Editorial

 

Liebe Leserinnen und lieber Leser,


schon vor vier Jahrzehnten, in den 1970er Jahren, wandten sich Repräsentanten bedrohter und verfolgter christlicher Minderheiten aus der Türkei an die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) mit der Bitte um Unterstützung. Unter ihnen waren Sprecher der Exilorganisationen der Armenier, der Assyrer/Aramäer und der pontischen und ionischen Griechen. Sie alle gehörten zu den Opfern der furchtbaren Völkermordverbrechen, die die Truppen der osmanischen Türkei und später die türkische Armee Kemal Atatürks an diesen christlichen Völkern verübten. Bis zu 2,5 Millionen Kinder, Frauen und Männer, so schätzen heute Experten, fielen diesen Genoziden zum Opfer. Seither hat unsere Menschenrechtsorganisation kontinuierlich die deutschsprachigen Medien informiert, eine lange Reihe von Dokumentationen in Form von Broschüren oder Büchern publiziert und an viele interessierte und potentielle Unterstützer verteilt. Wir haben die Arbeit der Betroffenen bekannt gemacht, haben Abgeordnete und Institutionen als Unterstützer gewonnen und die Anliegen der Betroffenen bei den Vereinten Nationen und im Europarat eingebracht.
Es gehört zur traurigen Realität, dass seither eine immer länger werdende Reihe von Genoziden verübt wurde – in Biafra und dem Südsudan, in Irakisch-Kurdistan und Osttimor, in Bangladesch und Bosnien, um nur einige zu nennen, Genozide, an denen zumeist Ost oder West beteiligt waren.
Die überlebenden Flüchtlinge und Vertriebenen des schrecklichen Völkermords an den Armeniern wurden über die Welt verstreut, organisierten sich in ihren Gemeinden, gründeten Institutionen, verfassten unentwegt Appelle und Eingaben. Ihr Ziel war und bleibt die Anerkennung des Völkermords durch die Weltgemeinschaft der Staaten und Institutionen. Damit soll ein machtvolles Zeichen gesetzt werden in Sachen Bekämpfung von Genozid überhaupt, aber auch die Türkei als Nachfolgestaat der Täter dazu gezwungen werden, den Völkermord anzuerkennen und Konsequenzen zu ziehen. Auch in diese Richtung wird die GfbV die armenische Exilbewegung weiterhin unterstützen.
Unter den Nachkommen der Opfer wächst die Solidarität. Die Nationalversammlung der Republik Armenien hat am 23. März 2015 eine Erklärung zum „Völkermord an den Griechen und Assyrern, begangen von der Osmanischen Türkei zwischen 1915 und 1923“ verabschiedet, was eine Anerkennung des Völkermords an den Völkern bedeutet, die weniger im öffentlichen Fokus stehen.
Derweil setzt die Türkei ihre minderheitenfeindliche Politik fort. In den vergangenen Jahrzehnten wurden die verbliebenen aramäischsprachigen Christen weiter diskriminiert oder aus dem Land gejagt. In der Türkei durfte nicht eine christliche Kirche gebaut werden; in einem Fall bot Ministerpräsident Erdogan dies an - auf einem katholischen Friedhof, um dessen Rückgabe die Katholiken einen Prozess angestrebt hatten. Und ebenso musste fast die gesamte yesidische Gemeinschaft das Land verlassen. Sie fand vor allem in Deutschland Aufnahme. Unvergessen ist auch der Überfall der Türkei (1974) auf das multikulturelle Zypern, der mit der Massenvertreibung der griechischen Zyprioten aus dem türkisch besetzten Nordteil und dem Tod von viertausend von ihnen endete.
Während die Terromiliz IS in den Nachbarländern Syrien und Irak Massenmord an Assyrern und Yesiden begeht, ihre Frauen vergewaltigt und die Kinder in die Sklaverei verkauft, setzt auch die Regierung Erdogan ihre unmenschliche Minderheitenpolitik fort. Als die kurdische Bevölkerung der syrisch/kurdischen Grenzregion Kobane um ihr Überleben kämpfte, verhinderte die Türkei jede politische, militärische und ökonomische Hilfe.
Die GfbV wird sich weiter für die offizielle Anerkennung der drei Genozide durch die Türkei einsetzen. Deutschland, drittgrößter Waffenlieferant der Welt, ist eng mit der Türkei verbündet und viele Quellen deuten darauf hin, dass die Empfängerländer Türkei wie auch Saudi-Arabien und Katar die IS mit deutschen Waffen versorgten.

 

Ihr Tilman Zülch

Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker

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