Syrien

Eine Reise im Schatten der Islamisten

Foto: Kinder im Flüchtlingslager Kaferjaneh. © Sermin Faki

 

Von Dr. Rassoul Faki

Woher bekommen wir Medikamente und wie bringen wir diese über die türkisch-syrische Grenze? Diese Fragen stellte ich mir bereits vor zwei Jahren, als abzusehen war, dass der Bürgerkrieg kein rasches Ende finden würde. Mit Kollegen gründete ich die Initiative der syrisch-kurdischen Ärzte. Mit Hilfe des Fördervereins der Gesellschaft für bedrohte Völker konnten wir ein Spendenkonto einrichten und Gelder für die dringend benötigten Medikamente sammeln. Doch die Reise nach Syrien im Herbst 2013, um die Hilfslieferung dorthin zu bringen, wurde zum Abenteuer: Die Grenze war eigentlich dicht. Eine Journalistin aus der Schweiz begleitete mich auf dieser abenteuerlichen Reise in den Norden von Syrien, der relativ sicher ist, weil kurdische Sicherheitskräfte dort sehr präsent sind. Doch Islamisten treiben auch hier zunehmend ihr Unwesen.

Die Hilfslieferung nach Syrien würde kein Spaziergang werden, denn die offiziellen Wege werden entweder durch türkische Behörden oder Islamisten blockiert. Das Auswärtige Amt konnte uns auch nicht weiterhelfen, sodass wir uns gezwungen sahen, die sogenannte „grüne“, türkisch-syrische Grenze illegal zu passieren. Wir informierten nur wenige Menschen über unsere Reise, um uns nicht unnötig in Gefahr zu bringen. In der Türkei angekommen, holten wir die bestellten Medikamente und die Babymilch ab und luden alles in einen kleinen LKW. Nun fuhren wir Richtung Grenze. Bekannte Kontaktleute rieten uns jedoch, die Güter zunächst an einem sicheren Ort in der Türkei zu deponieren. Man werde in den kommenden Tagen, sobald sich die Lage in der Region beruhigt hatte, die Hilfsmittel über die Grenze bringen. Wir hielten den Vorschlag auch für die beste Losung und machten uns im Schutz der Nacht zunächst ohne die dringend benötigten Waren auf den Weg. Mit einem Jeep fuhren wir über unwegsames Gelände und durch Olivenhaine. Auf syrischer Seite sollten wir von Freunden abgeholt werden, so der Plan. Das Auto stoppte und wir gingen zu Fuß weiter. Ich sah drei Gestalten und dachte, es seien die erwähnten Freunde. Doch es waren türkische Grenzer in Ziviluniformen. Unser Begleiter rief uns auf Kurdisch „Ware, ware!“, also „Komm, komm!“, zu. Die Grenzbeamten sagten leise auf Kurdisch: „Hare, hare“, „Geh, geh“. Nachdem wir den Stacheldrahtzaun heruntergetreten hatten, waren wir endlich auf syrischem Boden. Ein Kommandant der kurdischen Selbstverwaltung empfing uns am Grenzwachhaus. Er hatte einen ernsten, freundlichen Blick, sonnengebräunte Haut, schwarze Augen und tiefschwarzes Haar, eine Pistole im Hosenbund und ein Maschinengewehr zwischen den Knien. Ein junger Mann – Typ Draufgänger und alles andere als nüchtern – brachte uns dann nach Afrin.

Wir passierten Straßensperren und –kontrollen. Doch unser Begleiter, der kurdische Kommandant, war in der Gegend bekannt, sodass wir problemlos durchkamen. Endlich angekommen, erholten wir uns im Hauptquartier der Asayes – der Sicherheitspolizei der kurdischen Selbstverwaltung – von den Strapazen der vergangenen Stunden. Der Kommandant verabschiedete sich und versprach, in den kommenden Tagen unsere Hilfsmittel nach Afrin zu bringen. Vor dem Krieg hatte Afrin 440.000 Einwohner. Momentan sind es mindestens doppelt so viele. Manche Leute reden gar von einer Million Flüchtlingen, unter ihnen Kurden, Araber, Armenier, Turkmenen und religiöse Minderheiten. Viele kommen bei Verwandten unter. Andere werden in Schulen oder Sporthallen untergebracht. Die lokalen Politiker bemühen sich nach Leibeskräften, dass die Flüchtlinge in menschenwürdigen Unterkünften leben können. Wir wollten uns einen Überblick über die Lage der Menschen verschaffen und Krankenhäuser, Hilfsorganisationen und Flüchtlingslager besuchen. Weiterhin war ein Treffen mit der Stadtverwaltung geplant und der Besuch des Hohen kurdischen Rates, in dem die meisten kurdischen Parteien vertreten sind. Unsere Unterkunft befand sich in einem mehrstockigen Gebäude. Ein etwa 16-jähriges Madchen öffnete uns die Tür und zeigte uns mit einer Taschenlampe – in der Gegend gab es seit Monaten keinen Strom – unsere Schlafplätze: zwei Matratzen mit leichten Decken. Am nächsten Morgen lernten wir unsere Gastgeber kennen – eine syrisch-kurdische Familie, die viele Jahre in Deutschland gelebt hat und wieder in die Heimat zurückgekehrt ist. Die Frau erzählte uns im Vertrauen, dass sie deutsche Staatsbürger seien, die Kinder in Deutschland geboren wurden und sie eigentlich gern wieder dorthin zurück gehen wurden. Wir stärkten uns mit Kaffee und orientalischen Süßigkeiten und besuchten ein Krankenhaus, dessen Direktor ich noch aus alten Zeiten gut kenne: Er staunte über den Zweck unserer Reise. Er meinte, dass die Menschen das Land doch eher verlassen wurden, wir jedoch den umgekehrten Weg gewählt hatten. Nun wollten wir meine Familie im Dorf Schirkanli besuchen. Eine Schwester und einige Verwandte leben noch dort. Mein Bruder, eine andere Schwester und deren Familien haben in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Beirut im Libanon Zuflucht gefunden. Entlang der Straßen entdeckten wir mobile Tankstellen, die Treibstoff in Literflaschen verkauften – illegal eingeschleustes Öl werde am Straßenrand verkauft, in der Regel gepanscht, erzählte uns der Taxifahrer. Er kam auch auf die Islamisten +zu sprechen: „Zwischen Aleppo und Afrin gibt es 26 verschiedene Gruppierungen. Und jeder kämpft gegen jeden.“ Am meisten fürchteten die Menschen die al-Nusra-Front. „Sie sind am brutalsten“, erzählte uns später eine Frau, die als Flüchtling in meinem Heimatdorf lebt. Der Weg von und nach Aleppo sei gefährlich. Auf der Flucht „versperrte uns eine Gruppe Manner den Weg. Sie feierten, dass
sie jemanden hingerichtet hatten“, sagt sie. Die Leiche des Mannes habe noch am Straßenrand gelegen. „Unser Bus wurde angehalten, ein Mann stieg ein und fragte, wer Kurde sei. Er drohte uns: ,Der Tag wird kommen, an dem wir euch alle abschlachten!’“, erzählte die junge Frau weiter, der die Angst noch immer im Gesicht geschrieben stand.

Bei unserer Weiterreise durch den Nordwesten Syriens half uns ein hoher Verwaltungsbeamter, der uns ein Empfehlungsschreiben ausstellte, sodass wir uns frei bewegen konnten. Auch er klagte über die zunehmende Präsens der Islamisten: Immer mehr radikale Muslime wurden versuchen, Häuser in Afrin und in der Umgebung zu erwerben. „So wollen sie sich bei uns einnisten“, sagte er.

Am nächsten Morgen besuchten wir ein weiteres Krankenhaus. Trotz der schwierigen Lage ist es dem Hospital möglich, mittellose Kranke sehr günstig oder sogar umsonst zu behandeln. Doch es fehlt an Personal und Medikamenten, um die Patienten angemessen medizinisch versorgen zu können. Strom gibt es nur über dieselbetriebene Generatoren, die jedoch mehrmals am Tag ausfallen. Manchmal kommen Spenden aus Europa an. Doch diese seien oft nicht zu gebrauchen, da die Packungen halb aufgebraucht oder die Medikamente abgelaufen seien, berichtete uns ein Arzt. Wir versprachen, einen Teil der Hilfslieferungen an das hiesige Krankenhaus schicken zu lassen.

Auf unserer Reise trafen wir immer wieder auf kurdische Sicherheitskräfte. Schon allein durch ihre Anwesenheit fühlen sich die Menschen sicherer. Dieser Eindruck verstärkte sich in der Stadt Jenderes im Südwesten von Afrin. Der Krieg scheint hierfern zu sein: Die Menschen gehen wie gewöhnlich ihrer täglichen Arbeit nach; in den Geschäften lagern viele Waren. Doch Obst und Gemüse, aber auch Kleidung und andere Güter, sind teuer. So kostet Zucker zehn Mal mehr als im Jahr zuvor. Alles, was nicht lokal produziert wird, wird aus der Türkei über die Grenze geschmuggelt. „Es gibt alles, aber wir können es uns nicht leisten“, klagte Azad, der uns von Anfang an begleitete. Die Menschen können nur das essen, was die Bauern in der Region produzieren: Obst, Gemüse, Oliven, Joghurt, Brot. Glücklich kann sich derjenige schatzen, der einen Garten besitzt.

Andere haben weniger Gluck. Zum großen Teil sind ganze Dörfer zerstört, beschossen von Rebellen, Islamisten und Truppen des Assad-Regimes im Kampf um Stützpunkte. „Unser Dorf wurde am 22. Juli um 16 Uhr angegriffen und dem Erdboden gleichgemacht“, erzählte man uns. Wer konnte, habe seine Kinder gepackt und sei weg. „Manche haben es wohl nicht geschafft. Wir wissen nicht, ob sie noch leben.“

Die Kinder leiden besonders unter den Folgen dieses Burgerkriegs. In einem Flüchtlingslager, das wir besuchten, leben mehr als 700 Kinder. Sie langweilen sich, schlafen und raufen sich auch in unserer Anwesenheit. Ich entschied, dass hier geholfen werden muss: Etwas Sportbekleidung, einige Balle und Schreib- und Malutensilien konnten Abwechslung von diesem so tristen Alltag schaffen. Einige Kinder können nicht einschlafen, weil es hier so ruhig ist. Sie seien an die Bomben, Schüsse und die Geräusche der Kriegsfahrzeuge in Aleppo gewohnt. Hier wird es wohl noch lange dauern, bis sich die Seele der Kleinen beruhigt, und sie wieder einschlafen können.

Wir kehrten nach Afrin zurück, um dem Hohen kurdischen Rat einen Besuch abzustatten. Eine dynamische Frau mittleren Alters empfing uns, zeigte sich aber über unseren Besuch überrascht. Sie versprach uns, bis zum nächsten Morgen einige Mitglieder des Rates zusammen zu bekommen. Dies sei jedoch zurzeit sehr schwierig, da es weder Telefon- noch Internetverbindungen gebe, meinte sie. Doch ihre Kontaktversuche waren erfolgreich. Sie konnte vier Vertreter zusammentrommeln, die wir dann am nächsten Tag trafen. Wir sprachen über Lokal- und Landespolitik. Noch immer ist die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen kurdischen Parteien schwierig. Wir kamen zu dem Schluss, dass eine Koalition von allen Kräften notwendig sei, um sich gegen die Islamisten zu verteidigen und den Zusammenhalt der Kurden nicht zu zerstören.

Wir waren natürlich auch neugierig, wie Hilfsorganisationen in Afrin arbeiten. Bei einer schauten wir vorbei und begegneten dort einem arabischen Fluchtling. „Wie behandeln die Kurden die Araber?“, fragten wir ihn. „Ich habe bisher keinen Unterschied gemerkt. Meine Frau wird bald per Kaiserschnitt entbinden. Und ich muss nichts dafür zahlen. Wir werden mit dem Nötigsten versorgt. Viel ist es nicht, aber man behandelt uns gut“, antwortete er. Und immer wieder wird mir das Leid des Bürgerkriegs vor Augen geführt. Viele Flüchtlinge haben in den Wirren des Konflikts den Kontakt zu Angehörigen und Freunde verloren. Weinend blicken sie auf Fotos und fragen sich, ob sie ihre Lieben jemals wiedersehen.

Während unseres Aufenthalts in Syrien verstärkte die Türkei die Kontrollen an der syrisch-türkischen Grenze. Nach dem Einsatz von Chemiewaffen nahe Damaskus rechnete man jeden Tag mit einem US-amerikanischen Militarschlag gegen die syrischen Truppen. Deshalb konnten die Medikamente bis dato nicht durchgeschleust werden.

Am letzten Tag unserer Reise trafem wir uns mit Vertretern der kurdischen Selbstverwaltung und besprachen jene Dinge, die aus unserer Sicht verbesserungswürdig sind. Aber wichtig ist vor allem, dass die Menschen hier in relativer Sicherheit leben können.

Nun fuhren wir zurück zur Grenzstation der Asayes – genau an jene Stelle, an der wir vor einigen Tagen aufgebrochen waren. „Kommt, esst, wer weis, ob ihr noch einmal was bekommt!“, spaßte ein kurdischer Grenzer. Und so aßen wir frittierte Auberginen und Zucchini sowie Pommes und Fladenbrot. Wir mussten uns noch bis zur Abenddämmerung gedulden, um die Grenze zu passieren. Wir nahmen unser Gepäck und stiegen in ein Auto. Fahrer und Begleiter waren uns fremd, aber es musste sehr schnell gehen. Auf der Fahrt klingelte das Handy des Fahrers, der von dem Kommandanten angerufen wurde. Ich hörte, wie der Fahrer sagte: „Ab hier müssen die Leute zu Fuß weitergehen, ich lasse mein Auto doch nicht beschießen.“ Gut, dass meine Begleiterin das Gesagte nicht verstehen konnte. Dennoch wurde sie unruhig. Ich lächelte, um die Situation zu entspannen. In Begleitung eines Erwachsenen und zweier Jugendlicher, die im Tal auf uns gewartet hatten, liefen wir los. Plötzlich hörten wir Stimmen hinter uns und der uns begleitende Erwachsene deutete an, dass wir stehen bleiben sollten. Als wir uns umgedreht hatten, sahen wir zwei türkische Uniformierte auf uns zurasen. Sie durchwühlten unser Gepäck und fanden mein Stethoskop, das ich eigentlich verschenken wollte. Als der Soldat dieses entdeckte, fragte er, was das sei. Unser Begleiter antwortete:
„Das ist doch ein Arzt.“ Der andere türkische Grenzer sagte plötzlich auf Kurdisch: „Ihr braucht keine Angst zu haben.“ Dann verschwanden sie in der Dunkelheit. Als wir bereits drei Tage in Deutschland waren, wurde mir mitgeteilt, dass die Medikamente inzwischen in Afrin angekommen und gemäß unseren Wünschen an folgende Einrichtungen gerecht verteilt worden sind: an die Krankenhäuser Averin und Dirsem und an die Organisation Kurdischer Halbmond – jedoch mit der Auflage, die Medikamente nur an Bedürftige und mittellose Flüchtlinge kostenlos abzugeben. Die beschwerliche und abenteuerliche Reise hat sich gelohnt!

An dieser Stelle mochte ich mich von ganzem Herzen bei allen Spendern, Helfern, Institutionen und Personen, die mittelbar oder unmittelbar an dieser Aktion beteiligt waren, bedanken. Auch unseren Helfern vor Ort, den Transporteuren und Begleitern und den Grenzern auf beiden Seiten sei unser Dank gewiss.

Ladung der Hilfslieferung:

- Verbands- und Operationsmaterial
- Hunderte Packungen Antibiotika und Schmerzmittel
- Babymilch
- Milchpulver
- 500 Paar Kinderstiefel
- 150 Winteranoraks für Kinder

[Zum Autor]

Dr. Rassoul Faki arbeitet als Chirurg und Unfallarzt in Berlin. Der syrische Kurde wurde 1949 in Schirkanli bei Afrin geboren. 1971 kam er nach Deutschland. Von 1995 bis 2009 war er Vorsitzender des Verbandes Kurdischer Ärzte in Deutschland. Dr. Faki ist seit 1990 Mitglied der Gesellschaft für bedrohte Völker und Koordinator für Humanitäre Hilfe in Kurdistan.


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