Vertreter*innen der SIRGE Koalition vor einem der Salzseen in der Atacama-Wüste in Chile. Der geplante Lithiumabbau in diesem Gebiet und seine Auswirkungen auf die Indigenen Kolla war Thema auf dem Treffen der Koalition.
Foto: © SIRGE Coalition

 

Ob für Rohstoffabbau oder Flächennutzung: Der Diebstahl Indigener Gebiete ist nicht neu – wohl aber seine Rechtfertigung. Für Maßnahmen gegen den Klimawandel sollen Indigene Gemeinschaften den Preis zahlen. Doch Widerstand organisiert sich. Silvia Schönenberger, verantwortlich für die Themen Klimagerechtigkeit und Indigenenrechte bei der Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz, berichtet im Interview von der schlagkräftigen Koalition SIRGE.

Interview geführt von Johanna Fischotter

Frau Schönenberger, Sie waren im März in Chile auf einem Treffen der SIRGE Koalition. Wer oder was ist die SIRGE Koalition?

SIRGE steht für Securing Indigenous Peoples‘ Rights in the Green Economy (dt.: Sicherung der Rechte Indigener Gemeinschaften in der Grünen Wirtschaft) und wurde im Jahr 2022 von fünf Organisationen gegründet: Cultural Survival, First Peoples Worldwide, Batani Foundation, Earthworks und Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz (GfbV Schweiz). Anfang 2024 wurde die Koalition um ein assoziiertes Mitglied erweitert, die International Work Group for Indigenous Affairs – IWGIA. Gemeinsam setzt sich SIRGE für die Rechte Indigener Gemeinschaften in der Grünen Wirtschaft und insbesondere in der Energie- und Mobilitätswende ein.

 

Was sind ihre Kernziele?

SIRGE will die Stimmen der Indigenen Bevölkerungen in den Mittelpunkt stellen, wenn es um Lösungen für die Energiewende geht. Sie will, dass Indigene Gemeinschaften als Hüterinnen der Biodiversität als Teil der Lösung gesehen werden und am Tisch sitzen, wenn Prioritäten in der „Grünen Wirtschaft“ diskutiert werden. Außerdem fordert sie eine konsequente Umsetzung des Rechts auf Selbstbestimmung und das Recht auf Freie, Vorherige und Informierte Zustimmung (Englisch „FPIC“) der Indigenen Gemeinschaften, wenn es um Projekte geht, die ihr Land oder ihre Lebensweise betreffen.
 

Zu Besuch bei der Kolla-Gemeinschaft: durch Vorträge und Problemanalysen der drohenden Wasserknappheit in der Wüste plant die SIRGE Koalition gemeinsam mit den Indigenen ihre nächsten strategischen Schritte.
Foto: © SIRGE Coalition

Im Zusammenhang mit „Grüner Wirtschaft“ ist auch immer wieder von „Grünem Kolonialismus“ die Rede. Was verstehen Sie bei SIRGE unter Grünem Kolonialismus?

Dass Indigenes Land ohne Zustimmung der vor Ort lebenden Gemeinschaften ausgebeutet wird, ist nicht neu. Dass dies nun unter dem Deckmantel „grüner“ Lösungen fortgeführt werden soll, stellt eine Art „grünen Kolonialismus“ dar, was Indigene Aktivist*innen immer wieder kritisieren. Der Begriff des „Grünen Kolonialismus“ bezeichnet die Fortführung kolonialer Besitzverhältnisse und Ausbeutung von Land unter dem Deckmantel der Ökologie. Die Ausbeutung von Mensch und Natur für Profit und Wirtschaftswachstum wird nun im Namen der „Grünen Wirtschaft“ gerechtfertigt. 

Die SIRGE Koalition und die GfbV Schweiz sind der Meinung, dass der Kampf gegen den Klimawandel nicht auf Kosten derer geschehen darf, die am wenigsten dazu beigetragen haben: der Indigenen Gemeinschaften. Diese sind zudem weltweit überproportional von den Bergbauprojekten von Mineralien betroffen, welche beispielsweise für Elektroautos benötigt werden.

Als Mitglied der Securing Indigenous Peoples‘ Rights in the Green Economy Coalition (SIRGE Koalition) fordert die GfbV Schweiz die Respektierung Indigener Selbstbestimmung durch das Recht auf Freie, Vorherige und Informierte Zustimmung für sämtliche Projekte, die Indigene Gemeinschaften tangieren; und priorisiert somit Lösungsansätze, welche den Fokus auf Klimagerechtigkeit legen.

 

Was waren Themenschwerpunkte beim Treffen in Chile?

Eine dreißigköpfige Delegation, bestehend aus Mitarbeitenden der fünf Organisationen der Koalition sowie dem Indigenen Lenkungsausschuss, diskutierte zum einen die strategische Weiterentwicklung und gemeinsamen Stoßrichtungen der Koalition. Zum anderen wurden thematische Schwerpunkte wie Transitionsmineralien und das Indigene Recht auf Selbstbestimmung sowie das Recht auf Freie, Vorherige und Informierte Zustimmung eingehend diskutiert. Der Besuch vor Ort bei einer betroffenen Indigenen Gemeinschaft und den Salzseen, wo künftig Lithiumabbau geplant ist, gab uns eine aufschlussreiche Einsicht in die Problematik des Rohstoffabbaus für die Mobilitätswende.

 

Wie kann ich mir die Zusammenarbeit zwischen NGOs und Indigenen Gemeinschaften bei SIRGE vorstellen? Gibt es zum Beispiel Arbeitsgruppen oder ähnliches zu bestimmten Themen?

Die Koalition versucht, die verstärkte Zusammenarbeit der bestehenden Organisationen zu nutzen, um gemeinsam stärker aufzutreten, die Expertisen und das spezifische Fachwissen aller Beteiligten optimal zusammenzubringen und Synergien zu nutzen. Ein Exekutivkomitee hat die strategische Leitung inne und auf operativer Ebene arbeiten Teammitglieder der Organisationen in Arbeitsgruppen zu politischem Lobbying, Unternehmensverantwortung, Unterstützung von Indigenen Gemeinschaften und Kommunikation zusammen. 

Derzeit ist ein SIRGE Sekretariat im Aufbau, welches die Koalition koordinieren wird. Die bestehenden Kontakte zwischen den Indigenen Gemeinschaften und den Organisationen werden künftig vom gesamten SIRGE Netzwerk profitieren können und die Unterstützungsmöglichkeiten werden dadurch verstärkt.

 

Würden Sie mir einen Fall, dem sich SIRGE aktuell widmet, etwas näher beschreiben und erklären, wie SIRGE hier vorgeht? Was sind die ersten Schritte, was ist das Ziel?

Ein Beispiel ist eine Kolla-Gemeinschaft in der Atacama-Wüste Chiles, die zugleich Gastgeberin des SIRGE-Treffens war. Diese Gemeinschaft sieht sich durch den geplanten Lithiumabbau in ihrer Wasserversorgung bedroht und erhält vielseitige Unterstützung von Koalitionspartnern: Eine hydrologische Studie wird durch Earthworks durchgeführt, um die Bedenken der Indigenen Gemeinschaft bezüglich der drohenden Wasserknappheit wegen Lithiumabbaus wissenschaftlich zu untermauern. Außerdem erhielten sie finanzielle Unterstützung von Cultural Survival für die Durchführung selbstbestimmter Prioritäten in der Gemeinschaft, wie ein Anbauprojekt für Medizinalkräuter und ein Dorfmuseum. Das Treffen vor Ort ermöglichte einen Austausch zwischen der lokalen Gemeinschaft, unseren Indigenen Vertreterinnen der Koalition und den Fachpersonen der Organisationen. Schließlich wirkt sich auch auf symbolischer Ebene die Rückenstärkung einer ganzen Koalition stärkend auf die lokale Gemeinschaft aus, wie uns die Gastgeber*innen versicherten 

 

Was kann die SIRGE Koalition schaffen, was die einzelnen Organisationen und Gemeinschaften nicht könnten?

Die Koalition möchte mehr sein als die Summe der einzelnen Organisationen. Es gilt also nicht nur Synergien und Netzwerke zu nutzen, sondern gemeinsam strategisch vorzugehen, um beispielsweise in konkreten Fällen von Bergbauprojekten Verbesserungen für die lokale Bevölkerung zu erzielen. Gemeinsam können unterschiedliche Hebel getätigt werden, um gemeinsam Wirkung zu erzielen. Auf einer strukturellen und politischen Ebene hat eine internationale Koalition deutlich mehr Kraft als einzelne Organisationen oder lokale Gemeinschaften. 

Eine gemeinsame Strategieentwicklung geschieht natürlich nicht von heute auf morgen. Nach einem ersten operativen Jahr des Aufbaus der Koalition und der internationalen Zusammenarbeit und Vertrauensbildung – zu der das Treffen in Chile maßgeblich beigetragen hat – schauen wir nun sehr zuversichtlich in die Zukunft.

 

Gibt es bereits Erfolge zu verbuchen?

Wir sind positiv überrascht, dass SIRGE nach kurzer Zeit bereits so vielseitig auftreten konnte und zu einer Referenz wurde. Um nur drei Beispiele zu nennen: SIRGE hat zusammen mit der Lead the Charge-Kampagne maßgeblich dazu beigetragen, dass Elektroautohersteller zur Einhaltung der Indigenenrechte in gerechten, nachhaltigen und fossilfreien Lieferketten angehalten werden. Verschiedene Indigene Exponent*innen machen mit ihrer Themenführerschaft zur „gerechten Wende“ an der UNO, OECD [Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung; Anm. d. Red.], in nationalen und internationalen Foren von sich reden und prägen den Diskurs, damit die Energiewende nicht auf Kosten der Indigenenrechte vorangetrieben wird. Eine gemeinsame Publikation für Indigene Gemeinschaften zur Gestaltung und Umsetzung des Rechts auf Freie, Vorherige und Informierte Zustimmung wurde 2023 lanciert und stieß auf großes Interesse bei Indigenen weltweit 

 

[Info]
Johanna Fischotter führte das Interview Anfang April 2024 in schriftlicher Form.
 


Silvia Schönenberger ist Programmleiterin für Klimagerechtigkeit und Indigenenrechte bei der Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker in der Schweiz.
Foto: © GfbV Schweiz



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