Editorial

Foto: privat

Liebe Leserinnen und Leser,

Ruslan Kutajew, bekannter tschetschenischer Bürgerrechtler, muss für vier Jahre ins Gefängnis. Sein Vergehen: Er hatte am 70. Jahrestag der Deportation der Tschetschenen und Inguschen 1944, am 23. Februar 2014, eine Konferenz in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny organisiert. Das gefiel Machthaber Ramzan Kadyrow ganz und gar nicht. Dieser ließ das Mahnmal an die Deportation abbauen und den Gedenktag abschaffen. Der Film „Befehl zum Vergessen“, der sich ebenfalls mit der Deportation der Tschetschenen und Inguschen auseinandersetzt, wurde vom russischen Kulturministerium verboten. „Haytarma“, ein Film über die Deportation der Krimtataren, löste gar eine diplomatische Krise zwischen Russland und der Ukraine noch vor den aktuellen Auseinandersetzungen aus. Der damals zuständige russische Botschafter in der Ukraine kritisierte den Film und gab – wie zu Stalins Zeiten – „Kollaboration“ der Krimtataren mit der deutschen Wehrmacht als Grund für die Deportation an. Über Stalins Verbrechen – die Deportation ganzer Volker der Sowjetunion, von den Koreanern im Fernen Osten über die Volker des Nordkaukasus, die Krimtataren und Russlanddeutschen bis zu den Kalmücken – wird bis heute weder offen gesprochen noch geforscht. Im Gegenteil, man muss sich fragen, ob Stalin wieder salonfähig in Russland wird. In Wolgograd sollen die Bürger darüber abstimmen, ob ihre Stadt nicht wieder „Stalingrad“ heißen soll. Dieses Vorhaben wird selbst von Präsident Wladimir Putin unterstützt.

Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 stagniert die Aufarbeitung der von Stalin befohlenen unfassbaren Verbrechen. Während und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hofften die Angehörigen der deportierten Völker, dass nun angemessen auf die Folgen der Verbannung reagiert werde. Archive wurden geöffnet und mehrere Bücher zu diesem Thema veröffentlicht. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial hat sich insbesondere um die Aufarbeitung verdient gemacht. Doch das Engagement der Organisation wird immer schwieriger und gefährlicher.

Erst im Juli 2014 wurde Memorial als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt. Das bedeutet etwa, dass die NGO auf diesen Status in all ihren Veröffentlichungen hinweisen muss. Es ist politische Schikane – auch für heutige Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Russland –, die Arbeit der so wichtigen zivilgesellschaftlichen Bewegung zu diskreditieren. Russische Politiker und die vom Kreml kontrollierten Medien sprechen gar von einer „fünften Kolonne“ und von „inneren Feinden“, die Russland schaden wurden. Diese Rhetorik ist gefährlich und erinnert an Sowjetzeiten. Gerade weil jedoch die Folgen der kollektiven Deportationen immer noch fortwirken und bis heute zu schweren Konflikten und Kriegen führen, etwa in den nordkaukasischen Republiken, ist eine Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen dringender denn je. Doch dafür braucht es den politischen Willen.


Ihre Sarah Reinke

GfbV-Referentin für Osteuropa
und GUS und Leiterin
des Berliner GfbV-Büros


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