Muslimisch-jüdische Nachbarschaft in Sarajevo: „Liebe deinen Nachbarn wie dich selbst“

Zivilcourage im Zweiten Weltkrieg: Damit Rifka in Sarajevo ungehindert spazieren gehen kann, griff ihre Freundin, die Muslima Zeneiba, in die Trickkiste. Sie legte ihren Schleier über Rifkas Arm, damit niemand mehr den Judenstern sehen konnte. Foto: Archiv der Jüdischen Gemeinde in Sarajevo

 

von Eli Tauber

Die Geschichte beginnt vor langer Zeit, in den 1920er Jahren auf einem kleinen bosnischen Innenhof in Sarajevo gegenüber der sephardischen Synagoge Il kal grandi, einer der größten in ganz Europa. In den kleinen Häusern um den Innenhof leben die muslimischen und jüdischen Familien Hardaga, Kabiljo, Kalakan und Tauber friedlich zusammen. Die Familien gratulieren sich gegenseitig zu Feiertagen und feiern Feste gemeinsam. Jeden Morgen, wenn die Männer zur Arbeit und die Kinder zur Schule gegangen sind und die Frauen ihre tägliche Arbeit verrichtet haben, kommt ein ganz besonderer Moment: Die Frauen treffen sich im Hof, trinken Kaffee und sprechen über die Dinge, die sie bewegen. In diesem Innenhof wuchsen die Herzen der Menschen zusammen. Freundschaften entstanden, die Jahrzehnte später Leben retten sollten; Freundschaften, die sich über menschenverachtende Ideologien hinwegsetzten.

Im Zweiten Weltkrieg sollte sich beweisen, wie eng diese Freundschaft zwischen den jüdischen und muslimischen Familien gewachsen war. 1941 mussten auch die Juden in Sarajevo eine gelbe Armbinde mit dem Buchstaben „Ž“ für „Židov“, „Jude“, tragen. Es war eine schlimme Zeit: Jüdische Bürger mussten zunächst aus ihren Wohnungen im Stadtzentrum ausziehen, dann wurden sie enteignet. Sie verloren ihre Geschäfte, ihre Unternehmen, ihr ganzes Eigentum. Dann begann das Ustascha-Regime*, Juden festzunehmen und in die Todeslager zu deportieren. 

Die Muslima Zeineba hakte eines Tages die Jüdin Rifka unter und sagte, es sei an der Zeit, im Stadtzentrum von Sarajevo spazieren zu gehen. Doch Rifka war gekennzeichnet: Sie trug an ihrem Arm einen Judenstern. Sie wusste, dass der Vorschlag von Zeineba gefährlich war. Die mutige Muslima jedoch griff in die Trickkiste: Sie zog sich ihren langen Gesichtsschleier über den Kopf und drapierte ihn so, dass er Rifkas Arm und Schulter überdeckte. Der Judenstern war nun nicht mehr zu sehen. Und so spazierten sie an einem Frühlingstag im Jahr stolz und tapfer die Hauptstraße von Sarajevo entlang – vom Hotel Central bis zum Hotel Evropa und zurück.

Das eigene Leben und das Leben der eigenen Familie in Gefahr zu bringen, um jemanden zu retten, ist wahrlich eine Heldentat. Der alte Izet Hardaga zögerte jedoch nicht, dies zu tun. Auch sein Sohn Mustafa zeigte keine Angst vor den Ustascha. Beide taten, was sie als ihre Pflicht ansahen: der Familie Kabiljo zu helfen. Sie konnten sie retten, sich selbst jedoch nicht. Die Ustascha haben sie wegen ihres „Vergehens“ in das Konzentrationslager Jasenovac deportiert und dort getötet. Auch dies war jedoch nicht genug, um die Familie Hardaga einzuschüchtern. Zeineba, die Ehefrau von Mustafa und Schwiegertochter von Izet, half den Juden weiter, zuerst der Familie Danon und später auch meiner Großmutter und meinem Großvater.

Mein Großvater Rudi wurde im Lager Beledija gefangen gehalten, das als „Sammelstätte” für Juden vor ihrem Abtransport in das Konzentrationslager nach Jasenovac diente. Die Kontrolle des Ein- und Ausgangs aus dem Lager hat nicht sehr gut funktioniert. So haben die Wärter den Gefangenen erlaubt, das Gelände zu verlassen, um beispielsweise noch wichtige Habseligkeiten von zuhause zu holen. Einige Wärter taten dies aus Mitgefühl, andere gegen Bezahlung. Eine solche Gelegenheit nutzte mein Großvater und floh aus dem Lager. Er kam in sein Zuhause, doch er hatte kein Geld. Sein Eigentum war ihm zuvor genommen worden. Wohin sollte er gehen? An wen sollte er sich in seiner Not wenden? Bei uns in Bosnien an den Nachbarn. Er klopfte an Zeinebas Tür und wurde sofort mit Kaffee und Essen empfangen. Sie gab ihm alles Geld, was sie im Haus fand, obwohl sie für sich selbst nicht genügend hatte. Sie wünschte ihm alles Gute auf dem Weg nach Mostar. Hier waren die Italiener und das Leben für Juden war dort relativ sicher und möglich. Nach dem Aufenthalt in Mostar floh meine Familie auf die kroatische Insel Hvar, auf der jedoch das Überleben ohne Geld kaum möglich war. Eine Freundin meiner Großmutter, die mit einem Kroaten verheiratete Serbin Dala Lisac, schickte Geld ins Hotel Kovacic – jedoch immer auf einen falschen Namen. Meine Großmutter bedankte sich stets mit einer Karte. „Schau bitte, was mit Zeineba ist. Sie hat uns so viel geholfen. Wenn du kannst, hilf bitte auch ihr”, schrieb meine Großmutter an ihre Freundin.

Als der Krieg vorbei war, trafen sich Zeineba und meine Großmutter Boncika in Sarajevo wieder. Sie umarmten und küssten sich und konnten kaum glauben, dass sie noch am Leben waren und wieder zusammengefunden hatten. Seitdem gab es viele gemeinsame Treffen und später, als meine Großmutter in ein Altersheim in Zagreb kam, schrieben sie einander Briefe. 

Für ihren Einsatz zur Rettung von Juden im Zweiten Weltkrieg hat Zeineba Hardaga als erste Muslima die Auszeichnung „Gerechte unter den Völkern” von Yad Vashem** erhalten. Wahrscheinlich wäre dies nun das Ende meiner Geschichte über Zeineba, wäre Bosnien nicht selbst 1992 von einem blutigen Krieg betroffen gewesen. Ich musste mit meiner Familie Sarajevo verlassen und habe versucht, mir in Israel ein neues Leben aufzubauen. Zwei Jahre später habe ich erfahren, dass Zeineba, die Frau, die meinen Großvater gerettet und so vielen geholfen hat, die Freundin meiner Großmutter Boncika, mit einem jüdischen Konvoi aus dem belagerten Sarajevo gebracht wurde und nach Israel kommt. Ich habe es irgendwie geschafft, eine Erlaubnis für das Betreten der Schutzzone vom Flughafen Ben Gurion bei der Ankunft neuer Siedler zu erhalten. So war ich mit in der Delegation, die die aus Sarajevo kommenden Flüchtlinge empfangen hat – unter ihnen auch Zeineba mit ihrer Familie. Es war nicht leicht, zu ihr zu gelangen, denn so viele Journalisten und die höchsten israelischen Politiker wie Yitzhak Rabin wollten mit ihr sprechen.

Als sie mich nach so vielen Jahren sah und erkannt, fiel sie mir weinend in die Arme. Sie wusste, dass sich nichts verändert hatte. Dies war der Enkelsohn von Boncika, der die gleiche Liebe, Respekt und Freundschaft wie ihre geliebte Boncika für sie hegte. Nach meiner Rückkehr nach Sarajevo hat der Rabbi Eliezer Papo mir erzählt, wie Zeineba auf seine Frage geantwortet hat, warum sie denn damals Juden geholfen hat: „Ich habe keine Juden gerettet, sondern Menschen – meine Freunde und Nachbarn!“


*  Die Ustascha waren kroatische Faschisten im Zweiten Weltkrieg, die mit den Nationalsozialisten kollaboriert haben.

**  Das Dokumentationszentrum Yad Vashem in Jerusalem ist die bedeutendste Gedenkstätte, die an die Judenvernichtung während des Zweiten Weltkriegs erinnert.

 

[Zum Autor]

Eli Elijas Tauber wurde 1950 in Sarajevo geboren. 15 Jahre arbeitete er für die Tageszeitung Oslobodjenje. Bereits in jungen Jahren befasste er sich mit der Geschichte und den Bräuchen der Juden in Bosnien-Herzegowina und veröffentlichte dazu Bücher wie das „Illustrierte Lexikon des Judentums, Geschichte, Religion und Bräuche“ und „Als die Nachbarn noch Menschen waren“. Seit 2010 ist Eli Tauber Mitarbeiter des Instituts zur Erfassung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Sarajevo. Zudem ist er Vorstandsmitglied der Gesellschaft für bedrohte Völker Bosnien-Herzegowina.


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