- und Abwasserentsorgung sehr schlecht. Doch es ist wichtig, sich auch darum zu kümmern, damit keine Krankheiten ausbrechen. Auch dürfen die Kinder nicht vergessen werden. Es gibt ja ganz viele in den Flüchtlingslagern. Damit sie sich dort besser entfalten können, müssen mehr Kinderspielplätze gebaut werden. Das Spielen lenkt die Kinder auch von den schlimmen Erlebnissen ab.

bedrohte Völker: Inwiefern hat sich die Arbeit in den Flüchtlingslagern im Vergleich zu vor zwei Jahren verändert?

Adoula Dado: Am Anfang musste man einfach nur versuchen, die Menschenmassen irgendwie unterzubekommen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass Zelte auf der blanken Erde aufgestellt wurden. In den Zelten war es nass und matschig, wenn es geregnet hat. Jetzt ist es so, dass die Zelte ein Fundament haben, und dass die Camps besser strukturiert sind. Allgemein haben sich die Verhältnisse verbessert. Es gibt dort mittlerweile bessere und mehr Leistungen. Und auch internationale Organisationen investieren mehr in Schulen und Kliniken. Zum Beispiel gibt es in einem christlichen Camp in Erbil eine weiterführende Schule, in dem ein Abschluss erlangt werden kann. Mit diesem kann man sogar auf einer Universität zugelassen werden. Das Camp ist gut strukturiert und bietet sehr viele Möglichkeiten, da es nicht nur von Organisationen unterstützt wird, sondern größtenteils von der Kirche. Die Lobby der Christen ist groß und man unterstützt sie sehr. Solche Verhältnisse würde ich mir auch gerne für alle Camps in der Region Duhok wünschen. Dort gibt es große Unterschiede. In den Camps sind vorwiegend yezidische Flüchtlinge untergebracht, welche eine Minderheit sind und natürlich nicht über eine so große Lobby verfügen.

bedrohte Völker: Haben die Yeziden im Irak, in Syrien und in der Türkei noch eine Zukunft? Was sagen die yezidischen Flüchtlinge? Wie ist das Sicherheitsgefühl der Flüchtlinge?

Adoula Dado: Das kann man nicht pauschal sagen. Die Meinungen sind da sehr unterschiedlich. Manche sagen, es besteht keine Hoffnung. Sie wollen einfach nur raus aus dem Irak. Die anderen meinen, sobald der IS niedergeschlagen ist, besteht Hoffnung. Aber sie können sich nicht mehr vorstellen, wieder mit ihren ehemaligen muslimisch-arabischen Nachbarn Seite an Seite zu leben. Das schwierigste wird sein, dass die Yeziden wieder vertrauen können. Als der IS in das Sinjar-Gebirge Anfang August 2014 einmarschiert ist, haben viele muslimische Bewohner die eigenen yezidischen Nachbarn verraten. Einige haben sogar bei den Gräueltaten mitgeholfen. Sie müssen es sich so vorstellen, dass die Yeziden jahrelang friedlich und freundschaftlich mit ihren Nachbarn zusammengelebt haben. Doch als der IS einmarschiert ist, wurden sie von ihnen verraten. Es ist aber auch keine Lösung, wenn alle Yeziden das Land verlassen. Unsere Wurzeln und unsere Heiligstätten befinden sich in Irakisch-Kurdistan.

Adoula Dado mit Kindern in einem Flüchtlingslager im Nordirak. Foto: privat

bedrohte Völker: Was kann die internationale Gemeinschaft tun, um den Flüchtlingen vor Ort zu helfen?

Adoula Dado: Zuerst sollte die internationale Gemeinschaft eine Lösung für den IS finden und ihn aus dem Land schaffen. Danach müssen natürlich die befreiten Gebiete wieder aufgebaut werden. Mitte Dezember 2015 war ich in Sinjar. Die Stadt ist dermaßen zerstört. Kein einziges Gebäude ist heil geblieben. Einen Wiederaufbau kann man sich hier kaum vorstellen.

bedrohte Völker: Wie wird Ihr zukünftiges Engagement aussehen?

Adoula Dado: Ich selber kann das noch nicht genau sagen, da ich noch die kommenden zwei Monate mit meiner jetzigen Arbeit mehr als ausgelastet bin. Ich sehe meine Pflicht als Frau und Yezidin vor allem darin, den Kindern und Frauen zu helfen, die in den Händen des IS waren. Sie erhalten in den Camps nicht die notwendige Hilfe. Es ist deswegen dringend erforderlich, dass Kinder und Erwachsene psychosozial unterstützt werden, damit sie besser mit dem Verlust von Angehörigen umgehen und das Erlebte verarbeiten können. Zudem ist es die Pflicht eines Jeden auf das Schicksal der mehr als 3.500 Kinder und Frauen, die noch in der Gefangenschaft des IS sind und auf grausame Art und Weise misshandelt werden, aufmerksam zu machen. Sie dürfen nicht vergessen werden. Die Weltgemeinschaft muss diese Kinder und Frauen befreien. Es ist unvorstellbar, dass im 21. Jahrhundert vor unseren Augen Menschen auf eine so grausame und unvorstellbare Art und Weise misshandelt und verkauft werden und ihnen nicht geholfen wird. Diesbezüglich halte ich auch an Hochschulen und bei der Bundeswehr Vorträge. Ich selber stamme aus Afrin in Syrien. Die Lage dort ist katastrophal und verschlimmert sich von Tag zu Tag mehr, sodass ich mich da auch in der Pflicht sehe, meinen Verwandten und Landsleuten zu helfen.

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Der Syrer Mohammed Ali aus Aleppo ist mit seiner Familie in den Nordirak geflohen. Sie leben nicht in einem Flüchtlingslager, sondern in einem baufälligen Haus, für das sie Miete zahlen. Viele Flüchtlinge wollen nicht in einem Camp unterkommen, sondern selbstbestimmt leben. Außerhalb der Flüchtlingslager haben sie auch bessere Möglichkeiten, Arbeit zu finden. Foto: EU/ECHO/Caroline Gluck via Flickr

Das Interview führte Eytan Celik für bedrohte Völker - pogrom.

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