"Ich war noch ein Kind"

Auf der Flucht vor der Roten Armee

Foto: Zdenka Pregelj/Flickr © BY-NC 2.0

 

Denke ich zurück an die Tage der letzten Kriegsweihnacht 1944 in meiner ostdeutschen Heimat, erscheinen sie mir wie eine trügerische Ruhe vor dem aus Osten aufziehenden und uns bedrohenden Roten Sturm der russischen Armee. Mitte Januar 1945 begann deren Winteroffensive und nahezu gleichzeitig rollten die ersten Flüchtlingstrecks aus östlicher gelegenen Regionen durch meine Geburtsstadt Schneidemühl in der preußischen Grenzmark Posen-Westpreußen, die heute den polnischen Namen Pila trägt. Die Route der Trecks in Richtung Westen führte direkt an unserem Elternhaus vorbei über den Neuen Markt. 

Von Gabi Köpp 

In der Nacht vom 20. zum 21. Januar 1945 klopfte es an unse­rem schweren Haustor. Meine älteste 19-jährige Schwester Juliane kam mit stundenlanger Verspätung von Posen/ Poznan nach Haus. Sie, die als Studentin der Posener Kunsthochschule bereits seit längerem Kriegseinsatz im dortigen Luftschutz-Warnkommando leistete, hatte ihr Gepäck in Posen zurücklassen müssen, um sich noch einen Stehplatz in einem der letzten Personenzüge nach Westen erkämpfen zu können. Die Rote Armee stand vor Posens Stadttoren. 

Am Vormittag des 26. Januar 1945 hieß es auch für Julia und mich, unsere Stadt und somit unser Elternhaus überstürzt zu verlassen. Ich tat es im festen Glauben, bald in das Paradies meiner Kindheit und den Hort meiner Jungmädchenjahre zurückkehren zu können. Hing ich doch mit all meinen Fasern an meinem Zuhause. Es sollte jedoch 42 Jahre dauern, bis ich in diese nun polnische Stadt Pila zu meinen Wurzeln heimkehrte und dort, wo einst mein Elternhaus stand, traurig über kümmerlich wachsenden Rasen schaute. 

Am Tag unseres Aufbruchs jedoch handelten wir Schwestern entgegen einer Partei-Order. Obwohl die russische Front bereits Randgebiete Schneidemühls unter Beschuss nahm, war den Einheimischen die Flucht unter Androhung drastischer Strafen verboten. Allein den vor den Bomben im westlichen und mittleren Deutschland in den Osten geflohenen Menschen war das Verlassen unserer Stadt erlaubt. So auch einer Tante mit ihren drei kleinen drei-, sieben- und zehnjährigen Söh­nen, deren Heimatstadt Magdeburg war. Tante Liselotte schrieb deshalb einfach Julia als ihre Schwester und mich als ihre Tochter auf die Genehmigung zur Flucht hinzu. Unsere Mutter wie auch Liselottes Eltern blieben zurück,hoffend, uns bald mit einem LKW folgen zu können. Ihnen sollte es gelingen, nur wenige Stunden nach uns unsere Stadt in nordwestlicher Richtung unbeschadet zu verlassen und über Berlin Deutschlands Westen zu erreichen. 

Der Januar 1945 war außergewöhnlich kalt und schneereich. So zogen wir den vollbepackten Kinderschlitten über knirschenden Schnee, auf den trotz der Kälte unaufhörlich trockener Pulverschnee fiel. Kaum hatten wir den Bahnhof erreicht, schrecken wir von ohrenbetäubendem Lärm zusammen. Es ist der erste Beschuss des Bahnhofsgeländes, nach dessen Abklingen ein Güterwagen in die Halle gezogen wird, den augenblicklich unzählige Menschen panikartig stürmen. Auch wir sechs finden in dem hölzernen Ungetüm Platz, hocken uns entlang der Wagenwand auf unser Gepäck. Noch sind die schweren Schiebetüren der Wagen weit geöffnet, als sich eine Gruppe verängstigter Flüchtlinge auf unseren Zug verteilt. Sie hatten sich aus einem unter Beschuss stehenden Zug gerettet, der am Rand des Bahnhofsgeländes liegen geblieben war. 

Gegen Mittag mag es gewesen sein, dass Eisenbahner die schweren Schiebetüren schließen, von außen verrie­geln und dem Zugführer das Signal zur Abfahrt geben. Stotternd setzt sich das hölzerne Ungetüm in Bewegung, bleibt alle paar Minuten stehen, um danach weiterzuschleichen. Durch die hoch liegenden Luken des Güterwagens erkennen wir im fahlen Winterlicht die „Sandseebrücke“, unter der wir hindurchfahren. Also lenkt man den Zug nicht in nordwestlicher Richtung aus der Stadt, sondern entlang der sogenannten Ostbahnstrecke nach Berlin, die uns auch über die südwestlich von Schneidemühl gelegene Kleinstadt Kreuz führt. Wir zucken zusammen – wissen wir doch, dass Kreuz bereits beschossen wurde. Doch sollte unser Ungetüm diese Stadt gar nicht mehr erreichen. Auf offener Strecke etwa 30 Kilometer südwestlich von Schneidemühl wird unser Zug zur Zielscheibe russischer Panzer. Die Lokomotive erwischt es zuerst, dann richten sich die Panzerkanonen auf die hölzernen Wagen. Sehen können wir im unbeleuchteten Inneren nichts. Einer schreit „hinlegen“, ich lasse mich nach links auf den Wagenboden fallen und verliere in dem Augenblick Julia und die anderen aus den Augen. Es ist ein ungewollter Abschied von dieser Schwester, zu der ich 15-Jährige aufschaute. 

Nun erweisen sich die verriegelten Schiebetüren als Verhängnis. Der einzige Fluchtweg führt durch die hohen Luken. Ich schaffe es, lasse mich neben dem Bahndamm in den Schnee fallen. Lege meinen Kopf zwischen die schützenden Arme - schießt doch die Panzerbesatzung nun Maschinengewehr-Salven zwischen Unterkante der Wagen und dem Bahndamm hindurch. Noch so mancher Fliehende, der den Sprung aus der Luke schaffte, bleibt nun getroffen am Bahndamm liegen. 

Noch darf ich leben, bin nicht verwundet und hetze mit anderen Davongekommenen über angrenzende tief verschneite Felder. Nur weg vom Zug und Richtung Westen, geht es mir durch den Kopf. Plötzlich erkenne ich Lieselottes Ältesten, den zehnjährigen Christian. Ich rufe, wir laufen aufeinander zu, fassen uns bei der Hand und versuchen gemeinsam, dem todbringenden Chaos zu entkommen. Erst Jahr und Tag danach werden wir erfahren, dass wir die einzig Überlebenden von uns sechs Waren. Es gelang uns an diesem 26. Januar 1945 nicht, die russische Panzerfront noch zu unterwandern. Wie in einer Schneewüste verloren wir die Orientierung, die bittere Kälte verbot ein Übernachten im Freien. So fanden wir uns am frühen Abend mit zahlreichen anderen Fliehenden in einem Backhaus wieder, das uns der Bäcker des Dorfes Gornitz aufgeschlossen hatte. 

Ich überschrieb dieses Zeitzeugnis mit „Ich war noch ein Kind“. Das mag einen heutigen Leser erstaunen, war ich doch 15 ½ Jahre alt. Doch vor gut 60 Jahren war es nichts Ungewöhnliches, in diesem Alter noch Kind und zudem nicht aufgeklärt zu sein. Und das trotz zweier älterer Schwestern. Doch weder Julia noch meine Mutter sahen sich veranlasst, mich angesichts der nahenden Front der Roten Armee über die Gefahr aufzuklären, in der ich mich nun befand. Jahre nach meiner Flucht fragte ich meine Mutter, weshalb sie es unterließ, mich spätestens am Abend vor der Flucht zu informieren. „Wieso“, gab sie zur Antwort, „Du hast mich doch nicht gefragt“. 

Dort in dem Backhaus begegneten uns nachts die ersten Russen, leuchteten uns mit großen blendenden Lampen ins Gesicht. Später am Morgen des 27. Januar 1945 gab ein Russe dem anderen die Klinke in die Hand. Nachdem sie ihren Bedarf an Armbanduhren befriedigt hatten – manch einer unter ihnen trug bereits mehrere über dem Handgelenk -, blieb ihr Blick immer häufiger auf jungen Mädchen haften. Weshalb? Ich hörte eine Frau sagen, sie habe erfahren, die Russen seien gar nicht so schlimm, „vergewaltigten“ nur Frauen und Mädchen. Noch nie vorher war dieses Wort in mich gedrungen – was bedeutete es? Wohl nichts Gutes – doch weshalb sagte die Frau dann „nur“? 

Noch bin ich mit dem kleinen Christian zusammen. Ganz fest halten wir uns an der Hand, als am Nachmittag plötzlich alle Menschen aus dem Backhaus getrieben werden. Ich ducke mich, es scheint mir besser so. Bin doch auch ich ein relativ großes Mädchen, das Christian mit seiner zierlichen Knabengestalt in den Stunden zuvor vor den Blicken der Soldateska zu schützen versuchte. Doch nun reißt uns ein Russe brutal auseinander. Ich als Einzige werde in dem finsteren Backhaus zurückgehalten. 

Was nur will der Kerl von mir? In mir ist eine tiefe Angst, von der ich noch nicht weiß, wovor. An jenem 27. Januar 1945 werde ich auf unmenschliche Weise aufgeklärt. Der tiefe Schock jedoch betäubt meine Gedanken und lässt mich trotz drohender Gefahr aus allen Ecken unablässig nach dem Kind Christian suchen. Ich bange um ihn, denn russische Soldaten schießen auch auf Kinder, wenn diese aus Angst davonlaufen, statt dem Befehl „stoi“ zu ge­horchen. Ich fand Christian nicht und erfuhr erst nach Ende meiner Flucht, dass er noch in der Nacht zum 28. Januar von zurückflutenden deutschen Soldaten mit durch die russische Front in das westliche Deutschland genommen wurde. 

In jener Nacht wurde ich später mit cirka 30 Frauen und Kindern in ein kleines Haus getrieben, von dessen zwei kleinen Zimmern uns nur eines als Bleibe erlaubt war. Das Dorf Gornitz wurde noch in dieser Nacht größtenteils abgefackelt. So wusste die marodierende Soldateska um das Freiwild, das dort oberhalb der Dorfstraße zusammengepfercht war. Cirka zehn Tage lang waren wir ihnen ausgesetzt – tags wie auch nachts. Und ich alleine unter all den mir fremden Frauen, die sich weder schämten noch scheuten, mich mehrmals zu verraten, um ihre eigene Haut zu retten. 

Am 8. Februar 1945 verließ ich mit einigen anderen dieses Dorf. In vollkommener Unwissenheit über den Verbleib meiner Mutter und mittleren Schwester. Fand als willkommene Arbeitskraft in einem anderen Dorf ein Dach über dem Kopf, bis mich am 26. Juni 1945 eine Cousine beim Kühehüten auf den Netzewiesen fand. Mit ihr und anderen entfernten Verwandten wurde ich auf einem einst deutschen Gut in Hinterpommern als Arbeitskraft noch bis April 1946 festgehalten. Dann endlich sah ich meine Mutter und mittlere Schwester in Hamburg wieder. Sie hatten nicht mehr mit mir gerechnet, obwohl sie im Oktober 1945 eine Nachricht von meinem Überleben erreichte. Als ich meinem tiefen Bedürfnis nachkommen wollte, zu meiner Mutter von der Last zu sprechen, die ich seit 15 Monaten unsichtbar mit mir herumschleppte, sagte sie: „Sprich nicht davon – schreib‘ es auf.“ 

Erst 32 Jahre nach dem Geschehen begegnete ich einem einfühlsamen Psychotherapeuten, dem ich langsam anzuvertrauen vermochte, was ich nicht vergessen konnte. Spät, aber nicht zu spät, gelang es mir so, das selbst empfundene Fremdsein innerhalb unserer Nachkriegsgesellschaft abzulegen. 


Hintergrund: 

Etwa 1,9 Millionen deutschen Frauen und Mädchen wurden während des Vormarsches der Roten Armee bis Berlin vergewaltigt, viele von ihnen mehrfach: 1,4 Millionen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, 500.000 in der späteren sowjetischen Besatzungszone. 200.000 von ihnen kamen dabei ums Leben. Allein in Berlin wurden zwischen Frühsommer und Herbst 1956 mindestens 110.000 Mädchen und Frauen von Rotarmisten vergewaltigt. Auch Kinder und Greisinnen waren unter den Vergewaltigungsopfern. 

 

[Zur Autorin] 

Prof. Dr. Gabi Köpp lehrte Theoretische Physik an der Technischen Hochschule von Aachen. Sie veröffentlichte 1992 unter ihrem Klarnamen „Meine Geschichte. Bericht über eine 1945 erlebte Flucht aus der Grenzmark Posen-Westpreußen“. Es gilt als Vorfassung ihres Buches „Warum war ich bloß ein Mädchen? Das Trauma einer Flucht 1945“, das in ihrem Todesjahr 2010 im Herbig-Verlag er­schien. Es trug dazu bei, das über Jahrzehnte auferlegte Schweigen über die Grausamkeiten zu brechen, die deutschen Frauen und Mädchen angetan wurden. Den Beitrag in unserer Zeitschrift hat Gabi Köpp persönlich der GfbV zur Veröffentlichung überlassen. 


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