Ohne Ausweis keine Bürgerrechte


Staatenlose Vietnamesen in Kambodscha

© Noémie Weill

Seit mehreren Generationen leben Vietnamesen als Fischer in Kambodscha. Zwischen 300.000 und 500.000 wohnen auf Hausbooten auf dem gleichnamigen Fluss und See Tonle Sap. Bis heute verwehrt ihnen die kambodschanische Regierung das Recht auf Einbürgerung, obwohl das Nationalitätengesetz diese Möglichkeit für im Land geborene Ausländer vorsieht. Da auch vietnamesische Behörden diesen Vietnamesen keine Ausweisdokumente ausstellen, gelten sie als staatenlos. Ohne Papiere fehlt ihnen jedoch jegliche Perspektive, ihre ärmlichen Lebensbedingungen zu verbessern, ihre Kinder zur Schule zu schicken oder sich frei im Land zu bewegen.

von Judith Kunze

„Wir fühlen uns als Kambodschaner. Unsere Eltern und Großeltern sind doch schon hier geboren“, sagt die 46-jährige Tin Thi Nguyen. So wie sie denken die meisten der rund 5.000 Vietnamesen in der Gemeinde Phsar Chhnang in der Provinz Kampong Chhnang. Doch ihr rechtlicher Status weist sie lediglich als Immigranten aus. Damit bleiben ihnen wichtige Rechte vorenthalten. „Wir wohnen auf Booten“, erklart Thi Tin, „weil wir kein Land kaufen dürfen. In der Regenzeit oder bei starkem Wind ist das besonders für die kleinen Kinder sehr gefährlich. Das Leben auf dem Land wäre viel sicherer. Außerdem konnten wir dort zusätzlich etwas Reis und Gemüse anbauen.“ Die meisten Vietnamesen auf dem Tonle Sap leben vom Fischfang. Manche betreiben eine Reparaturwerkstatt für Boote oder sie verkaufen von schmalen Holzbooten aus Gemüse, Haushaltswaren oder gekühlte Getränke. Der kommerzielle Fischfang ließ jedoch den Fischbestand des Tonle Sap in den vergangenen Jahren stark schrumpfen. Die Familien kommen kaum über die Runden und leben von der Hand in den Mund.

Besonders schwierig wird es außerhalb der offiziellen Fangsaison von Juni bis Oktober, wenn die Fischer ihre Netze nur in unmittelbarer Nähe der Hausboote auswerfen dürfen. Werden sie von der Polizei außerhalb dieser Zonen erwischt, müssen sie Schmiergelder bezahlen, um weiteren Strafen zu entgehen. Wenn sie das Geld nicht aufbringen können, werden ihre Bootsmotoren oder Fischernetze konfisziert. Die Vietnamesen bekommen jedes Jahr neue Papiere, die sie als Immigranten ausweisen. Dafür verlangt die Polizei in Phsar Chhnang Gebühren zwischen 20.000 und 30.000 Riel (umgerechnet 3,50 und 5,50 Euro); ein neuer Ausweis kostet gar das Doppelte. Viele Vietnamesen sind frustriert, dass Polizeibeamte und Mitarbeiter von Behörden ihnen Geld abpressen, obwohl sie kaum von ihren geringen Einkünften leben können. Doch aus Angst, nach Vietnam ausgewiesen zu werden, zahlen sie die Beträge.

Besorgniserregend ist die Situation besonders für die junge Generation. Obwohl Kambodscha laut der Milleniumsziele bis zum Jahr 2015 allen Kindern eine Schulbildung bis zum 9. Schuljahr ermöglichen soll, wird den vietnamesischen Kindern dieses Recht verwehrt. Denn für den Schulbesuch muss eine Geburtsurkunde vorgelegt werden. Die Behörden in Kampong Chhnang stellen solche Urkunden für vietnamesische Kinder jedoch nicht aus, weil die Nationalität angegeben werden muss. Da das Innenministerium keine Vorgaben hierzu macht, wissen die lokalen Verwaltungen nicht, wie sie mit den Vietnamesen verfahren sollen. Da die Vietnamesen aus Phsar Chhnang für ärztliche Behandlung häufig höhere Gebühren als die Mehrheitsbevölkerung zahlen müssen, sich diese aber nicht leisten können, bringen die Frauen ihre Babys häufig auf den Hausbooten zur Welt. So haben sie nicht einmal den Brief des Krankenhauses, der die Geburt dokumentiert. In Einzelfällen stellt der Gemeindevorsteher von Phsar Chhnang zwar auf Drängen der Eltern und gegen Zahlung eine Bestätigung über die Geburt aus, doch diesem Dokument fehlt die Rechtskraft einer offiziellen Urkunde. So bleibt die staatliche Dorfschule Kindern aus Khmer-Familien vorbehalten, die ebenfalls in den Dörfern der Gemeinde leben. Die Hälfte der vietnamesischen Kinder geht – wenn sie nicht zu Hause beim Fischen mithelfen müssen – auf eine der drei privaten vietnamesischen Grundschulen in der Gemeinde. Dort lernen sie jedoch nur Vietnamesisch. Ärmere Familien können sich selbst die rund 500 Riel (knapp zehn Cent), die der Schulbesuch und die Bootsfahrt zur Schule kosten, nicht leisten.

„Uns hat nie jemand darüber informiert, dass wir eine Geburtsurkunde für unsere neugeborenen Kinder brauchen“, bestätigt Thi Tin. Sie wusste nicht, dass dieses Dokument so wichtig ist, um die Staatenlosigkeit ihrer drei Kinder zu beenden und ihnen künftig bessere Lebensbedingungen zu verschaffen. „Das Nationalitätengesetz weist zahlreiche schwammige Formulierungen auf “, erklärt Butmao Sourn von der kambodschanischen Organisation Minority Rights Organization („Organisation für Minderheitenrechte“), die sich für die Rechte der Staatenlosen einsetzt. „Kinder legal in Kambodscha lebender Ausländer haben ein Recht auf die kambodschanische Staatsangehörigkeit. Jedoch ist nicht geregelt, welche Papiere einen solchen Status belegen. Besonders für die Kinder hat das dramatische Konsequenzen. Solange unklar ist, ob die Eltern etwa durch Familienbücher oder Nachweise über den Wohnsitz ausreichend legitimiert sind, werden keine Geburtsurkunden für Neugeborene ausgefertigt. Hier muss endlich Klarheit geschaffen werden. Die Ministerien müssen die Gesetze verbessern, um eine Staatsangehörigkeit qua Geburt oder per Einbürgerung zu ermöglichen.“ Eine Geburtsurkunde ist nicht nur Voraussetzung für den Schulbesuch, auch die meisten Arbeitgeber verlangen sie bei der Einstellung. Vor allem aber muss sie vorliegen, wenn ein Personalausweis beantragt wird, der die Staatsangehörigkeit ausweist.

Nicht nur die Willkür der Behörden spielt eine Rolle im Umgang mit den Vietnamesen, auch die politischen Machtverhältnisse haben darauf großen Einfluss. Keine 20 Kilometer von der berühmten Tempelanlage von Angkor Wat entfernt, haben etwa 235 vietnamesische Familien, die hier auf dem Tonle Sap See in Chong Khneas in der Provinz Siem Reap leben, nicht einmal Ausweise, die sie als Immigranten legitimieren. Der Gemeindevorsteher bemüht sich schon seit Jahren um offizielle Papiere für die vietnamesischen Bewohner. Für ihn stehen jedoch nicht die Probleme, die sich aus der Staatenlosigkeit ergeben, im Vordergrund, sondern ganz praktische Argumente: Verwaltung und Kontrolle wären wesentlich einfacher, wenn alle einen Ausweis hatten. Doch die Provinzverwaltung vertröstet ihn immer wieder.

Auf den Wahlerlisten jedoch tauchen bis zu 600 Vietnamesen aus Chong Khneas auf. Sie konnten an der Parlamentswahl vom Juli 2013 teilnehmen. Das ist dem Einfluss der Regierungspartei Cambodian People’s Party geschuldet, die ein enges Verhältnis zur vietnamesischen Regierung hat und sich gern auch mit den Stimmen von den Vietnamesen im eigenen Land wählen lässt. Hingegen schüren führende Politiker der Oppositionspartei Cambodian National Rescue Party die Stimmung gegen die Vietnamesen im Land. Sie beschuldigen die Regierung, die Zahl illegaler Arbeitsmigranten aus dem Nachbarland, die in Kambodscha schnelles Geld machen wollen, nur ungenügend zu beschränken. Die Oppositionspolitiker unterlassen jedoch eine Unterscheidung zu den Vietnamesen, die seit hunderten Jahren in Kambodscha beheimatet sind und hier ohne Rechte leben. Die Stimmung gegen Menschen vietnamesischer Herkunft wird so noch mehr aufgeheizt. Sie sehen sich in Kambodscha immer wieder verbalen und sogar tätlichen Angriffen ausgesetzt.

Die Vietnamesen in Chong Khneas und Phsar Chhnang beobachten besorgt die rassistischen Anfeindungen und Gewalttätigkeiten in der Hauptstadt Phnom Penh. Wenn sich der Ton weiter verschärfen sollte, fürchten sie, selbst die Feindlichkeit der Khmer zu spüren zu bekommen oder sogar nach Vietnam abgeschoben zu werden.

Die Älteren erinnern sich noch gut an das Jahr 1975, als die radikal-kommunistischen Roten Khmer bis zu 170.000 von ihnen nach Vietnam deportierten. Zehntausende Vietnamesen kamen dabei ums Leben. 1) Hochrangige Rote Khmer stehen heute vor dem Tribunal der Vereinten Nationen in Phnom Penh, auch wegen des Volkermords an der vietnamesischen Minderheit. Trotz dieser schrecklichen Erfahrungen kamen die meisten vertriebenen Vietnamesen nach Kambodscha zurück – denn hier fühlen sie sich zu Hause. In Phsar Chhnang leben Vietnamesen, Khmer und muslimische Cham friedlich zusammen. „Wir besuchen uns gegenseitig an Feiertagen und zu Hochzeiten oder Trauerfeiern“, erzählt Thi Tin. Sie wünscht sich, dass die Kinder aller ethnischen Gruppen im Dorf eines Tages gemeinsam zur Schule gehen können.


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