Editorial

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Liebe Leserin, lieber Leser,

noch immer werden Muslime in Deutschland häufig als „fremd“ wahrgenommen. Rechtsorientierte Gruppierungen sprechen polemisch von einer europäischen Leitkultur, zu der der Islam nicht gehöre und die es vor einer drohenden Islamisierung zu schützen gelte – wie bei den erschreckenden Massendemonstrationen im Dezember 2014 und Januar 2015 in Dresden, Köln oder anderen Städten zu sehen war.

Was häufig vergessen wird: Europa hat bereits eine lange muslimische Geschichte. Vom 8. Jahrhundert an hatten das heutige Spanien, aber auch Portugal, Gibraltar, Sizilien und Malta eine teilweise muslimische Bevölkerung. Durch ihren Beitrag zu Wissenschaft und Kultur wurden sie Teil der Entstehungsgeschichte des heutigen Europas. So war die Iberische Halbinsel unter muslimischer Herrschaft ein Hort des Fortschritts und Wissens, von dem auch der Rest Europas profitiert hat.

Die muslimisch-europäische Geschichte endet aber keineswegs Anfang des 17. Jahrhunderts mit der vollständigen Vertreibung der Muslime von der Iberischen Halbinsel nach Nordafrika und in die Türkei. In Nord-, Ost- und Südosteuropa existieren bis heute viele muslimische Gemeinden, von denen einige bis zu 700 Jahre alt sind. Millionen muslimische Europäer leben zwischen Kroatien und der Wolga, Finnland und Zypern. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen, haben unterschiedliche Kulturen und eine jeweils einzigartige Geschichte.

Leider sind alle Glaubensgemeinschaften, auch manche europäische muslimische Gesellschaften, nicht vor Extremismus gefeit. Doch mehrheitlich wehren sich die muslimischen Volksgruppen Europas und ihre religiösen Führer erfolgreich gegen menschenverachtende politische Ideologien, deren Anhänger unter dem Deckmantel der Religion versuchen, in ihren Gemeinschaften Fuß zu fassen. Sie halten am friedlichen Zusammenleben mit ihren Nachbarn anderen Glaubens fest, obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie vor allem im 20. Jahrhundert selbst immer wieder Opfer von Unterdrückung, Vertreibung und Völkermord wurden. Die schrecklichen Erinnerungen reichen vom griechisch-türkischen „Bevölkerungsaustausch“ über Stalins Deportationen bis hin zu den Konzentrations- und Vergewaltigungslagern in Bosnien und der vorsätzlichen Zerstörung der materiellen muslimisch-bosniakischen Kultur. Die bosnischen Muslime hielten dennoch wie viele ihrer orthodoxen, katholischen und jüdischen Mitbürger am gemeinsamen Ideal eines demokratischen Staates für alle fest.

Lernen Sie die Pomaken in Bulgarien und Griechenland kennen, die ihre Hochzeiten nur im Winter feiern. Vielleicht werden Sie überrascht sein, dass selbst im hohen Norden die alteingesessene Gemeinschaft der Finnland-Tataren alles versucht, ihre Kultur und Traditionen zu bewahren. Und lesen Sie die berührende Geschichte von Eli Taubers Großeltern, die den Holocaust in Bosnien überlebt haben, weil ihnen Muslime zur Seite standen.

Die Muslime sind Teil des geeinten Europas, seiner Geschichte, Gegenwart und Zukunft!

Ihr Kaan Orhon

Mitarbeiter der Gesellschaft für bedrohte Völker von 2011 bis 2015

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