Gute Miene zum bösen Spiel: Die Ovaherero Nachfahren und Aktivisten Israel Kaunatjike und Dr. Ngondi Kamaṱuka vor dem Südwestafrika-Denkmal in Göttingen. Für das Foto lächeln die beiden. Doch die öffentliche Ehrung der Genozidtäter hat sie entsetzt.
Foto: © Ingo Bever/Göttingen Postkolonial

 

 

Genau 120 Jahre liegt der Beginn des Völkermords an den Ovaherero und Nama in der ehemaligen deutschen Kolonie „Südwestafrika“ zurück. Wirkliche Verantwortung übernommen hat Deutschland für die Verbrechen nicht. In der Stadt Göttingen steht gar ein Denkmal, das Täter ehrt – trotz intensiven Widerstands.

Von Elisa Erpenbeck

„Ein solches Denkmal, wie es hier noch in Göttingen steht… Für mich war das schockierend. Damit habe ich nicht gerechnet. So was ist für uns eine Beleidigung. Respektlos, dass man solche Denkmäler hat“, 

hält Israel Kaunatjike rückblickend fest. Im September 2022 waren die beiden Ovaherero Nachfahren und Aktivisten Israel Kaunatjike und Dr. Ngondi Kamaṱuka auf Einladung der Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und der Vernetzung Göttingen Postkolonial nach Göttingen gekommen. Der Anblick des sogenannten Südwestafrika-Denkmals erschütterte sie. Lediglich auf einer kleinen Informationstafel gibt es einen Hinweis zu den Opfern des Völkermords, ansonsten huldigt es den Tätern. Das Denkmal und seine Geschichte ist in der Stadtgesellschaft Göttingens wenig bekannt – dabei hat es eine bewegte und aktivistische Vergangenheit.

 

Zwischen Protest und Vergessen

Das Südwestafrika-Denkmal besteht aus einem Steinsockel und einer eingelassenen Gedenktafel. Früher thronte obenauf ein Adler, doch zu diesem später mehr. Das Denkmal lugt zwischen hohen Hecken hervor und befindet sich an der Kreuzung Geismar Landstraße und Friedländer Weg in Innenstadtnähe. Es gedenkt namentlich vierer Soldaten, die auf dem Gebiet des heutigen Namibias zwischen 1904 und 1908 gestorben sind. Sie gehörten dem 2. Kurhessischen Infanterie Regiment Nr. 82 an, welches in Göttingen stationiert war und insgesamt 42 Soldaten in die damalige Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“, das heutige Namibia, entsendete.

Zwischen 1904 und 1908 ermordeten deutsche Truppen in der Kolonie schätzungsweise etwa 80 Prozent der Ovaherero- und 60 Prozent der Nama-Bevölkerung. Auch Angehörige anderer Gruppen wie der Damara und San waren unter den Opfern. Die Auswirkungen des Völkermords und der deutschen Kolonialherrschaft sind in Namibia bis heute zu spüren. Ovaherero und Nama kämpfen weiterhin um Anerkennung, Entschuldigungen und Reparationen. Sie fordern unter anderem die Rückgabe des Landes, das weiterhin bis zu 70 Prozent in Besitz von Nachfahr*innen deutscher Kolonialist*innen ist.

In diese Gewaltgeschichte reiht sich das Südwestafrika-Denkmal in Göttingen ein. Es ist ein Ort, an dem erinnerungspolitische Kämpfe ausgetragen werden. Ein Beispiel dafür ist die Entwendung der Gedenktafel und des Adlers, der bis 1978 auf dem Steinsockel seine Flügel ausgebreitet hat. Der Kommunistische Studentenbund Südniedersachsens bekannte sich zu der Aktion. Er versteigerte den bronzenen Adlerkopf zu Gunsten der simbabwischen Befreiungsbewegung ZANU. Der Historiker Dr. Joachim Zeller spürte den Kopf Jahrzehnte später wieder auf und brachte ihn 1999 nach Namibia, wo er bis heute im Archiv in der Hauptstadt Windhoek liegt. Die Gedenktafel am Denkmal wurde 1982 ersetzt. Zu lesen ist weiterhin der Originaltext.

Seit den frühen 2000ern gibt es immer wieder Protestaktionen am Denkmal. Graffitis, Farbe, Sticker und Verhüllungen prangern die Täterverehrung an. Die Stadt Göttingen reagierte erst 2007 mit einer vor dem Denkmal angebrachten kleinen Informationstafel. Doch obwohl das Denkmal immer wieder im Zentrum von Protestaktionen steht, ist es in der breiten Stadtgesellschaft relativ unbekannt und nur wenige kennen seinen Hintergrund. 

 

Ein anderer Umgang

Die Vernetzung Göttingen Postkolonial, das Stadtlabor – Wege zur kolonialkritischen Stadt und andere zivilgesellschaftliche Gruppen fordern seit Jahren einen anderen Umgang mit dem Südwestafrika-Denkmal. Anstelle einer nachhaltigen und langfristigen Veränderung und Auseinandersetzung mit dem Denkmal werden Graffitis und andere Formen des offenen Protests immer wieder entfernt. Die Mitbegründerin der Vernetzung, Sarah Böger, sagt im Interview:

„Das Südwestafrika-Denkmal symbolisiert für mich dieses Vergessen, Verdrängen und Ignorieren. Dieses Denkmal steht da seit über 100 Jahren. Seit wenigen Jahren ist der Genozid von der Bundesregierung anerkannt [seit 2021; Anm. d. Red.]. Dass es einer war, ist schon immer klar. Das ist schon über 100 Jahre klar. Und trotzdem steht dieses Denkmal bis heute hier, das Täter oder Menschen, die auf der Täterseite gefallen sind, eines Genozids ehrt. Da steht ein Denkmal, das nicht der Opfer, nicht der Betroffenen des Genozids gedenkt. Das ist einfach eine Schande für Göttingen.“

Erst vor Kurzem, im August 2023, wurde eine von der Stadt in Auftrag gegebene Vorstudie der Historikerin Charlotte Prauß mit dem Namen „Koloniale Vergangenheit in Göttingen?“ vorgestellt. Darin fordert die Autorin die Stadt unter anderem auf, sich mit der Vergangenheit und Geschichte des Denkmals auseinanderzusetzen und zusammen mit Nachkommen der Ovaherero und Nama Konzepte für eine Umwidmung zu erstellen. Charlotte Prauß betont, dass ein Verschwindenlassen des Denkmals – sei es durch Rückbau oder durch Zuwuchernlassen durch die umliegenden Büsche – lediglich die koloniale Vergangenheit und Gegenwart verschweigen würde. 
 

Auch die Vernetzung Göttingen Postkolonial und Israel Kaunatjike fordern eine Aufarbeitung in Kooperation mit Ovaherero und Nama Nachfahr*innen. Israel Kaunatjike spricht die Stadt Göttingen im Interview direkt an:

„Ich finde, es ist wichtig und ich appelliere an die Stadt Göttingen, diese Geschichte ernst zu nehmen, aufzuklären, auch mit uns. Göttingen kann uns einladen, damit wir hier eine Veranstaltung organisieren, um die Vergangenheit noch mal klarzustellen und die Menschen zu informieren. Das ist sehr wichtig, auch für die Stadt. Man kann die Geschichte ja nicht einfach irgendwo hier verstecken.“

Die Kulturverwaltung Göttingens stellte in Zusammenhang mit der Studie von Charlotte Prauß ein Konzept zur Umsetzung einer solchen Aufarbeitung vor. Die Gelder wurden jedoch vom Finanzausschuss der Stadtpolitik abgelehnt. Vorerst wird also keine politisch gewollte Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit und Gegenwart Göttingens stattfinden.

Das Südwestafrika-Denkmal zeigt, dass die postkoloniale Erinnerung in Göttingen viel mit Entscheidungsmacht zu tun hat: Denn es steht im öffentlichen Raum, über den die Stadtpolitik bestimmt. Ohne ihre Zustimmung passiert nichts. Nichtregierungsorganisationen, zivilgesellschaftliche und aktivistische Gruppen lassen jedoch nicht locker und machen die Stadtpolitik immer wieder auf das Denkmal und ebenfalls die Verwicklung Göttingens in den Völkermord aufmerksam.

 

120 Jahre Verdrängung: Zeit für eine zweckvolle Erinnerung 

Eine der wichtigsten Funktionen von Denkmälern ist die des zweckvollen Erinnerns. Diese Funktion erfüllt das Südwestafrika-Denkmal schon lange nicht mehr. Durch ständige Beschmutzung, eine spärliche Informationstafel und das Zuwuchern durch die Hecken rückt es immer mehr aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadtgesellschaft. Dabei sind es gerade Denkmäler, die gegen ein Ignorieren und Schweigen wirken können, stehen sie doch im öffentlichen Raum, ziehen Aufmerksamkeit auf sich und konfrontieren Menschen.

Wir haben das Jahr 2024. Es sind 120 Jahre vergangen, seit auf dem Gebiet des heutigen Namibias der Völkermord begonnen hat. Wäre dies nicht ein Anlass, endlich Gelder in die Hand zu nehmen, sich der Verantwortung zu stellen und eine nachhaltige Veränderung in enger Zusammenarbeit mit Nachfahr*innen der Opfer des Völkermords zu beginnen?

 

[Autor*in]
Elisa Erpenbeck engagiert sich im Netzwerk Göttingen Postkolonial, im Stadtlabor – Wege zur kolonialkritischen Stadt und ist seit 2021 bezüglich des Südwestafrika-Denkmals aktiv. Auf das Thema aufmerksam geworden ist Erpenbeck durch die Webseite des Geschichtskurses „Göttingen Kolonial“ der kürzlich verstorbenen Professorin Rebekka Habermas. 
 



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