Wie Rio de Janeiro eine Favela für Touristen fit macht

Armut zum Anfassen

Foto: Ninja Mídia/Flickr CC BY-NC-Sa 2.0

von Julia Poschkamp

Spätestens zu Olympia 2016 soll die Favela Morro da Providênciain Rio de Janeiro „besuchertauglich“ sein. Die aus aller Welt herbeiströmenden Touristen möchten wohl nicht nur die bis dahin neu erbauten Stadien sehen, sondern auch das „echte“ Brasilien. Das Armutsviertel auf einem Hügel in der Stadt bietet sich da an, denn hier könnten die Reisenden im Herzen Rios nicht nur arme Afrobrasilianer „gucken gehen“, sondern gleichzeitig eine großartige Aussicht über die Stadt und das Meer genießen. Doch das wahre Gesicht einer „typischen“ Favela mit ihren Drogendealern, einer immens hohen Kriminalitäts- und Sterberate, ihren Bergen von Müll und so engen Gassen, dass einem die Luft wegbleibt, kann dem Besucher nun wirklich nicht zugemutet werden. Es könnte ja der Eindruck entstehen, Brasilien würde sich nicht um die benachteiligten Mitglieder seiner Gesellschaft kümmern. Also wird Morro da Providência nun zur Vorzeigefavela herausgeputzt. Was seine Bewohner davon halten, ist erst einmal zweitrangig.

Rios Behörden riefen 2008 zunächst die sogenannte Friedenspolizei (UPP) ins Leben, um Morro da Providência und andere Favelas der Stadt von Drogenbaronen zu befreien. Das fanden auch die meisten Bewohner ganz nett: Zuvor hatte sich die Polizei nicht in das Wohnquartier getraut und im Zweifelsfall nur von außen hineingeschossen. Doch nicht immer trafen sie Drogendealer, sondern auch unschuldige Menschen. Erst als die Favela 2010 offiziell befriedet war, kam auch Eduardo Paes, Burgermeister von Rio de Janeiro, zu den Armen und erklärte den Bewohnern von einer Bühne herab, wie er sich die Umgestaltung vorstelle: Er wolle eine Seilbahn auf den Hügel bauen lassen, damit sie leichter ins Stadtzentrum gelangen könnten. Dass das Ganze auch in die Gegenrichtung funktioniert und Touristen so leichter in die Favela kommen, ist selbsterklärend. Zwar müsse für die Bahn der Platz Américo Brum der einzige Begegnungsort der Bewohner, weichen, aber dafür könnten sie ja durch die Touristen Geld verdienen. Beispielsweise, indem sie Plätzchen verkaufen. Wenn sie den Touristen dann noch erzählen würden, dass das Backrezept von der Großmutter stamme, die noch als Sklavin knechten musste, werde dies der absolute Renner sein, lautete der sicherlich gut gemeinte Vorschlag des Burgermeisters. Ob die Seilbahn nun das ist, was die Bewohner der Favela am dringendsten benötigen, ist mehr als fraglich. Ein Abstieg zu Fuß über die Treppe dauert zehn Minuten, eine Fahrt mit dem Bus kostet umgerechnet 80 Cent. Zwar soll die Benutzung der Seilbahn kostenlos sein. Doch dafür müssen die Favela-Bewohner einen Berechtigungsschein beantragen. Das ist mit viel bürokratischem Aufwand verbunden. Viele haben auch Schwierigkeiten nachzuweisen, dass sie überhaupt in Morro da Providência leben.

Als Favela-Bewohner etwa eine Woche nach dem Auftritt des Burgermeisters abends von der Arbeit nach Hause kamen, fanden Hunderte von ihnen blaue Zahlen an ihre Hauswände gesprayt. Sie fragten ihre Kinder verdutzt, was es denn damit auf sich habe. „Die wollen unser Haus abreisen“, war die Antwort. Etwa 30 Prozent aller Häuser in der Favela wurden für den Abriss gekennzeichnet. Denn Platz wird nicht nur für die Seilbahn benötigt, sondern auch für breitere Wege, damit sich die Touristen nicht so beengt fühlen. Erst später wurden die betroffenen Bewohner informiert. Ihnen wurden Geld und alternative Wohnungen angeboten. Diese mussten aber erst noch gebaut werden. Einige Bewohner sind bereits ausgezogen, doch viele wollen ihre Häuser nicht verlassen, in denen sie teilweise seit vier Generationen leben.

Morro da Providência ist die älteste Favela Brasiliens; sie existiert seit fast 120 Jahren. Sie ist die Heimat von mehr als 10.000 Menschen, elementarer Teil der Stadtgeschichte und Zentrum afrobrasilianischer Kultur. Dort wurde eine der ersten Samba-Tanzschulen Brasiliens gegründet. Nun weicht all dies mehr und mehr einer riesigen Grosbaustelle. Während die Seilbahn im Juli dieses Jahres offiziell eingeweiht wurde, laufen die zusätzlichen Verschönerungsmaßnahmen auf Hochtouren. Die Bewohner betonen, dass sie nichts gegen eine Urbanisierung haben und dem Fortschritt allgemein positiv gegenüberstehen. Aber dann doch bitte so, dass sie etwas davon haben. Sie müssen mitreden können bei der Umgestaltung ihres Viertels. Die Zerstörung einer lokal gewachsenen Kultur kann nicht mit dem Verkauf von Plätzchen wiedergutgemacht werden. Und die Idee, seit der Fußballweltmeisterschaft als Attraktion für Touristen herzuhalten, die auf die Favela von Gondeln aus hinabblicken, findet die Mehrheit auch nicht so toll. Zwar hat die Kriminalität auf den Straßen von Morro da Providência tatsächlich stark abgenommen, seitdem die Friedenspolizei dort präsent ist. Doch von einer Befriedung kann nicht die Rede sein, solange der Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen nicht verbessert wird, es keine sanitäre Grundversorgung für alle gibt und Modernisierungsmaßnahmen mit zweifelhaftem Nutzen über die Köpfe der Betroffenen hinweg durchgesetzt werden. Den Preis für die „Armut zum Anfassen“ haben unter anderem die Afrobrasilianer zu zahlen. Und so wird der Reichtum der brasilianischen Kultur zerstört, um den Touristen die Armut zu zeigen – welch zynischer Schachzug.


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