Peru

Die "Straße des Todes" im Paradies

Foto: © Sebastian Wiese

 

Von Sebastian Wiese

Wer in Nueva Vida von der Morgensonne begrüßt wird, konnte meinen, im Paradies zu sein: Am Steilufer des Rio Cuaranja flattern Morphofalter, deren azurblaue, handtellergroße Flügel in den ersten Sonnenstrahlen blitzen. Ein Fischer klettert, einen Korb auf dem Kopf balancierend, die steile Uferböschung hinauf. Die silbernen Schuppen seines Morgenfangs schimmern durch das Korbgeflecht. Indianische Kinder mit kunstvoll bemalten Gesichtern spielen zwischen Hütten aus Palmwedeln. Über den Dorfplatz fliegt ein kreischendes Arapärchen.

Nueva Vida zählt etwa 60 indigene Einwohner und liegt in Alto Purus, einer entlegenen Regenwaldregion Perus nahe der brasilianischen Grenze. In dem Gebiet, das fast so groß wie Slowenien ist, leben weniger als 4.000 Menschen: Etwa zehn Prozent von ihnen sind meist arme Neuansiedler aus anderen Landesteilen Perus, die sogenannten Colonos; 90 Prozent sind Amahuaca, Ashaninka, Cashinahua, Culina, Mastanahua, Yine, Sharanahua und Piro. Viele Angehörige dieser indigenen Völker sind erst seit ein bis zwei Generationen sesshaft und im regelmäßigen Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft.

Selbst unser Begleiter Alfredo del Aguila Melendez hat seine Kindheit noch in der Isolation des Regenwalds verbracht. Dreißig Jahre später ist er Vorsitzender von EcoPurus, einer Indigenenorganisation zur autonomen Verwaltung der Gemeinschaftswälder der indigenen Gemeinden in Alto Purus. Das Waldgebiet ist mehr als 2,5 Millionen Hektar groß; manche sprechen gar vom größten intakten zusammenhängenden Regenwald des Amazonasbeckens.

Noch ist Alto Purus nur mit dem Flugzeug oder in einer wochenlangen Flussreise zu erreichen. Aufgrund der fehlenden Anbindung über Land haben es die Menschen schwer, ihre Erzeugnisse zu verkaufen. Auch die Waren in den kleinen Laden der „Hauptstadt“ Puerto Esperanza sind teuer. In der wenige hundert Einwohner zahlenden Siedlung kosten Benzin, Motoröl oder auch bloß eine Dose Coca Cola dreimal mehr als anderswo in Peru. Bei den Colonos wird deshalb der Ruf nach einer Straßenverbindung immer lauter. Insbesondere der Kongressabgeordnete Carlos Tubino Arias Schreiber und der italienische katholische Priester Miguel Piovesan setzen sich seit Jahren für den Bau einer 273 Kilometer langen Straße ein, die Puerto Esperanza mit der Ortschaft Inapari verbinden soll. Dieses Vorhaben würde einen der letzten, großflächig noch erhaltenen Regenwälder durchschneiden, die Heimat von zwei in freiwilliger Isolation lebenden indigenen Volkern zerstören sowie die Region – mit den vermutlichen größten verbliebenen Mahagonibeständen in Amazonien – für profithungrige Holzunternehmen und Goldsucher aus allen Teilen der Welt öffnen. Inapari liegt an der Transoceanica, einer Überlandstraße, die den südamerikanischen Kontinent von West nach Ost durchläuft und über die Pazifikküste Perus die „Turbomärkte“ Sudostasiens mit der aufstrebenden Industrie und den Atlantikhafen Brasiliens verbindet. Carlos Tubino behauptet, nicht nur die Colonos, sondern auch die Indigenen hinter sich zu wissen. Alfredo del Aguila Melendez widerspricht dem heftig: „Nur Colonos und der katholische Priester in Esperanza wollen die Straße.“ Im Juni 2012 haben die 216 offiziellen Repräsentanten aller 47 indigenen Dorfgemeinschaften in Alto Purus ihre Stimme gemeinsam gegen den Bau der „Straße des Todes“ erhoben. „Aus gutem Grund“, meint Alfredo. Allein die isolierte Lage von Alto Purus habe verhindern können, dass dort Raubbau an der Natur betrieben werde. Als Alfredo und ich in unseren Hängematten liegen, rauscht sein Kurzwellenempfänger. Miguel Piovisans Stimme tont blechern aus dem Radio. Der Pfarrer betreibt eine Radiostation, mit der er seinen täglichen Gottesdienst in den weiten Äther Amazoniens strahlt. Um auch den armen Seelen in den abgeschiedenen Dschungeldörfern Gebet und Trost zu spenden, sagt mein Tischnachbar in einem Lokal in Puerto Esperenza. Um die Indigenen zu missionieren und die Glaubwürdigkeit der Straßengegner zu untergraben, sagt indes ein Fischer verbittert, als wir über den staubigen Fußpfad von Nueva Vida gehen. Aus der Nachbarhütte höre ich wieder die Radiosendung des Geistlichen: Weinerliche Kinderstimmen flehen Gott an, endlich die Straße zu bauen. „Das geht jeden Tag so“, erzahlt Alfredo. „Aus Langeweile hören sie zu, bis sie es glauben.“ Ich frage ihn: „Und du? Warum hörst du dir das an?“ „Man muss den Gegner kennen“, antwortet er leise.

Viele Indigene werfen dem Pfarrer vor, die Stimmung bewusst zu vergiften. Er würde sie in der Zeitung Palabra Viva und in seiner Radiosendung als „Huanaganas“, als „Waldschweine“, bezeichnen. Indigene Organisationen haben die Katholische Kirche bereits mehrmals gebeten, Piovisan abzuberufen. Bislang erfolglos. Präsident Ollanta Humala hat verfügt, dass die Straße erst gebaut wird, wenn mehr als 50 Prozent der Bewohner von Alto Purus dem Vorhaben zustimmen. Die Zahl derjenigen, die den Bau der Straße befürworten, ist noch gering. Jedoch ziehen immer mehr Colonos nach Alto Purus, wahrend die Zahl der Indigenen stagniert. So steigt der Prozentsatz der Straßenbefürworter, ohne dass die indigene Bevölkerung ihre Meinung ändern würde. Die Colonos müssen nur abwarten, bis noch mehr Siedler ankommen. Die Zeit spielt für sie, selbst wenn Piovisans Überzeugungsversuche keine Früchte tragen.

Umso wichtiger ist es für die indigenen Gemeinden, weiter Einigkeit und Geschlossenheit zu zeigen. Auf Unterstützung von außen können sie kaum hoffen. Alfredo nutzt daher jede Gelegenheit, die abgelegenen Dörfer über die Auswirkungen des Straßenbaus zu informieren. Aber Reisen ist teuer. Auch in Alto Purus. Wer die verstreuten Gemeinden besuchen will, benötigt zumindest einen Einbaum und einen Motor. Beides lässt sich dank Alfredos vielfältigen Beziehungen organisieren. Aber Benzin und Motoröl kosten Geld, das weder Alfredo noch die Dorfbewohner haben. So kann er die Gemeinden am Rio Purus und seinem Nebenlauf, dem Rio Cuaranja, nur selten besuchen, um sie umfassend zu informieren. Auf einer dieser seltenen Reisen begleite ich ihn. Jeden Abend, wenn die rabenschwarze Nacht anbricht und Ruhe in den Hütten einkehrt, sitzt Alfredo mit den Dorfbewohnern zusammen. Er erzählt von Umweltschäden und Krankheiten, von illegalem Holzeinschlag und Bergbau, von Landraub und Kriminalität, die mit der Straße kommen werden. Diese Erfahrungen haben schon alle anderen Regionen in Amazonien machen müssen, die durch Straßen erschlossen worden sind. Alfredo ist ein geschickter Redner: ruhig, sachlich, aber stark gestikulierend und wohl wissend, wann man Pausen setzt. Er spricht von den Reisemöglichkeiten, die die Befürworter der Straße versprechen. Er spricht von der Sehnsucht, endlich einmal reisen zu können, sich etwas anzusehen. Seine Zuhörer nicken. Er spricht aber auch, worüber sonst geschwiegen wird: von den Ticketpreisen für Busfahrten. Selbst die günstigste Fahrt von Pucallpa in die Hauptstadt Lima kostet knapp 50 Soles (etwa 13 Euro). „Hast du 50 Soles?“, fragt er unvermittelt einen Zuhörer. Schweigen. „Und du?“ Keine Antwort. Alle wissen, dass die Straße nicht für sie gebaut wird. „Auf der Straße werden nur diejenigen reisen, die sich jetzt das Flugzeug leisten können“, schließt Alfredo. „Ihr kommt mit der Straße genauso weit wie ohne. Ihr bleibt hier.“

Alfredo und die anderen regionalen Vertreter der indigenen Gemeinschaften träumen davon, die am Rio Purus und Rio Cuaranja lebenden Menschen kontinuierlich und viel regelmäßiger informieren zu können. Dazu benötigen sie Geld. Nicht besonders viel – für europäische Maßstäbe. Ein paar tausend US-Dollar vielleicht. Aber in Alto Purus übersteigt diese Summe das Jahreseinkommen eines ganzen Dorfes. Sie wissen, dass das in Europa anders ist. Sie wissen auch, dass jeder Meter Straße mehr kosten würde. Sie hoffen deshalb auf Spenden, um in die Region reisen und regelmäßig Flugblätter verteilen und ihre Brüder und Schwestern in den Gemeinden über die Gefahren der Straße aufklären zu können. Auch, um ein Kippen der Mehrheitsmeinung zu verhindern. Ein paar tausend US-Dollar konnten die Rettung eines der letzten großen unberührten Waldgebiete Amazoniens und der letzten völlig isoliert lebenden Völker bedeuten. „Die Isolierten sind unsere Brüder!“, meint Jaime, in dessen Dorf erst jüngst isoliert lebende Mascos aufgetaucht sind. „Sie bewahrenunsere Kultur, die wir schon längst vergessen haben. Wenn sie sterben, ist auch unsere Kultur für immer verloren. Die Straße wird unser Erbe vernichten.“

Und ein wenig Geld wünscht sich Alfredo auch für ein persönliches Projekt. Dann könnte er einen Kurzwellensender anschaffen und müsste den Abendhimmel über Alto Purus nicht kampflos jenen überlassen, die an einer so drastischen Veränderung seiner Heimat arbeiten. Einer Veränderung, von der die Indigenen nicht profitieren. Einer Heimat, in der nur jene den Wandel wollen, die erst vor Kurzem in Alto Purus angekommen sind, ohne die hier lebenden Indigenen um Erlaubnis gefragt zu haben.

In Pankirentsi, einer kleinen Gemeinschaft nahe der Grenze zu Brasilien, treffe ich Menschen, die Alfredo nicht mehr überzeugen muss. Es sind Ashaninka, deren höfliche Zurückhaltung, Gestik und Mimik anders zu sein scheint im Vergleich zu den indigenen Gemeinschaften in Alto Purus. Und tatsachlich sind die Menschen hier fremder, als es der erste Eindruck vermuten lässt. Ein überraschender Gewitterregen zwingt uns unter das Palmblätterdach einer Hütte. Während draußen Sturzbäche niedergehen, erzählt Rodriguez Arauzo davon, dass seine Gemeinschaft einst in Satipo, in der östlichsten Provinz Perus, lebte. Ende des 20. Jahrhunderts wurde eine Straße nach Satipo gebaut. Siedler, Colonos und Holzfäller drangen in die Provinz ein. Es war schließlich zu spät, als die Behörden reagierten. Die Ashaninka hatten bereits so viel Land verloren, dass ein autarkes Überleben in ihrer Heimat unmöglich geworden war. So begann eine verzweifelte Suche nach einem kleinen Flecken Land, auf dem sie überleben konnten. Ein Kriterium war ihnen besonders wichtig: Die neue Heimat sollte sehr abgeschieden liegen. Und so machten sich schließlich achtzig Menschen mit Federschmuck, Pfeil und Bogen, Macheten, Amuletten und geschnitzten Zeremonienkeulen im Bauch eines Frachtflugzeugs der peruanischen Luftwaffe auf nach Alto Purus. Sie flogen vor einigen Jahren in eine neue Heimat, vertrieben aus ihrer jahrhundertealten Heimat von einer Straße und den Neuankömmlingen, die mit ihr kamen – gezwungen, entgegen den eigenen Traditionen fern vom Schutz und der Geborgenheit der Ahnen leben zu müssen. „Die Vorstellung, dass uns dasselbe Schicksal noch einmal droht, ist unerträglich“, sagt ein alter Mann resignierend.

Wie kann ich helfen?

Sie können an den Präsidenten von Peru, Humala Ollanta, und Premierminister Oscar Valdes schreiben, um den Bau der Straße zu verhindern. Ein Muster-Protestschreiben finden Sie auf der Internetseite der Organisation Rettet den Regenwald:

www.regenwald.org/aktion/834/peru-rettet-den-regenwald-von-alto-purus

Falls Sie Geld spenden mochten, damit die Indigenen über die Folgen des Straßenbaus aufgeklärt werden können, wenden Sie sich bitte an Sebastian Wiese (E-Mail: office@ra-wiese.at), der die nötigen Kontakte herstellt.

[Zum Autor]

Sebastian Wiese ist Rechtsanwalt und promovierter Rechtsanthropologe in Niederösterreich. In den vergangenen Jahren hat er zwei ausgedehnte Reisen durch Alto Purús unternommen, sich dort engagiert und auch persönlich immer wieder Geld für Hilfsaktionen vor Ort gespendet.


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