Wer Amazonien retten will, muss auch die Rechte der indigenen Völker verteidigen

Interview mit Hiparidi Top´Tiro

Foto: Gerry Hadden/PRI.org

Der Anbau von Soja, Mais und Baumwolle ist dafür verantwortlich, dass die rund 15.300 Xavante im brasilianischen Bundessstaat Mato Grosso do Sul ihr Land und ihre kulturelle Identität zu verlieren drohen. Paul Jay von Real News Network, einem Internetfernsehsender, der in Baltimore/USA stationiert ist, interviewte im August 2014 dazu Hiparidi Top’Tiro. Der Xavante ist seit 1996 Präsident der indianischen Vereinigung Xavante Warã und gründete 2006 die Mobilisierung der indigenen Völker des Cerrado.

von Paul Jay

Real News Network: Warum haben Sie die Mobilisierung der indigenen Völker des Cerrado gegründet?

Hiparidi Top’Tiro: In Brasilien gibt es sechs große Ökosysteme: das Amazonasgebiet, das die größte Bedeutung für die Welt hat, den Cerrado, die Caatinga, das Pantanal, den Atlantikwald und die Pampa 1). Vier dieser Gebiete genießen nahezu keinen Schutz von der brasilianischen Regierung. Die Mobilisierung der indigenen Völker des Cerrado wurde gegründet, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch der Cerrado geschützt werden muss, denn niemand schenkte ihm Beachtung. Jeder konnte dort nach Herzenslust und in jedem gewünschten Umfang Soja, Baumwolle und Mais anbauen. Die Gesetzgebung für den Amazonas ist sehr viel strenger. So legt die Umweltgesetzgebung Brasiliens fest, dass zwar 32 Prozent Amazoniens, aber nur 22 Prozent des Cerrado unberührt bleiben müssen. Wir, die indigenen Völker des Cerrado, haben uns organisiert, um unsere Kultur zu erhalten. Wir glauben, dass als Folge einer Entwaldung des Cerrado mit den Tieren und den Vögeln auch unsere Spiritualität als indigenes Volk ganz und gar verschwinden wird. Es begann mit einem zeremoniellen Lauf, den die Vereinigung der Xavante Warã organisierte. Danach hat Xavante Warã dann ihrerseits die Vereinigung der Krahô zu einem Lauf eingeladen, eine Untergruppe der Timbira. Allmählich wurden wir immer mehr. Im Cerrado leben auch Quilombolas 2). Wir haben auch mit ihnen Kontakt aufgenommen. Wir haben erkannt, je mehr Menschen wir zusammenbringen, indigene und andere traditionelle Völker, umso besser können wir auf die Zerstörung des Cerrado und die Notwendigkeit, ihn zu schützen, aufmerksam machen. Mit jedem gefällten Baum verlieren indigene Völker einen Teil ihrer Kultur. Die Xerente zum Beispiel haben ihr ganzes Wissen, alle ihre Erinnerungen verloren. Sie vergessen ihre Sprache, die Namen von Pflanzen und Vögeln, die es nicht mehr gibt. Wir mussten uns auch mit den Quilombolas zusammenschließen, um noch mehr Verbündete zu gewinnen, damit die brasilianische Regierung uns endlich zuhören muss. Die große Herausforderung für uns ist es, für den Cerrado eine Umweltgesetzgebung zu bekommen, die ebenso bindend ist wie die für Amazonien. Bislang haben wir erreicht, dass das Umweltministerium ein Cerrado-Zentrum geschaffen hat. Es ist jedoch nicht mit dem Zentrum für Amazonien vergleichbar, denn es hat keinen Etat.

Real News Network: Welche Auswirkungen hat die industrielle Agrarwirtschaft auf das alltägliche Leben in Ihrem Gebiet?

Hiparidi Top’Tiro: Am schlimmsten ist, dass die Giftstoffe, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden, das Wasser verseuchen. Außerdem verschwindet dort, wo der Sojaanbau zunimmt, das Wild, das wir jagen. Die Tiere, Pekaris und Tapire, suchen außerhalb unseres Reservats nach Nahrung. Sie fressen in den Feldern Soja und Mais und werden dick. Wenn das Jagdwild dann auf unser Land zurückkehrt, sind die Tiere fett und ihr Fleisch ist fett. Das ist nicht gut für die Gesundheit unserer Kinder. Es ist auch schwieriger geworden, Rohmaterial für unsere Bogen und Pfeile zu bekommen. Wir finden es nicht mehr auf unserem Land und müssen unser Reservat verlassen, um es nahe der angrenzenden Farmen zu holen. Die Landwirtschaft hat auch Auswirkungen auf unsere Ehezeremonien. Bei einer Heirat wird nach unserem Brauch Wildfleisch verschenkt. Die Tiere müssen wir inzwischen auf Ländereien jagen, die uns nicht mehr gehören. Zudem wachsen die Früchte nicht mehr so gut wie einst. Wir müssen jetzt unser mittlerweile zu klein gewordenes Land verlassen, um genug davon zu sammeln. Wir haben auch Probleme, all die Dinge zu bekommen, die wir für unsere Rituale brauchen. Deshalb können wir unsere Zeremonien nicht mehr so häufig durchführen, wie es nötig wäre. Auch Träume sind sehr wichtig für uns. Damit ich zum Beispiel meinen Namen, Hiparidi, bekommen konnte, musste ihn zunächst jemand träumen. Wenn es also keinen Cerrado mehr gibt, weder Tiere noch Vögel, die in unseren Träumen unsere Namen aus der Welt der Geistwesen bringen können, fügt das unserer Kultur Schaden zu.

Real News Network: Wie leben die Menschen jetzt? Wie gestalten sie ihr Leben?

Hiparidi Top’Tiro: Traditionell und kulturell sind wir Jäger und Sammler. Gartenbau betreiben wir momentan nur wenig, da es durch das Eindringen nicht-indigener Menschen in unser Land viele Konflikte gibt. Alles begann mit dem „Marsch nach Westen“ 3) während der Diktatur unter Getúlio Vargas. Der Staat begann unter Vargas damit, unser Land an Menschen aus dem Süden zu verteilen, an Menschen aus dem Bundesstaat Parana. Sie sagten, unser Land sei „leer“. Sie behaupteten, dass es keine Besitzer habe und dass es besiedelt werden müsse. Die Regierung begann, unsere Leute in kleinen Reservaten anzusiedeln und unseren alten Leuten Renten zu zahlen, damit sie nicht mehr den Wunsch verspüren zu jagen und sich passiv verhalten. So entstanden unsere Probleme. Auch heute jagen wir immer noch, fangen Fisch und bauen Feldfrüchte an. Wir ernähren uns immer noch traditionell, wenn auch um einiges weniger als früher.

Real News Network: Was sagen Sie Menschen, die diese großen landwirtschaftlichen Betriebe für die Ernährung der Bevölkerung innerhalb und außerhalb Brasiliens für notwendig halten?

Hiparidi Top’Tiro: Ich glaube, dass der globale Kapitalismus die indigenen Völker nicht zerstören muss. Sie können in dieser Welt durchaus koexistieren. Wir aber sind darauf angewiesen, unsere Kultur aufrechtzuerhalten und wir haben dieselben Rechte wie die anderen Bürger. Die sogenannte Agroindustrie muss zur Verantwortung gezogen werden. Sie müssen nicht unser Land rauben, unsere Kultur und unser Leben zerstören, um zu produzieren. Sie müssen anerkennen, dass andere Menschen auch Staatsbürger sind, die Rechte haben.

Real News Network: Gibt es denn auch in Ihrem Volk Menschen, die denken, dass die industrielle Landwirtschaft vielleicht gar nicht so schlecht ist, weil man damit Geld verdienen kann?

Hiparidi Top’Tiro: Es ist eine Illusion zu glauben, dass alle Dinge aus der modernen Welt das Leben leichter machen, dass die Menschen mehr Zeit und Muße haben, über das Leben nachzudenken, weil es industriell gefertigte Nahrung gibt. Einige von uns glauben das und wir haben deshalb interne Konflikte. Die Mehrheit von uns vertritt jedoch die Meinung, dass es besser für uns ist, unsere Nahrung selbst zu produzieren. Jeder, der das Essen, das von außerhalb unseres Reservates kommt, mag, kann ja in die Stadt gehen und selbst sehen, wie das Leben dort wirklich ist.

Real News Network: Welche Politik sollte die brasilianische Regierung verfolgen?

Hiparidi Top’Tiro: Wir verlangen, dass die Regierung die indigenen Völker und unsere Rechte als Staatsbürger respektiert. Wir haben ja Garantien für die indigenen Rechte in der Verfassung von 1988 errungen. Zweitens wollen wir, dass die politischen Vertreter wirksamere Programme ins Leben ruft, um unsere Kulturen abzusichern, und ganz besonders, um unser Land zu demarkieren. Außerdem wollen wir, dass die Regierung Umweltgesetze verabschiedet, die alle Ökosysteme des Landes gleichwertig schützen. Auch wenn der Amazonas die „Lunge der Welt“ ist, müssen alle Ökosysteme gleichbehandelt werden. Wir möchten außerdem, dass die Brasilianer und die brasilianische Regierung wissen und stolz darauf sind, dass es 220 eigenständige indigene Völker in Brasilien gibt, und dass von ihnen 180 unterschiedliche Sprachen gesprochen werden. Wo sonst in der Welt gibt es solch einen Reichtum, solch eine Vielfalt?

Real News Network: Sie fordern die Regierung ebenfalls auf, auf den Bau von sechs großen Wasserkraftwerken zu verzichten und den Schiffsfrachtverkehr auf den großen Flüssen einzustellen. Das bedeutet ja dann, dass sich das Agrobusiness, das die Energie der Kraftwerke und die Flüsse als Wasserstraßen nutzt, einschränken müsste.

Hiparidi Top’Tiro: So sagt es die brasilianische Regierung. In der Tat hat man in der Ära Lula 4) behauptet, dass indigene Völker ein Hindernis für die nationale Entwicklung seien. Die gegenwärtige PT-Regierung der Arbeiterpartei PT [„Partido dos Trabalhadores“, d. Ü.] sagt das auch, aber wir glauben nicht, dass das stimmt. Wir sagen, dass wir Rechte haben als Bürger und als indigene Völker. Unsere Rechte werden in mehreren Gesetzen und in Artikel 231 der Verfassung von 1988 abgesichert. Der Staat kann uns nicht einfach verschlingen, und das nur für die Entwicklung. Ganz besonders wenn diese Entwicklung nicht für alle ist, sondern nur für eine Minderheit. Wir sind auch noch hier. Und es gibt viele von uns, die ebenfalls profitieren sollten: indigene Völker, die Gemeinschaften der ehemaligen Sklaven, die Bewegungen der Afro-Brasilianer, Landlose. Ich weiß, dass in unserem Land die Minderheit, die nur Geld machen will, schlecht über uns redet. Wir stimmen dem, was sie sagen, nicht zu. Es wäre hilfreich, wenn Menschen in anderen Ländern wie hier in den USA von unserem Kampf erfahren und unsere Projekte unterstützen würden, mit denen wir den Cerrado und seine Bewohner verteidigen.


* Übersetzt aus dem Englischen von Yvonne Bangert
Das Interview finden Sie als Videoaufzeichnung auf
Portugiesisch mit englischen Untertiteln unter:
www.intercontinentalcry.org/protecting-amazonincludes-
defending-indigenous-rights


1) Anm. d. Red.: Der Cerrado ist eine Savannenlandschaft in Zentralbrasilien. Die Caatinga ist eines der größten Trockenwaldgebiete in Südamerika und das Pantanal eines der größten Binnenfeuchtgebiete der Erde.

2) Anm. d. Red.: Quilombolas sind Nachkommen entflohener afrikanischer Sklaven, die eine eigene Kultur entwickelt haben.

3) Anm. d. Red. Mit dem „Marsch nach Westen“ kündigte Präsident Getúlio Vargas 1938 an, große Gebiete im Landesinneren für die Landwirtschaft erschließen zu wollen. Getúlio Vargas regierte Brasilien als Diktator von 1930 bis 1945 sowie als gewählter Präsident von 1950 bis 1954.

4) Anm. d. Red.: Luiz Inácio Lula da Silva war von 2003 bis 2011 Präsident Brasiliens.


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