"Unsere Kinder sind heilige Wesen"

Eine traumatisierte Generation. Die Suizidrate unter Kindern und Jugendlichen im Pine-Ridge-Reservat ist erschreckend hoch. Foto: Ben Piven / Flickr

 

Sie kommen früh mit dem Tod in Berührung – Kinder und Jugendliche im Pine-Ridge-Reservat in South Dakota: nicht nur weil die Lebenserwartung der Menschen unter dem nationalen Durchschnitt liegt – Männer werden 48 und Frauen 52 Jahre alt –, sondern auch weil sie sich selbst das Leben nehmen oder den Suizid von Gleichaltrigen erleben müssen. Seit Dezember 2014 hat die Suizidrate bei jungen Oglala Lakota dramatisch zugenommen. Nach Angaben von Collins Clifford, Mitglied des Stammesrats der Oglala Lakota, haben sich von Weihnachten 2014 bis Juni 2015 elf junge Menschen in der Altersgruppe von zwölf bis 24 Jahren umgebracht, 379 haben einen Suizidversuch unternommen. Was sind die Gründe für diese „Suizid-Epidemie“?

 

von Sandy Naake

Es sollte ein schöner Ausflug über Neujahr werden. Weg von den bedrückenden Lebensumständen in Pine Ridge, weg von der Trostlosigkeit. Die Reise ging nach Rapid City, der zweitgrößten Stadt des Bundesstaates South Dakota. Als die zwölfjährige Oglala Lakota Santana in der Hotellobby ankam, fielen verletzende Worte: „Dreckige Indianer“, rief eine Frau dem Mädchen zu. „Meine wunderschöne Lakota-Enkelin musste sich das anhören. Unsere Kinder wollen heute einfach nur sterben, weil sie der Unterdrückung überdrüssig sind“, mutmaßt der Großvater von Santana. Das Mädchen wählte zwei Monate später im Februar 2015 den Freitod.

Über die Gründe für die vielen Suizide unter Jugendlichen wird viel diskutiert. Immer wieder angeführt werden die entsetzlichen Lebensumstände in Pine Ridge, dem ärmsten Reservat in den USA. Nach Regierungsangaben leben dort rund 16.000 Menschen. Nach inoffiziellen Angaben wird die Bevölkerung jedoch auf 40.000 geschätzt. 35 Prozent sind unter 16 Jahre alt. Das Durchschnittseinkommen liegt unter 4.000 US-Dollar im Jahr. Mehr als 90 Prozent leben unter der Armutsgrenze und über 80 Prozent sind arbeitslos. Es gibt dort weder Banken, Geschäfte – nur ein Lebensmittelgeschäft – noch Industriebetriebe. Die meisten Häuser sind in einem erbärmlichen Zustand: Sie sind von Schimmel befallen, baufällig und nicht isoliert gegen Hitze oder Kälte. Vor allem ältere Menschen, die sich kein Heizmaterial kaufen können, erfrieren im Winter. Durchschnittlich leben 17 Personen in einer Zwei- bis Dreizimmerwohnung. In einigen Häusern, die auf sechs bis acht Bewohner ausgelegt sind, sind bis zu 30 Menschen untergebracht. Schätzungen zufolge haben 60 Prozent der Oglala Lakota in Pine Ridge keinen Zugang zu Elektrizität. Die Bewohner leiden überdurchschnittlich häufig an Diabetes, Herzerkrankungen und Krebs. Die Rate von Gebärmutterhalskrebs in Pine Ridge ist fünf Mal höher und die Kindersterblichkeit drei Mal höher als der nationale Durchschnitt. Alkoholismus kommt in acht von zehn Familien vor. Drogenmissbrauch und häusliche Gewalt gehören für viele Familien zum Alltag.

Zerrüttete Familienstrukturen, Trostlosigkeit und Armut – junge Lakota wachsen ohne Urvertrauen, ohne Sicherheit auf. „Es ist eine Herausforderung, in diesen Zeiten Lakota zu sein, weil sie einerseits ihre Kultur bewahren wollen, andererseits wird ihnen aber erzählt, dass ihre Kultur zu nichts taugt“, sagt Ted Hamilton, Leiter der Red Cloud Indian School, einer Jesuitenschule in dem Reservat. Die Hunkpapa und Oglala Lakota Maria Yellow Horse Brave Heart, Privatdozentin für Soziale Arbeit, erklärt die Suizidwelle als Resultat der Jahrhunderte langen Unterdrückung der Indianer. Das kollektiv-historische Trauma und der Verlust von Kultur und Traditionen wirken bis heute fort, meint sie.

„Wir haben unsere eigenen Häuser gebaut, unsere Kleidung selbst gemacht, unser Essen selbst besorgt, wir haben es gelagert, um auf den Winter vorbereitet zu sein. Dann haben sie uns in Reservate gesteckt und sagten uns, dass wir nie wieder jagen werden. Wir werden euch eure Rationen bringen und sie brachten uns Dosenfutter. (…) Unsere Spiritualität ist keine Religion, in der du das ,Vaterunser‘ am Morgen und das ,Ave Maria‘ am Abend aufsagst. Unsere Spiritualität ist eine Lebensweise. Sie haben uns gelehrt, dass unsere Kinder von Geburt an mit der Erbsünde belastet sind. Das ist nicht richtig. Unsere Kinder sind heilige Wesen“, sagt Eileen Janis vom Sweetgrass Project, ein Suizidpräventionsprogramm der Oglala Lakota.

Bis in die 1970er Jahre gab es in den USA ein perfides System, um indianische Kinder zu assimilieren. Die Regierung gründete Ende des 19. Jahrhunderts sogenannte Indian Boarding Schools, also Internatsschulen, die außerhalb der Reservate lagen. Die jungen Native Americans sollten dem Einfluss ihrer Familien entzogen werden, um sie unter der Obhut des Staates zu erziehen und sie zu „zivilisieren“. Zigtausend Kinder wurden so ihrer Gemeinschaft entrissen – oft gegen den Willen der Eltern, die den Weißen misstrauten, da sie von ihnen nur Tod und Vertreibung erfahren hatten. Die Kinder durften in den Schulen ihre Sprache nicht sprechen, ihre Religion nicht ausüben, ihre Kultur nicht leben.

Das hatte zur Folge, dass Gemeinschaftsstrukturen zerbrachen und dass viele Native Americans über Generationen mündlich überliefertes Wissen über Kultur und Traditionen gar nicht erst gelernt haben, da sie nicht in ihrer Gemeinschaft, sondern in den Internaten aufgewachsen sind. In den Internatsschulen wurden die Kinder und Jugendlichen nicht nur ihrer Identität beraubt, sondern erlebten auch physische und psychische Gewalt. Noch 1973 gingen etwa 60.000 junge Indianer auf solche Schulen. Die Opfer dieses Systems sind die Eltern und Großeltern der Kinder von heute.

Die Hunkpapa Lakota und Mdewakanton Dakota Ruth Hopkins – Autorin und Bloggerin – ist der Ansicht, dass es nicht damit getan sei, einzelnen Menschen zu helfen. Vielmehr müsse die ganze Gemeinschaft geheilt werden, um weitere Suizide und Suizidversuche zu verhindern. Deshalb müssten Psychologen suizidgefährdete Kinder und Jugendliche mit einer ganzheitlichen Therapie behandeln, die auf die Lakota-Kultur abgestimmt ist und die die indianische Identität wieder stärkt.

Viele Häuser in Pine Ridge sind in einem schlechten Zustand. Foto: International Indian Treaty Council / Flickr

In Pine Ridge gibt es nur sechs psychologische Fachkräfte. Nun hat das Bildungsministerium der Schule von Pine Ridge 218.000 US-Dollar zugesagt: Sozialarbeiter und Berater sollen eingestellt werden, um des Problems Herr zu werden. Doch für Clifford ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es brauche langfristige Lösungen, meint er. Oglala Lakota vertrauen nicht auf die Hilfe der US-Behörden, von denen sie sich sowieso seit Jahrzehnten im Stich gelassen fühlen, und nehmen das Zepter selbst in die Hand. So gründeten sich in den vergangenen Jahren Organisationen in Pine Ridge, die jungen Lakota wieder Halt geben und sie zu den Wurzeln ihrer Kultur zurückführen wollen. Die seit 2011 existierende Organisation Mitakupi hat nicht nur eine 24-Stunden-Telefonseelsorge rund um das Thema Suizid ins Leben gerufen, sondern initiiert auch Sport- und Kunstprojekte. Die Programme der Organisation Lakota Children’s Enrichement zielen ebenso darauf ab, mit Sport-, Kunst-, Bildungsangeboten junge Lakota zu fördern. Seit 2013 richtet die Organisation zudem einen Schreib- und Kunstwettbewerb aus, bei dem junge Native Americans aus Pine Ridge ihre Gedanken- und Gefühlswelt auf künstlerische Art und Weise ausdrücken können.

Eingereichte Arbeiten stimmen nachdenklich: „Ich hoffe, dass der Alkohol versiegt, ehe unser Blut es tut“, schreibt Payton Sierra in ihrem Gedicht „Überleben“. Die 16-jährige Rebecca Hunter macht sich über sexuellen Missbrauch in „Gestohlene Unschuld“ Gedanken: „Sie kann nicht vergeben, sie kann nicht vergessen. Du hast ihre Unschuld gestohlen und sie so auf einen Pfad von Schuld und Scham gezwungen.“ Jetta Tobacco, zwölf Jahre alt, schreibt sich ihren Frust von der Seele, weil sie nicht weiß, wie sie ihren Freunden helfen kann, die sich selbst verletzen: „Es ist schwer, einen Hilfeschrei zu hören, wenn jemand die Maske eines falschen Lächelns aufsetzt.“


Header Foto: Ben Piven via Flickr

Foto unten rechts: International Indian Treaty Council via Flickr


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