Indigene Völker und Naturschutz: Wächter über die Natur

Den Baiga in Indien droht im Namen des Tigerschutzes die Vertreibung aus ihrer angestammten Heimat. Foto: © Praveena Sridhar via Flickr

 von Valeska Ebeling

„Wir waren an einem Ort, an dem wir alles hatten, was wir brauchten; und sie haben uns zu einem Ort ge­bracht, an dem wir nichts haben. Sie unterschätzen unsere Fähigkeiten und machen aus uns wieder Kinder, die auf ihre Eltern angewiesen sind“, klagt Molemisi, ein Angehöriger der Busch­leute in Botswana.

Wie bei den meisten indigenen Völkern, die von ihrem angestamm­ten Land vertrieben werden, erlebte auch Molemisis Gemeinde großes Leid. Doch kaum einer würde zu vermuten wagen, dass ihnen dieses Leid im Namen des Naturschutzes angetan wurde, und dass viele indi­gene Völker weltweit dieses Schick­sal teilen. Das ist jedoch keinesfalls ein neues Problem. Viele der größten und einflussreichsten Naturschutzor­ganisationen vertraten anfänglich die Meinung, dass Mensch und Natur im Gegensatz zueinander stehen und die Umwelt nur vor Zerstörung bewahrt werden kann, wenn der Mensch aus ihr verbannt wird. Als 1872 die USA den weltweit ersten Naturschutzpark Yellowstone gründeten, durften die Native Americans nur zunächst dort bleiben. Fünf Jahre später wurden sie zwangsumgesiedelt.

Auch die Umweltschützer des 19. Jahrhunderts waren davon überzeugt, dass die „Wildnis“ nur ohne Men­schen intakt bleiben könne. Doch sie erkannten nicht, dass die indi­gene Bevölkerung viele Landschaf­ten über Generationen gestaltet und gepflegt hatte. Stattdessen waren sie davon überzeugt, dass sie es als „wis­senschaftliche“ Naturschützer besser wussten. Zwangsumsiedlungen wur­den von diesem Augenblick an zur Standardmaßnahme des Naturschut­zes in der ganzen Welt – und sind es heute noch. Dabei ist das Konzept von „Wildnis“, dass die großen Natur­schutzorganisationen immer wieder erwähnen und fördern, fehlerhaft – denn die meisten Naturschutzzonen und 80 Prozent der weltweiten Bio­diversität liegen auf indigenen Terri­torien. Indigene Völker haben nach­haltige Lebensweisen entwickelt und dazu beigetragen – manchmal über Jahrtausende – eine hohe Artenvielfalt in ihrer Umwelt zu fördern. Dennoch wird von ihnen erwartet, dass sie ihre Lebensweise ändern und oft auch die spirituelle Verbindung zu ihrem Land aufgeben. Mit jeder geplanten Um­siedlung wird von ihnen erwartet, dass sie den Verlust ihrer Lebensgrundlage einfach akzeptieren.

Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) kam 2009 zu dem Schluss, dass Wilderei zugenommen hat, nachdem die Maasai aus dem Ngorongoro-Schutzgebiet in Tansania vertrieben worden sind. Das hat beinahe zum Aussterben des Nashorns in der Region geführt. Foto: © Andre Vandal via Flickr

Egal, aus welchen Gründen indi­gene Völker vertrieben werden, sei es aufgrund von Bergbau, Fracking, Ab­holzung, großflächiger Landwirtschaft oder Naturschutz, die Folgen sind immer dramatisch: Eine vertriebene Gemeinschaft verliert ihre Existenz­grundlage und damit die Möglichkeit, sich selbst zu versorgen. Die ältere Ge­neration kann dann der jüngeren oft nicht mehr das Wissen vermitteln, das zum Überleben notwendig ist. Zudem verschlechtert sich der Gesundheitszu­stand einer vertriebenen Gemeinschaft oft dramatisch wie etwa bei den rund 6.000 Batwa zwischen den 1960er und 1980er Jahren in der Demokratischen Republik Kongo. Sie wurden aus dem Nationalpark Kahuzi-Biega vertrieben, in dem sie sich selbst versorgt und als Jäger-und-Sammler-Gemeinschaft ge­lebt hatten. Für ihren Lebensunterhalt und die Ausübung identitätsspenden­der Aktivitäten waren die Batwa auf ihr Land angewiesen. Sie haben dort ge­jagt, gefischt und ihre traditionelle Kul­tur leben können. Doch ohne ihr Land können sie weder jagen noch sammeln; viele Batwa leiden deshalb unter Man­gelernährung. Da sie oft in verarmten und überbevölkerten Gebieten angesie­delt werden, sind die Batwa außerdem einer erhöhten Ansteckungsgefahr mit sexuell übertragbaren Krankheiten wie HIV/Aids ausgesetzt.

Viele Regierungen entschädigen indigenen Gemeinschaften für den Verlust des Landes nicht wie zuvor versprochen. Deshalb leben die Ver­triebenen oft am Rand der Natur­schutzgebiete unter katastrophalen Bedingungen. Von einem Tag zum anderen werden sie zu „Opfern des Naturschutzes“ und sind auf Hilfe von außen angewiesen.

Seit 2014 dürfen die San in Botsuana nicht mehr jagen gehen. Dieses Recht ist nur noch Trophäenjägern vorbehalten. Foto: © Dietmar Temps via Flickr

Manchmal wird auch nur unter dem Vorwand des Tierschutzes argu­mentiert, wenn Menschen zwangs­umgesiedelt werden sollen, wie etwa die aktuellen „Bemühungen“ der Re­gierung Botsuanas zeigen: Sie will Buschleute aus dem Nationalpark Central Kalahari Game Reserve unter dem Vorwand vertreiben, sie seien ein Risiko für die Tierbestände. Da­bei gehen die Buschleute nachhaltig mit ihrer Umwelt um und jagen das Wild nur für den Eigenverzehr. Sie werden gefoltert, geschlagen und fest­genommen, wenn Wildschützer und Polizisten sie bei der Jagd erwischen. Die Regierung hingegen hat inner­halb des Schutzgebietes den Abbau von Diamanten erlaubt und stellt so­gar Genehmigungen für Fracking-Er­kundungen aus – beides Aktivitäten, die weder umwelt- noch tierschutz­freundlich sind. 2014 führte die bo­tsuanische Regierung im ganzen Land ein Jagdverbot ein, das auch die Buschleute betrifft – aber nicht Tro­phäenjäger. Ein ausländischer Tourist hat also immer noch das Recht, für Tausende US-Dollar eine Giraffe oder ein Zebra zu erlegen, während es den Buschleuten verboten ist zu jagen, um ihre Familien zu ernähren.

Ähnlich ist die Situation einiger indigener Völker in Indien, wie zum Beispiel der Baiga und Soliga. Ihre angestammten Gebiete befinden sich auf dem Land, das zu Tigerreservaten erklärt wurde. Schätzungsweise leben in Indien drei bis vier Millionen Men­schen in Nationalparks. Sie befinden sich in ständiger Angst, von einem Tag auf den anderen vertrieben zu werden – oft mit der Begründung, ihre Anwe­senheit würde dem Tiger schaden.

2013 kündigten die Behörden an, indigene Khadia-Familien hätten sich „entschieden“, das Tigerschutzgebiet Similipal freiwillig zu verlassen, und dies unmittelbar als „Erfolg“ verkauft. Aussagen einiger Khadia gegenüber Survival International zeigen jedoch, dass das indigene Volk sein Land kei­nesfalls freiwillig verlassen hat: Mit Zuckerbrot – in Form von Land, Vieh und Geld – und Peitsche –in Form von Einschüchterun­gen durch Forstbeamte – wurden die Khadia zum Verlassen ihres Landes „ermutigt“. Sie wurden in ein Lager umgesiedelt, in dem sie lange unter Plastikplanen der Hitze des indischen Sommers ausgesetzt waren. Sie beka­men von der Forstbehörde bloß eine Woche lang Nahrung und vom ver­sprochenen Land, Vieh und Geld ha­ben sie bis heute kaum etwas erhalten. Den Behörden zufolge soll das restliche Geld auf Bankkonten verfügbar sein. Doch die Khadia wissen nicht, wie sie an das Guthaben kommen sollen. Nach der Umsiedlung der Khadia wurden die Munda, ein weiteres indigenes Volk aus der Region, durch das von Behörden titu­lierte „Vorzeigedorf“ der Khadia geführt. Die Munda waren ent­setzt über das, was sie dort sa­hen. Sie waren fest entschlossen, dieses Schicksal nicht zu teilen: „Wir würden lieber sterben, als das Dorf zu verlassen“, sagte der Munda Telenga Hassa. Doch für 32 Familien war der Druck einfach zu groß – sie wurden im September 2015 „umgesiedelt“. An dem Tag, nachdem sie gegan­gen waren, setzte die Forstbehör­de Elefanten ein, um ihre alten Häuser zu zerstören – für den Fall, dass sie versuchen würden zurückzukehren.

Wie wichtig es jedoch für den Tiger ist, das Recht indige­ner Völker auf ihr angestammtes Land zu achten, spiegelt sich in erstaunlichen Zahlen wider: Von 2010 bis 2014 hat sich die Tigerpopu­lation im BRT-Reservat im südindi­schen Bundesstaat Karnataka nahezu verdoppelt – von 35 auf 68 Tiere. Im Gegensatz zu anderen Gebieten in In­dien durften die indigenen Soliga dort gemeinsam mit den Tigern auf ihrem angestammten Land leben. Der Zu­wachs der Tigerpopulation im BRT-Reservat ist damit wesentlich höher als der Zuwachs der Population im na­tionalen Durchschnitt – was eine ein­fache Erklärung hat: Die Soliga leben in einer engen Beziehung mit ihrer Umwelt und verehren die Tiger. „Wir beten die Tiger als Götter an. Es gab in der Vergangenheit nicht einen ein­zigen Zwischenfall, bei dem Tiger und Soliga miteinander in Konflikt geraten wären – auch nicht bei der Jagd“, sagte Madegowda, ein Mann vom Volk der Soliga.

1877 wurden Native Americans aus dem Yellowstone-Nationalpark unter dem Vorwand vertrieben, dass sie die nahezu unberührte Natur gefährden würden. Foto: © Albert de Bruijn via Flickr

Was passiert mit der Umwelt, wenn ein indigenes Volk von seinem Land vertrieben wird? Nicht nur die ver­triebenen Menschen leiden unter der Trennung, meist verändert sich auch die Natur nicht zum Positiven. So fiel den ersten Siedlern in Australien das „parkähnliche“ Aussehen der Wälder auf: In den offenen Ebenen standen die Bäume weit auseinander und zwi­schen ihnen wuchs kein Gestrüpp. Die Aboriginal Australians haben über Jahrhunderte ein System entwi­ckelt, nach dem sie bewusst Flächen in Brand setzen und so buschfrei halten. Heute wird immer deutlicher, dass die Art, wie sie ihr Land bewirtschaftet haben, das Risiko großer zerstöreri­scher Brände reduziert hat. Heute ist das kontrollierte Abbrennen jedoch verboten, obwohl in den vergangenen 90 Jahren Buschbrände Australien vie­le Millionen Euro gekostet haben. Ein Vergleich zwischen Naturschutzgebie­ten und durch von Gemeinschaften bewirtschaftete Wälder hat gezeigt, dass indigene Völker besser gegen zer­störerische Abholzung vorgehen als beispielsweise Behörden. So werden viele Schutzgebiete von unzureichend geförderten, unmotivierten und manchmal korrupten Angestellten schlecht verwaltet. Die indigenen Völ­ker indes sind zum Überleben auf den Wald angewiesen, weshalb sie auch nachhaltig mit ihm umgehen.

Indigene Völker sind mit ihrem Land eng vertraut und haben ein un­vergleichliches Wissen über die Pflanzen- und Tierwelt. Das macht sie zu erfolgreichen Ver­waltern ihrer Gebiete. Die kom­plexen Jagd- und Sammelsys­teme, die sie entwickelt haben, tragen nicht nur dazu bei, eine Gesellschaftsordnung aufrecht­zuerhalten, sondern auch lokale Ressourcen zu bewahren. Wenn sie jedoch vertrieben werden, verlieren sie die Mög­lichkeit, sich selbst zu versorgen, und geraten als erfahrene Fähr­tenleser und Jäger in Gefahr, Verbündete von Wilderern zu werden, anstatt mit Naturschutz­organisationen zusammenzuar­beiten. Indigene Völker sind die „Augen und Ohren“ ihrer Ge­biete und daher am besten in der Lage, Wilderei zu verhindern. Um dies zu fördern, müssen Na­turschützer aber die Partner in­digener Völker werden und von ihnen lernen, sie respektieren und ihnen helfen, ihr Land zu schützen. An vielen Orten der Welt brauchen indigene Völker dringend Hilfe – bekommen diese aber nicht von Naturschützern. Deswegen for­dert die Menschenrechtsorganisation Survival International mit ihrer Kam­pagne „Indigener Naturschutz“ ein ra­dikales Umdenken des Naturschutzes und Lösungsansätze, die die Rechte indigener Völker und den Respekt für ihre Lebensweisen in den Mittelpunkt stellen.

 

[Weitere Informationen]

www.survivalinternational.de/indigener-naturschutz

[Zur Autorin]

Valeska Ebeling arbeitet für die Menschenrechtsorganisation Survival International.


Header Foto: Praveena Sridhar via Flickr

Foto Mitte: Andre Vandal via Flickr

Foto Mitte links: Dietmar Temps via Flickr

Foto unten: Albert de Bruijn via Flickr


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