Im Prostituiertentreff La Strada

Foto: Ashley Marinaccio/Flickr © BY-NC-SA 2.0

 

Im La Strada landen die Frauen in Not, im Café Mistral geben die Zuhälter deren Geld aus. Chantal Louis hat sich in Stuttgart umgesehen – und fragt sich, warum alle weggucken. 

Von Chantal Louis 

Nicki sitzt auf der Wartebank und krallt nervös ihre lan­gen pinken Fingernägel in die Leopardentasche. Dabei gehört sie gar nicht zu denen, die auf die gynäkologische Untersuchung warten. Sie hat keinen Zettel mit einer Nummer bekommen, wie die Mädchen, die sofort wieder raus auf die Straße müssen, weil es sonst Ärger gibt. Eine Stunde herumsitzen und warten, nur weil eine Unterleibschmerzen hat? Nicht drin. Dafür sorgen schon die Herren, die breitschultrig in Lederjacken oder Jogginganzügen durch die nur wenige Schritte entfernten Rotlicht-Gassen der Stuttgarter Altstadt stolzieren und dabei der einen oder anderen, die hier in hochhackigen Stiefeln steht, etwas zurufen, das auch in einer unverständlichen Fremdsprache deutlich nach Kommando klingt. 

Diejenigen, für die zu langes Warten auf den Arztbesuch also vielleicht noch mehr Schmerzen mit sich brächte, bekommen von Sabine Constabel einen Nummernzettel und stecken von Zeit zu Zeit den Kopf durch die Milchglas-Tür des La Strada, um zu prüfen, ob sie schon dran sind. Eine Treppe höher erwartet sie dann Dr. Friedrich Spieth, der hier jeden Donnerstagabend ab halb acht in der Arztpraxis im ersten Stock die Prostituierten der Altstadt untersucht, kostenlos. Eine Krankenversicherung hat hier keine, dafür gras­sieren Syphilis, Chlamydien oder chronische Eileiter-Entzündungen. 

Nicki muss heute Abend nicht mehr zu Dr. Spieth. Sie war schon letzte Woche bei ihm und weiß, was sie hat: Sie ist schwanger. Im wievielten Monat? „Gute Frage“, sagt sie und lächelt verlegen. Von ihrem Freund oder einem Freier? Schwer zu sagen. 

Nicki ist 20, sagt sie jedenfalls, und 2008 aus Ungarn hierhergekommen, aus einer Kleinstadt „sehr weit von Budapest“. Der Vater ist tot, die Mutter musste allein für sie und ihre zwei Ge­chwister sorgen. Nicki hat eine Krankenschwesternschule besucht und auch abgeschlossen. Als Krankenschwester gearbeitet hat sie nicht, sie hätte damit in Ungarn nur 200 Euro pro Monat verdient. „In Ungarn alles schwer“, sagt sie. Eine Tante, die in der Stuttgarter Altstadt anschaffte, bot ihrer Nichte an, nach Deutschland zu kommen. Nicki kam. Und die ersten Männer kamen. „Das war sehr schwer“, sagt sie. Nach zwei Jahren und mehreren Tausend Freiern hat die zarte junge Frau heute 300 Euro Schulden beim Betreiber des Laufhauses, in dem sie arbeitet. Da zahlt sie nämlich 100 Euro für das winzige Zimmer. Pro Tag. Das macht bei 30 Euro pro Verkehr hundert Freier pro Monat allein für die Miete. 

Und jetzt ist Nicki schwanger, von wem auch immer. Sie will das Kind bekommen. Und irgendwie aufhören in der Altstadt. Wie das gehen soll, weiß sie noch nicht. „Will ich mit Sabine besprechen.“

Sabine Constabel hat noch keine Zeit für eine Besprechung. Die Sozialarbeiterin rotiert. Es ist halb neun, Rush Hour im La Strada. Viermal die Woche öffnet um 18 Uhr das Café in Trägerschaft der Caritas seine Tür in der Jakobstraße, und ein Team aus Haupt- und Ehrenamtlerinnen gibt den Frauen, was sie gerade brauchen: eine Mahlzeit oder einen heißen Tee; Kondome oder Medikamente; eine Dusche oder einen Deutschkurs. Oder einen Teddybären. Auch heute stellt Constabel wieder einen Pappkarton mit Bären, Hasen und Enten auf die Theke. „Der ist immer am schnellsten leer“, sagt sie. 

Einmal in der Woche kommt eine ehrenamtliche Masseurin. „Die Frauen werden ja nie richtig berührt“, erklärt Constabel. „Eine Massage hilft, im Körper zu bleiben. Obwohl“, schiebt sie mit dem ihr eigenen Sarkasmus hinterher, „das in diesem Job ja eigentlich gar nicht wünschenswert ist.“ Wenn eine aussteigen will aus diesem Job, der den Ausstieg aus dem eigenen Körper erfordert, ist Sabine Constabel, die seit 20 Jahren für das Stuttgarter Gesundheitsamt Prostituierte berät, da. Ohne Hilfe schafft es kaum eine. 

Jetzt steht die blonde Frau im schwarzen Kleid auf robusten Stiefeln hinter der Theke und schaufelt zwei schwarzhaarigen Mädchen ihre selbstgekochte Minestrone auf die Teller. Nachdem die beiden noch je einen Berg Auflauf verschlungen haben, verlassen sie das La Strada mit zwei Tüten voll Stullen und Obst. Proviant für die Nacht. Oder für Kolleginnen, die sich keine Pause im La Strada erlauben können. 

Zwei weitere Mädchen brauchen einen Nummernzettel; eine dritte hat Zahnschmerzen und möchte eine Schmerztablette; eine vierte steht vor der Theke, blickt an Brötchen und Keksen vorbei und sagt: „Gäll!“ „Was?“ fragt Constabel. „Gäll!“ wiederholt die junge Schwarze, deren Wortschatz offenbar begrenzt ist, und zeigt auf eine Schublade. „Ach so“, sagt die - Sozialarbeiterin und greift nach einer Tube Gleitgel. „Auch Gummis?“ Die Schwarze schüttelt den Kopf und geht. (…) 

„Ich sag immer: Es isch moderne Sklaverei“, sagt Helga Beck, eine von 30 Ehrenamtlerinnen, die im La Strada arbeiten. Sie ist, wenn man so will, eine Wutbürgerin. Nur ist die Stuttgarterin nicht wütend über die Bahnhofsbauer, sondern auf die Freier, die „die Not der Frauen auch noch ausnutzen“. Die 70-Jährige weiß als Kriegskind, was Not ist, und sie weiß es auch, weil sie lange in Spanien gelebt und deshalb viele Geschichten von Frauen aus Ecuador oder Kolumbien gehört hat, die im La Strada gestrandet sind. „Wir sind hier für viele Frauen die einzige Anlaufstelle“, erzählt die Rentnerin. Deshalb geht Helga Beck mit, wenn eine Frau vor Gericht muss, oder besucht sie im Krankenhaus. Mit Wut erfüllt die Mutter eines Sohnes auch, was ihr die Roma-Frauen erzählen, die von ihren eigenen Vätern und Brüdern in die Prostitution geschickt werden. „Die Frauen werden in ihren Familien behandelt wie der letzte Dreck und versorgen die Männer noch mit!“ (…) 

Fast 80 Prozent der knapp 3.500 in Stuttgart offiziell registrierten Prostituierten sind laut Polizeistatistik Ausländerinnen, davon stammen zwei Drittel aus den sogenannten „neuen Beitrittsländern“ der EU. Die Top Ten der Neuzugänge“ in 2010 führen Rumänien und Bulgarien an. Von dort stammt fast die Hälfte der 854 im vergangenen Jahr neu erfassten Frauen, weitere 100 kommen aus Ungarn. Die meisten von ihnen sind Roma. Die ärmsten der Armen, diejenigen, die in ihrer Gesellschaft und ihren Familien-Clans auf der untersten Stufe stehen. Oft Analphabetinnen, die kein Wort Deutsch sprechen und busweise zum Anschaffen nach Deutschland verfrachtet werden, wo sie auf Gedeih und Verderb ihren Zuhältern ausgeliefert sind. Und das nicht nur in Stuttgart. 

Es waren auch Roma-Frauen, mit denen die sogenannten Flatrate-Bordelle bestückt wurden, die 2009 in ganz Deutschland eröffneten. Eins davon im nur zehn Kilometer entfernten Fellbach. Dicke Hummer-Geländewagen fuhren durch die Königstraße, die hiesige Einkaufsmeile, und warben für die billige Ware im Pussy-Club: Zum Pauschalpreis von 70 Euro tagsüber, abends 100, gab es „Sex mit allen Frauen so lange du willst, so oft du willst und wie du willst!“ Das Angebot reichte von Analsex über Gangbang bis zum Oralverkehr „natur“, sprich: ohne Kondom. Dass die Stuttgarter Nachrichten über „Hintermänner aus Bulgarien“ berichtet hatten, die die Frauen „in großen Gruppen vor allem in den Siedlungsbereichen der Roma in Bulgarien oder Rumänien anwerben“, hielt viele, sehr viele Männer nicht davon ab, das Superschnäppchen zu nutzen. 1.700 Freier kamen laut Polizei allein am ersten Wochenende. 

Und auch das, was in den Laufhäusern und auf dem Straßenstrich um die Ecke des La Strada Alltag ist – die Wucherpreise für die Zimmer, die Abzocke durch die Zuhälter, die ihre Frauen zu 14-Stunden-Schichten auf die Straße schicken – läuft hier Tag für Tag weiter. „Was hier passiert“, sagt Sabine Constabel und lächelt ein kaltes Lächeln, „ist alles höchst legal.“ (…) 

21.30 Uhr. Das La Strada leert sich langsam. Constabel muss noch mal los. Zwei Mädchen sind schwanger. Dr. Spieth hat ihre Namen, Laufhaus und Zimmernummer aufgeschrieben. Der Nightclub Uhu liegt um die Ecke, nur eine Gehminute entfernt, die Holzstufen des engen Hausflurs knarren altersschwach. Auf dem Weg zu Zimmer 10 im zweiten Stock verteilt Sabine Constabel Kondome und Lebkuchen an die quasi nackten jungen Frauen, die in den Türrahmen stehen. „Kommt ins La Strada!“ sagt sie. 

Die Tür zu Nummer 10 ist geschlossen. „Selmin“ steht in Schnörkelschrift daran, aber „Selmin“ ist keine Türkin, der Name auf Constabels Blatt hat eine rumänische Endung. Die Tür geht auf, ein maximal 20-jähriger junger Mann kommt entspannt lächelnd aus dem Zimmer. Drinnen steht ein erschreckend mageres Mädchen mit riesigen todernsten Augen. Sie spricht kein Wort Deutsch. Eine Zimmernachbarin kommt zum Übersetzen.. Ja, sie weiß, das sie schwanger ist. Nein, sie will das Kind nicht kriegen. Ja sie will einen Abbruch. Nein, sie hat kein Geld, um ihn zu bezahlen.„Das mit dem Geld regle ich. Aber du darfst nach dem Abbruch zwei Wochen lang nicht arbeiten“, erklärt Sabine Constabel. Sas Mädchen schüttelt den Kopf.„Das geht nicht“, übersetzt die andere. 

Ein neuer Freier steht in der Tür, um die 50, Bart, Typ Lehrer oder Sozialar­beiter. „Hier ist grad besetzt!“ schnauzt Sabine Constabel. Der Mann geht zum nächsten Zimmer. „Wir müssen uns be­eilen. Du hast nur noch eine Woche Zeit, danach ist der Abbruch in Deutschland illegal“, erklärt die Sozialarbeiterin. Dann müsse sie das vielleicht in Rumänien machen lassen, entgegnet „Selmin“, dort gebe es Leute, die für Geld Abbrüche durchführten, egal, in welchem Monat. „Aber dann ist es schon sehr groß“, erklärt Constabel. Die Schwangere nickt. Constabel macht mit ihr einen Termin für die nächste Woche aus. Sie kann nur hoffen, dass sie kommt. 

Wie es mit Nicki weitergehen wird, weiß Sabine Constabel noch nicht. Sie ist skeptisch, denn da ist noch Nickis „Freund“, der, wie sie sagt, an zwei Tagen die Woche in einem Imbiss arbeitet. „Der muss erst weg“, weiß die Sozialarbeiterin aus Erfahrung. „So lange der von ihrer Arbeit profitiert, wird es schwer für sie aufzuhören.“ Sie plant, Nicki in einem Mutter-Kind-Heim unterzubringen. „Wir sind hier in Stuttgart gut vernetzt. Und das ist wichtig, denn eine Frau, die sich Jahre oder Jahrzehnte prostituiert hat, muss man oft über lange Zeit ganz eng begleiten.“ (…) 

22.40 Uhr. Dr. Friedrich Spieth hat den Arztkittel gegen eine Lederjacke getauscht und macht sich fertig zum Gehen. Sabine Constabel schaut durch ihre Lesebrille auf ihr Tabak-Päckchen und dreht sich eine. Die Küche ist aufgeräumt, die Tische sind abgewischt. Nur auf einem liegt noch etwas flauschiges Braunes. Da öffnet sich die Milchglas-Tür. Das Mädchen mit den Unterleibsschmerzen kommt noch mal herein. Sie scannt die Tische und entdeckt das braune Etwas. Es ist ihr Teddy. Sie stopft ihn hastig in ihre schwarze Tasche und nimmt ihn mit in die Altstadt-Gassen. Am nächsten Morgen um halb zehn steht die Frau mit der schwarzen Handtasche und dem braunen Teddybären auf hochhackigen Stiefeln auf dem kleinen Platz an der Loenhardstraße. Sie starrt ins Leere. 

Wir danken der Autorin und der Zeitschrift EMMA, in der dieser Beitrag am 1. April 2011 und später in dem Buch „Prostitution – Ein deutscher Skandal. Wie konnten wir zum Paradies der Frauenhändler werden?“ von Alice Schwarzer veröffentlicht wurde, für die Abdruckgenehmigung. 


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