Die Kinderfänger von South Dakota

Kindesentzug bei den Lakota in den USA

Hamner_Fotos/Flickr

von Julia Poschkamp

Erstaunlich wenig hört und liest man in den internationalen Medien über das, was momentan im US-amerikanischen Bundesstaat South Dakota geschieht. Was in den 1880er Jahren als Teil einer Regierungspolitik der Zwangsassimilation begann, erfahrt heute einen neuen erschreckenden Höhepunkt. Damals riss die Regierung indianische Kinder aus ihren Familien und schickte sie in Internate, in denen sie zu „Weisen“ umerzogen werden sollten. Zu dieser Zeit wurden bis zu 16 Mal mehr indianische Kinder zur Adoption freigegeben als nicht-indianische. Als Reaktion auf diesen staatlich unterstützen Versuch, die indianische Kultur auszulöschen, wurde 1978 nach großem öffentlichem Protest der „Indian Child Welfare Act“ (ICWA) verabschiedet. Dieses Bundesgesetz soll indianische Kinder davor schützen, zu Unrecht aus ihren Familien genommen und in nicht-indianische Pflegefamilien oder Heime gesteckt zu werden. Stattdessen sollen die Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen 1) angeblich nicht bei ihren Eltern bleiben können, möglichst bei Familienangehörigen – in den meisten Fällen bei den Großmüttern – oder in von den Indianern organisierten und betreuten Einrichtungen im Reservat unterkommen. Werden die Kinder zunächst in staatliche Obhut gegeben, so verfügt der ICWA, muss sich der jeweilige Bundesstaat bemühen, indianische Pflegekinder wieder mit ihren Großfamilien zu vereinen. Diese Regelung trägt dem indianischen Verständnis von Familie und Gemeinschaft Rechnung, denn die Großfamilie und der Stammesverband spielen bei der Erziehung eines Kindes eine große Rolle. So ist es nur natürlich, dass Familienangehörige oder andere Stammesmitglieder einspringen, wenn die Eltern nicht mehr in der Lage sind, sich angemessen um ihre Kinder zu kümmern.

Doch das scheint South Dakota zu ignorieren: Heute werden dort indianische Kinder immer noch zehn Mal öfter zur Adoption freigegeben als nicht-indianische. 90 Prozent werden in die Obhut von nicht-indianischen Pflegefamilien oder staatlichen Institutionen gegeben. Die Lakota in South Dakota empören sich seit Jahren über die Adoptionspolitik des Bundesstaates und fordern, dass die im ICWA vereinbarten Regelungen eingehalten werden. Auch die in South Dakota lebenden Dakota und Nakota werden nicht verschont. Allein den Sisseton, einer Stammesgruppe der Dakota, war es möglich, ein eigenes Kinderpflegeprogramm im Reservat Lake Traverse ins Leben zu rufen. Obwohl die einzelnen Fälle durchaus mit denen in den acht anderen Reservaten in South Dakota vergleichbar sind, gelingt es den Sisseton als einzige, 98 Prozent der Pflegekinder in andere indianische Familien oder zu Verwandten zu vermitteln.

Doch dieses Vorzeigeprojekt und der ICWA tauschen nicht über die desolate Situation bei den anderen Indianern South Dakotas hinweg: Innerhalb des vergangenen Jahrzehnts hat der Bundesstaat mehr als 5.000 indianische Kinder aus ihren Familien gerissen. Neueste Erhebungen sprechen gar von bis zu 750 Kindern pro Jahr. Damit sind mehr als die Hälfte aller Kinder im staatlichen Pflegeprogramm indianisch – obwohl indianische Kinder nur rund 13 Prozent aller Heranwachsenden in South Dakota ausmachen. Da liegt es nahe, von einer vermeintlich systematischen Entziehung indianischer Kinder aus ihren Familien und Stammesgemeinschaften auszugehen. Die Lakota sprechen von einer „neuen Epidemie-Welle“, „Entführung“ und „kulturellem Genozid“. Das Lakota People’s Law Project hat deshalb 2005 das Lakota Child Rescue Project ins Leben gerufen, um gegen den staatlichen Kindesentzug zu kämpfen. Die Initiatoren weisen darauf hin, dass durch dieses Vorgehen sowohl das Grundrecht auf ein ordentliches Verfahren als auch der ICWA regelmäßig verletzt werden. Eltern erhalten keine ordnungsgemäßen Anhörungen, Sozialarbeiter nehmen Kinder aus ihren Familien – oft geschieht dies in der Schule oder auf dem Weg von der Schule nach Hause, ohne bei den Eltern Rechenschaft abzulegen oder diese gar zeitnah zu informieren. Sie verweigern den Eltern den Kontakt zu ihren Kindern und bringen diese bei weißen Pflegeeltern unter, obwohl es auch indianische Pflegefamilien gegeben hätte.

Die Folgen sind für die Kinder verheerend. Der abrupte Bruch mit der Familie, dem Stamm und ihrer Kultur hinterlässt seine Spuren in ihren Herzen und Köpfen. Einige indianische Kinder in staatlicher Obhut begehen sogar Selbstmord. Der Lakota Diante beispielsweise wurde im Alter von fünf Jahren seiner Mutter entzogen. Erst als er zwölf Jahre alt war, kam er zu ihr zurück. Bis dahin versuchte er zwei Mal, sich das Leben zu nehmen. Insgesamt ist die Selbstmordrate bei Lakota-Kindern und -Jugendlichen zwölf Mal hoher als der amerikanische Durchschnitt und zählt zu den höchsten der Welt. Selbst wenn die Kinder wieder in die Obhut ihrer leiblichen Eltern gegeben werden, bleiben die traumatischen Erfahrungen weiterhin spürbar: Viele Kinder leiden unter Trennungsangst, sind depressiv oder zeigen selbstzerstörerisches Verhalten. Indianische Kinder, die in staatlichen oder privaten Betreuungseinrichtungen sowie bei nicht-indianischen Pflege- oder Adoptiveltern bis zur Volljährigkeit bleiben, haben noch mehr mit den Folgen zu kämpfen: Mehr als 60 Prozent von ihnen sind mit 20 Jahren entweder obdachlos, im Gefängnis oder tot.

Ein weiterer Grund für diese Traumatisierung indianischer Kinder in staatlicher Obhut ist die gängige Praxis, ihnen Psychopharmaka zu verabreichen. Dies geschieht meist ohne Einwilligung der Eltern und gegen den Willen der Kinder. 2009 hat South Dakota beinahe elf Mal so viel Geld für verschreibungspflichtige Medikamente für indianische Pflegekinder ausgegeben wie 1999. Die Anzahl der Rezepte für indianische Pflegekinder hat sich in diesen zehn Jahren mehr als verdreifacht. Bis heute gibt es weder eine einheitliche Regelung für die Verabreichung noch Kontrollinstanzen. Der Bundesstaat South Dakota hat bestätigt, Psychopharmaka verabreicht sowie allen indianischen Kindern, die sich in einem Pflegeprogramm befinden, „spezielle Bedürfnisse“ zugewiesen zu haben, die die Vergabe hoch dosierter Medikamente rechtfertigen. Viele Kinder berichten zudem, dass sie von weißen Pflegeeltern misshandelt werden. So haben Richard und Gwendolyn Mette 1999 sieben Lakota-Pflegekinder aufgenommen und sie später adoptiert. Bereits 2001 sprachen zwei Kinder von körperlichem und sexuellem Missbrauch in der Familie. Die anderen Kinder berichteten in den kommenden Jahren von ähnlichen Vorfällen.Dennoch blieb der Bundesstaat untätig. Erst 2010 wurde das Ehepaar verhaftet und 2011 verurteilt. Natürlich laufen auch nichtindianische Pflegekinder Gefahr, „in die falschen Hände“ zu geraten, doch werfen die Lakota dem Staat South Dakota in diesem Fall Vertuschung und Untätigkeit vor.

Die Hintergründe und die Motivation für die Adoptionspolitik des Staates lassen sich nur schwer durchschauen. Klar scheint jedoch, dass unterschiedliche Auffassungen von Familie, Gemeinschaft und familiärer Obhut einen großen Beitrag zum Problem des Kindesentzugs leisten. Schätzungen zufolge landen in mehr als 75 Prozent der Falle indianische Kinder in Pflegeprogrammen, weil eine kulturelle Diskrepanz im Verständnis von „Vernachlässigung“ vorliegt. Viele Sozialarbeiter sind überzeugt, dass sie zum Wohle des Kindes handeln, wenn sie es aus seiner vermeintlich in Armut lebenden indianischen Familie holen. Die Indianer selbst weisen jedoch darauf hin, dass diese Praxis nicht die Lebenswirklichkeiten im Reservat und die kulturell bedingte unterschiedliche Erziehung ihrer Kinder berücksichtigt. Armut kann eben nicht automatisch mit Vernachlässigung gleichgesetzt werden. Dies spiegelt sich auch in den Problemen der Verwandten, insbesondere der Großmütter wider, die versuchen, das Sorgerecht für ihre Enkel zu erhalten. Oft wird ihnen gesagt, dass sie ihre Enkel adoptieren müssen, um für sie sorgen zu können. In jedem Fall aber – auch für das sogenannte Notfallsorgerecht, nach dem die Kinder nach Klärung der Umstände oft in relativ kurzer Zeit wieder zu ihren Eltern zurückkehren sollen – benötigen sie eine Pflegelizenz, für deren Erhalt sie Pflegekurse belegen und Prüfungen ablegen müssen. Auch dann noch wird ihnen das Sorgerecht oftmals verweigert, mit so banal anmutenden Begründungen wie ihr Haus sei zu klein oder habe zu wenige Zimmer, oder es gebe nicht genügend technische Gerate im Haus. Gibt es an der Wohnsituation nichts auszusetzen, so werden die Großeltern als zu alt eingestuft oder es werden Jahrzehnte zurückliegende Straftaten als Begründung herangezogen. Bei Großeltern wie bei Eltern reichen Gerüchte aus, um ihnen das Sorgerecht zu verweigern. Ein weiterer möglicher Grund, der immer wieder im Gespräch ist, ist finanzieller Art. Für jedes indianische Kind in staatlicher Obhut erhält South Dakota jährlich Bundesmittel in Höhe von durchschnittlich 72.000 Dollar. Durch den Zusatz „mit speziellen Bedürfnissen“ sind das pro Kind bis zu 6.000 Dollar mehr im Jahr als bei anderen Pflegekindern. Insgesamt erhält South Dakota staatliche Zuwendungen in Höhe von 100 Millionen Dollar pro Jahr.

Nun droht also eine neue Generation ihre indianischen Wurzeln zu verlieren. Der kulturelle Genozid, der durch die Assimilationspolitik in den 1880er Jahren begann, wird trotz des ICWA in nur leicht abgewandelter Form illegal weitergeführt. Das Lakota Child Rescue Project sammelt seit einigen Jahren Spenden, um Recherchen und Gerichtsverfahren zu finanzieren. Die Initiative kämpft gerichtlich dafür, mehr als 2.200 Kinder der Lakota, Dakota und Nakota wieder in ihre Familien oder bei indianischen Pflegefamilien einzugliedern. Außerdem sollen Verwandte, die die Pflege eines oder mehrerer Kinder übernehmen, die gleiche finanzielle Unterstutzung erhalten wie nicht-indianische Pflegefamilien. Doch auch Aufklärungsarbeit ist von Nöten: So reist etwa die Lakota- Aktivistin Madonna Thunder Hawk seit Jahren durch South Dakota, um indianische Großmütter über ihre Rechte in Sorgerechtsfragen aufzuklären. Die Lakota, Dakota und Nakota in South Dakota benötigen weitere Unterstützung, damit der Kampf um ihre eigenen Kinder und damit um die Zukunft ihrer Kultur nicht zum Kampf gegen Windmühlen wird.


pogrom im Online-Shop der GfbV bestellen.

 

Lesen Sie weiter