Editorial

Foto: privat

 Liebe Leserinnen und Leser, 

„auf keinem Auge blind“ ist die wichtigste Leitlinie unserer Menschen­rechtsorganisation seit ihrer Gründung im Jahr 1968. Und doch haben auch wir vereinzelt die Unterdrückung und Verfolgung von Minderheiten übersehen, wurden dann erst von Mitmenschen, von Augenzeugen und nicht zuletzt immer wieder auch von Opfern auf derartige Tragödien aufmerksam gemacht. So erging es uns mit dem Schrecken, dem viele junge Frauen und Mädchen in den Bordellen und auf den Straßenstrichen Deutschlands ausgeliefert sind. Erst in den vergangenen Wochen und Monaten haben wir uns damit intensiver beschäftigt – angeregt durch Initiativen von Frauenorganisationen, Artikel in Zeitungen und Zeitschriften sowie in Fernsehsendungen. 

Deutschland, so sehen es inzwischen auch Berichterstatter aus anderen Ländern, sei nicht zuletzt dank seiner „liberalen“ Gesetzgebung zum Bordell Europas geworden. Mindestens die Hälfte der etwa 400.000 Prostituierten in unserem Land sind extrem unterprivilegierte Angehörige von Minderheiten: Roma aus Bulgarien, Rumänien und Ungarn, Mädchen aus Bosnien oder aus dem subsaharischen Afrika. Europas Roma sind zweifellos die am meisten diskriminierte, oft genug verachtete und unterdrückte Minderheit. Seit einigen Jahren sind die Grenzen für sie durchlässiger geworden, wenn Schlepperorganisationen den Weg nach Deutschland organisierten. So fielen tausende von Roma-Mädchen in die Hände von skrupellosen Menschenhändlern, die sie in deutsche Bordelle verschleppten. Zu diesen Tätern zählen auch häufig männliche Angehörige der Opfer. Noch schwieriger war der lange Weg verarmter chancenloser junger Mädchen aus Afrika nach Deutschland und Europa. Betrüger versprachen ihnen paradiesische Verhältnisse. Schließlich sind da auch Mädchen und Frauen aus Bosnien, die nach Krieg, Völkermord und Flüchtlingselend ein zweites Mal unterdrückt und missbraucht werden. 

Wir haben darüber nachgedacht, wie das alles in unserem Land so lange unbemerkt oder unbeachtet von Politik, Öffentlichkeit und Medien geschehen konnte und weiter von Tag zu Tag geschieht. Zehntausende deutsche Männer und Männer aus unseren Nachbarländern missbrauchen täglich Frauen, die ein sklavenähnliches Dasein führen. Wir haben in Diskussionen und Publikationen immer wieder darauf hingewiesen, dass Vergewaltigung, Mord und Misshandlung – nicht zuletzt durch Armeen und Regierungen – immer und überall Verbrechen sind. Wir haben betont, dass ein Verbrechen nicht mit einem anderen entschuldigt werden kann. 

Vor wenigen Monaten hat die schreckliche Vergewaltigung einer indischen Frau durch eine Gruppe von Männern weltweite Empörung ausgelöst. Leider haben die europäischen und deutschen Medien in der Vergangenheit einen Teil der europäischen Verbrechensgeschichte, die Massenvergewaltigungen von Frauen und Mädchen, verdrängt oder verschwiegen. Wären wir alle aufmerksamer, wenn wir das grauenhafte Schicksal von zwei Millionen vergewaltigten deutschen Frauen und Mädchen, von denen 200.000 ums Leben kamen, nach Ende des Zweiten Weltkrieges zur Kenntnis genommen hätten? Wären wir dann den bosnischen Frauen und Mädchen in den serbischen Vergewaltigungslagern in den 1990er Jahren zur Hilfe gekommen? Hätten wir uns eher dem Leid der gepeinigten Frauen, die mitten in Deutschland gezwungen werden sich zu prostituieren, zugewandt? 

Diese Dokumentation wird ein bescheidener Beitrag sein. Wir rufen dazu auf, jene Frauenorganisationen zu unterstützen, die sich seit langem gegen Menschenhandel, Zwangsprostitution und für die Würde und Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen einsetzen. Sie leisten neben der wichtigen politischen Arbeit oftmals ganz konkrete Hilfe für Betroffene und wir danken ihnen, dass sie uns für diese Ausgabe ihre Texte zur Verfügung gestellt haben und uns so an ihren Erfahrungen teilnehmen lassen: Medica Mondiale, SOLWODI, Terre des Femmes und die Zeitschrift EMMA seien hier – stellvertretend für viele lokal verankerte und tätige Initiativen – genannt. 

Ihre Sarah Reinke 


Sarah Reinke ist Referentin für Osteuropa und GUS der Gesellschaft für bedrohte Völker und leitet das Berliner Büro der Menschenrechtsorganisation. 


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